Köln . Immer mehr Menschen werden uralt. Die Wissenschaft sagt: Bald sind Hundertjährige nichts Besonderes mehr.
Hildegard M. informiert sich allabendlich in den TV-Nachrichten über das wichtigste Tagesgeschehen, liest viel, löst Kreuzworträtsel. Die zierliche, aber nicht gebrechliche Dame ist 103 Jahre alt. „Ich bin eine alte Tante. Ich kann das nicht kapieren, dass ich so alt bin“. Die Seniorin hört nicht mehr so gut, ist aber geistig fit, munter, macht täglich ihre Gymnastik und hat viel Humor. „Ich werde auf gut 80 geschätzt, aber darauf bilde ich mir nichts ein. Ich bin nichts Besonderes und habe nichts Besonderes getan, um so alt zu werden.“
Sei einem Jahr lebt Hildegard M. in einem Caritas-Altenstift in der rheinischen Stadt Mettmann. Sie wirkt genügsam, zufrieden. „Ich habe keine Schmerzen, das ist sehr wichtig. Ich bin schlapp, brauche aber keine Tabletten.“ Die 103-Jährige erzählt: „Ich mache Kreuzworträtsel zum Fitbleiben, da muss man ein ja ein bisschen Grips für haben. Ich lese gern, aber nichts Lehrreiches mehr.“ Die einstige Sekretärin stammt aus Duisburg, hatte 1937 geheiratet, wurde Mutter einer Tochter. „Früher habe ich Klavier gespielt, viel Sport, Leichtathletik gemacht, bin Fahrrad gefahren. Das ist alles lange vorbei.“
Deutschland zweitälteste Gesellschaft der Welt
Deutschland ist mit einem durchschnittlichen Alter von 46,3 Jahren nach Japan die zweitälteste Gesellschaft der Welt. Fast jeder fünfte (18 Prozent) ist älter als 65 Jahre. Und immer mehr Menschen werden uralt, feiern ihren 100. Geburtstag und mehr. 2014 zählte des Statistische Bundesamt 16 860 Menschen im dreistelligen Alter, 2011 waren es 14 436. Vor 2011 war die Gruppe noch gar nicht eigens erfasst worden.
„Hundertjährige werden bald nichts Besonderes mehr sein“, meint Christoph Rott von der Uni Heidelberg, Projektleiter der „Heidelberger Hundertjährigen-Studie“. Die überwiegende positive Einstellung der Hochbetagten zum eigenen Leben habe ihn überrascht. „Das psychologische Wohlbefinden, die psychische Robustheit fallen erstaunlich gut aus.“ Ein großer Teil sei körperlich deutlich eingeschränkt, fast 90 Prozent in unterschiedlichem Maße auf Pflege angewiesen, aber nahezu die Hälfte „kognitiv intakt“. Drei Viertel meinten, das Leben habe für sie einen Sinn. 112 Hundertjährige waren für die repräsentative Studie von 2013 befragt worden.
Gruppe "Hundert plus" wächst
Im Jahr sollen 2025 schon 44 200 Hochbetagte der Gruppe „Hundert plus“ angehören und 2050 dann sogar geschätzte 114 700, zitiert die Uni Heidelberg UN-Angaben. Wenn man sich so umhöre, hätten die meisten Menschen gar nicht den Wunsch, ein biblisches Alter zu erreichen, schildert Psychologe Rott. „Die meisten sagen, sie wollen so 70, 80 werden - vor allem aber unter guten Umständen.“
Wichtig sind soziale Bindungen. Rott: „Wünsche und Ziele der Hundertjährigen beziehen sich oft nicht mehr auf das eigene Leben, sondern auf Kinder und Enkel.“ Hildegard M. erzählt: „Meine Freundinnen leben alle nicht mehr. Meine Mutter und meine Schwester sind auch gestorben. Aber ich habe zwei sehr nette Neffen und einige andere Verwandte. Wenn ich die nicht hätte, dann lebte ich nicht mehr.“
"Ich bejahe meinen Zustand"
Ähnlich sieht es aus bei Georg Eschner (100), den der Caritas-Verband für eine Ausstellung über Hundertjährige porträtiert hat. Er habe ein „super Verhältnis“ zu seinen Söhnen und sei stolz auf sie, erzählt der in einem Kölner Heim lebende Herr. Und sagt zu seinem extrem langen Leben: „Ich bejahe meinen Zustand.“
„Wir sollten nicht nur über Pflege reden, sondern über Ressourcen und Lebenspläne der Hochaltrigen“, meint Dorothee Mausberg vom Kölner Diözesan-Caritasverband. Und so befasste sich eine Tagung mit 300 Ehrenamtlern in Seniorenheimen jüngst passend mit „Lebenslust und Lebenstärke“ der Ü-Hundertjährigen.
Hildegard M. sieht vor allem das Positive. „Ich habe ein schönes luftiges Zimmer, alle sind sehr nett zu mir. Gut, das Essen muss ich immer nachwürzen, zu Hause hatte ich es pikanter.“ Sie hat aber auch viele Tiefs durchlitten. „Ich habe zwei Weltkriege erlebt, schwere Zeiten und viel Trauriges. Ich hatte immer Angst um meinen Mann, der spät aus der Kriegsgefangenschaft kam.“ Das Schlimmste bis heute: Der plötzliche Tod ihrer Tochter. „Das habe ich nie verwunden.“ Die Dame wirkt gelassen, nicht lebensmüde, aber bereit: „Ich warte darauf, dass ich geholt werde.“