Bisher wurden die Deutschen immer größer. Von Generation zu Generation legen sie ein paar Zentimeter zu. Und geht das ewig so weiter?

Der preußische Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. war stolz auf seine "Langen Kerls". 188 Zentimeter war die Mindestgröße für die Aufnahme in die Potsdamer Elite-Truppe. Solche hochaufgeschossenen Kerle waren damals, Anfang des 18. Jahrhunderts, so selten, daß die preußischen Gesandten ganz Europa durchkämmen mußten.

Die Mühe könnte sich der König heute sparen. Denn der durchschnittliche deutsche Wehrpflichtige ist knapp 1,80 Meter lang. Fast ein Viertel der jungen Soldaten mißt mehr als 1,85, und 7,7 Prozent überspringen locker das Gardemaß von 1,90 Meter. In den vergangenen 150 Jahren sind die deutschen Rekruten um 15 Zentimeter in die Höhe geschossen.

Der Drang zum Höheren hat im 20. Jahrhundert Männer und Frauen erfaßt. Im Sportwissenschaftlichen Institut der Universität Karlsruhe werden seit 1920 regelmäßig Studenten vermessen. Die Ergebnisse zeigen, daß seither Männer im Schnitt um 11,5, Frauen um 8 Zentimeter gewachsen sind. Andere Studien ergaben, daß 14jährige Mädchen heute mit durchschnittlich 163 Zentimetern schon größer sind, als erwachsene Frauen es vor 40 Jahren je waren.

Doch es gibt Unterschiede, regional und sozial. So sind die Norddeutschen im Schnitt zwei Zentimeter größer als die Süddeutschen und Akademiker länger als Arbeiter, obwohl der Abstand verringert wurde. Auch die Ostdeutschen, die zu DDR-Zeiten kleiner waren als Westdeutsche, haben aufgeholt. Aber noch ist ein Mecklenburger einen Zentimeter kleiner als ein Niedersachse oder Hamburger.

"Nicht nur in Deutschland, in ganz Europa, den USA, Australien, Japan und Neuseeland sind die Menschen seit hundert Jahren immer größer geworden", sagt Prof. Georg Kenntner, Anthropologe und Sportwissenschaftler an der Universität Karlsruhe. Dieser Trend hat überraschende Folgen. Etwa bei den Sängern (siehe Zeichnung). So könnte es bald heißen: Tenöre verzweifelt gesucht.

Der Mensch ist im Laufe der Geschichte aber nicht regelmäßig gewachsen, eher in einer Art Wellenbewegung. Skelettfunde belegen, daß Männer und Frauen im Mittelelbe-Saale-Gebiet vor 6500 Jahren kaum kleiner waren als im 19. Jahrhundert. Im Mittelalter fand dann ein seltsamer Schrumpfungsprozeß statt - jede Ritterrüstung provoziert die Frage: Wie paßt ein erwachsener Mensch da hinein?

Noch Ende des 19. Jahrhunderts maß ein junger Deutscher im Schnitt 1,67 Meter. Erst danach begann der Höhenflug.

Professor Kenntner vermutet einen Zusammenhang zwischen der Körpergröße und allgemeinen Lebensbedingungen. So war ein Isländer vor 500 Jahren mit 1,72 Metern ganz schön groß. Aber in den folgenden Jahrhunderten der Naturkatastrophen, Hungersnöte und Epidemien ging es auf der Insel bergab. Die Holländer, heute die längsten Europäer, gehörten Anfang des 19. Jahrhunderts noch zu den kleinsten. Damals hatten sie Jahrzehnte des wirtschaftlichen Niedergangs hinter sich.

Nicht alle Länder waren im 20. Jahrhundert am allgemeinen Wachstumsschub beteiligt. Die Chilenen zum Beispiel wurden immer kleiner, sogar die Armee mußte die Mindestgröße für ihre Soldaten absenken. Als Ursache wird Mangelernährung vermutet.

Die Ursachen des Wachstums sind umstritten. Der Leipziger Schularzt Ernst Walther Koch suchte in den 30er Jahren eine Erklärung im veränderten Freizeitverhalten der Menschen. Der Einfluß der Sonne wirke sich positiv auf das Wachstum aus, meinte er. Andere Forscher nannten die Ernährung (steigenden Konsum von Eiweiß und Zucker) oder eine zunehmende Bevölkerungsmischung und bessere Kommunikationsmöglichkeiten lange isoliert lebender Populationen als Ursachen.

Eine einzelne schlüssige Erklärung gibt es nach wie vor nicht. Meist wird aber ein Zusammenhang zwischen Wachstum und Lebensqualität hergestellt. Der Jenaer Anthropologe Konrad Zellner sagt: "Armut wirkt sich bei Kindern negativ auf die körperliche Entwicklung aus. Dagegen fördern ausreichende Ernährung, gute medizinische Versorgung und verbesserte hygienische Bedingungen eindeutig das Wachstum." Genetische Anlagen bleiben aber bestehen. Der Portugiese wird trotz bester Lebensbedingungen nie so groß werden wie ein Norweger.

Leider hat die kletternde Körpergröße Folgen - nicht nur Haltungsschäden. "Die Größe des Herzens hält oft nicht Schritt mit der Körperlänge", sagt Kenntner. "Herz und Kreislauf werden stärker belastet." Die Menschen werden nicht nur länger, sie werden auch schmaler, weil der Brustumfang nicht mitwächst. Der Kopf wird länger, das könnte die Augen schwächen: Vielleicht gibt es mehr Kurzsichtige."

Und wo sind die Grenzen des Wachstums? Seit kurzem scheint die Körpergröße in Deutschland zu stagnieren. Das zeigen Statistiken der Bundeswehr ebenso wie die Jenaer Messungen an Schulkindern. Möglicherweise, so der Anthropologe Zellner, pendelt sich das Wachstum ein, "weil es keine nennenswerten Fortschritte mehr im Lebensstandard gibt. Auch zunehmende Kinderarmut könnte eine Rolle spielen." Professor Uwe Jaeger meint, daß irgendwann die Anatomie an ihre Grenzen stoße: "Bei 1,86 Meter Durchschnitt ist Schluß."

Wie groß darf also ein Mensch sein, wenn er den Herausforderungen durch seine Umwelt bestmöglich gewachsen sein soll? Ein in den USA errechnetes Idealmaß überrascht: Danach muß ein Mann nicht größer als 1,69 Meter sein. "Um 1,90 wird doch alles unökonomisch", sagt Kenntner. "Herz und Kreislauf müssen mehr leisten, das Skelett mehr tragen. Wer 20 Zentimeter größer ist, verbraucht 50 Prozent mehr Energie und muß 30 Prozent mehr Nahrungsmittel konsumieren. Das bedeutet: mehr Ackerland, mehr Ausstoß von Kohlendioxid."

Sind große Menschen nur ein Irrweg der Evolution? Nun ja, immerhin haben sie eine stattliche Erscheinung und kommen repräsentativ rüber, sagen Anthropologen. Sozial sind die Riesen also im Vorteil.

Aber das ist leider nicht alles. Auch Preußens "Lange Kerls" waren zwar prachtvoll anzuschauen, dafür machten sie aber im Kriegseinsatz eine eher peinliche Figur. Kenntner: "Für den Zweck haben sie einfach nicht getaugt."