London. Auf der britischen Insel Alderney betrieben die Nazis ein Konzentrationslager. Ihre Verbrechen – noch schlimmer als lange angenommen.
Mehr als ein Dutzend schwere Befestigungsanlagen ziehen sich quer über Alderney, die nördlichste der bewohnten britischen Kanalinseln vor der Küste Frankreichs. Sie erinnern an die belebte Geschichte des gerade einmal acht Quadratkilometer großen Eilands, auf dem heute etwa 2100 Menschen leben.
Die meisten der Befestigungsanlagen stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals befürchtete man in London einen französischen Angriff auf die Kanalinsel, die gerade einmal 15 Kilometer von der französischen Küste liegt. Die Deutschen, die Alderney während des Zweiten Weltkriegs besetzten, fügten zahlreiche Bunker, Panzerwände und Tunnel hinzu. Hierfür errichteten sie auf Alderney das westlichste Konzentrationslager des verbrecherischen Nazi-Regimes.
Nazi-Verbrechen in England weit schlimmer als angenommen
Eine Untersuchung, die sich mit den Vorgängen von damals befasst hat, kommt nun zu dem Schluss, dass in dem einzigen Konzentrationslager der Nazis auf britischem Boden mehr als 1000 Menschen ermordet worden sein könnten – deutlich mehr als bislang angenommen. Angestoßen hatte die Untersuchung der Sonderbeauftragte der britischen Regierung für Post-Holocaust-Fragen, Eric Pickles. Das Expertengremium setzte sich nicht nur mit den tatsächlichen Opferzahlen auseinander. In ihrem Bericht beklagten die Fachleute zudem, dass es die britischen Behörden nach dem Kriegsende versäumt hätten, gegen die deutschen Täter vorzugehen. Dabei waren diese den britischen Behörden bekannt.
Schon kurz nach ihrem Einmarsch auf Alderney im Sommer 1940 richteten die deutschen Besatzer vier Lager ein, in denen sie Arbeiter für den Ausbau der Befestigungsanlagen unterbrachten. Das Nazi-Regime plante, die Kanalinseln als Sprungbrett für ihren Einmarsch in Großbritannien zu nutzen.
Zwei der Lager behausten Freiwillige. Im „Lager Norderney“ hielten die Besatzer Zwangsarbeiter fest, von denen die meisten aus Russland und Polen stammten. Im Konzentrationslager „Sylt“ wurden jüdische Gefangene untergebracht, die wie Arbeitssklaven behandelt wurden. Die SS übernahm im März 1943 die direkte Kontrolle über diese beiden Lager.
Gräueltaten der Nazis
Zum Höhepunkt der Besatzung zwischen August und Oktober 1943 lebten auf Alderney mehr als 3200 Mitglieder der deutschen Streitkräfte und mehr als 5800 Arbeiter. Fast alle der 1500 Bewohner Alderneys waren vor der Ankunft der deutschen Besatzer evakuiert worden.
Lokale Augenzeugen gab es keine, was dazu beitrug, dass nach dem Kriegsende Gerüchte über ein angebliches Massenvernichtungslager auf Alderney die Runde machten. Zusätzlich befeuert wurden die Gerüchte von der Tatsache, dass die SS ihr Konzentrationslager auf Alderney bei ihrem Rückzug gesprengt hat. Auch anderswo haben die Nazis so versucht, Beweise für ihre Massenmorde zu zerstören.
Doch auch auf Alderney tobten die SS-Mitglieder ihre Gewaltlust aus. Als nach Kriegsende Captain Theodore Pantcheff, ein Ermittler des britischen Militärs, seine Ermittlungen auf Alderney aufnahm, berichteten Überlebende von Folter, Hunger, sadistischen Verstümmelungen, Hängungen, Schlägen und Exekutionen. Die Körper der Getöteten hätten die Mörder oft einfach ins Meer geworfen.
Die Experten, die sich mit den Vorgängen von damals befasst haben, schätzen, dass während der deutschen Besatzung zwischen 7608 und 7812 Gefangene nach Alderney verbracht wurden. Bis zu 1027 seien auf der Insel gestorben. Bislang war man von 389 Opfern ausgegangen. Die Besatzer brachten viele der Überlebenden nach Frankreich, wo sie sie zum Ausbau der dortigen Befestigungsanlagen zwangen.
Nazi-Gräueltaten auf Alderney blieben ungesühnt
Die britischen Behörden hätten nach dem Kriegsende „völlig ernst gemeinte“ Untersuchungen durchgeführt, mit dem Ziel, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, schreiben die Experten in ihrer 93 Seiten umfassenden Untersuchung. Da die meisten Opfer sowjetische Staatsbürger waren, habe London den Fall an sowjetische Ermittler abgegeben. Diese hätten den Briten im Gegenzug deutsche Gefangene übergeben, die während des „großen Ausbruchs“ aus einem Kriegsgefangenenlager im März 1944 britische Soldaten ermordet haben sollen.
Den Vorgängen auf Alderney gingen die sowjetischen Ermittler nicht weiter nach. 1981 enthüllte die Wochenzeitung „The Observer“, dass hochrangige Nazi-Offiziere, die für Gräueltaten auf Alderney verantwortlich waren, frei in Deutschland lebten.
Innerhalb der britischen Regierung sei man über die Untätigkeit der Sowjets verärgert gewesen, schreiben die Verfasser des Berichts. Etwas dagegen getan hätten sie nicht. Ganz im Gegenteil: Anthony Glees, Professor für Politikwissenschaften und ein Mitglied der Expertenkommission, spricht in diesem Zusammenhang von „einer Serie von Vertuschungen“.
„Es ist kaum verständlich, dass ausgerechnet Großbritannien es ablehnte, NS-Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen für entsetzliche Gräueltaten, die auf britischem Boden gegen Bürger von etwa 30 Nationen begangen wurden“, sagte Glees. Den Familien der Opfer sei dadurch Gerechtigkeit verweigert worden. Glees forderte die Regierung in London dazu auf, sich dafür zu entschuldigen.
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