Wieder Behörden-Versagen? Der Frachter steuerte führerlos auf die Küste zu. Die Panik an Bord der „Norman Atlantic“ beschrieb eine Deutsche so: „Es war wie in der Hölle!“
Rom/Hamburg. Ein Flüchtlings-Schiff rast führerlos auf die Küste zu, um die Unglücks-Fähre „Norman Atlantic“ in der Adria gibt es neue Ungereimtheiten – das Jahr 2014 geht so zu Ende wie es begonnen hat: mit Flüchtlingsdramen und Katastrophen rund um das Mittelmeer und seine Anrainerstaaten. So rätseln nach dem Fährunglück in der Adria die italienischen Behörden über den Verbleib von fast 100 Schiffbrüchigen. „Es gibt 98 Personen, von denen es noch keine Nachrichten gibt“, sagte der ermittelnde Staatsanwalt von Bari, Giuseppe Volpe, am Mittwoch. Unklar sei der Verbleib eines Frachters, der bei der Rettung nach dem Brand der „Norman Atlantic“ geholfen hatte.
Am Vortag hatte Volpe von mehr als 170 Menschen gesprochen, die vermutlich auf verschiedenen Schiffen von der Unglücksstelle nach Griechenland gebracht worden seien.
Unterdessen sind 768 Bootsflüchtlinge vor der italienischen Küste nur knapp einer Katastrophe entgangen. Der Küstenwache gelang es in der Nacht zum Mittwoch, den Frachter mit den Migranten an Bord in den Hafen von Gallipoli zu bringen. Eine Tragödie sei verhindert worden, weil die „Blue Sky M“ ohne Besatzung auf die Küste zugesteuert sei, teilte die Küstenwache mit.
Schmuggler hätten offenbar den Motor im Autopilot gelassen, wodurch das Schiff mit einer Geschwindigkeit von sechs Knoten (rund elf Kilometern) auf die Küste zugefahren sei, teilte Küstenwachen-Sprecher Filippo Marini mit. Ohne die Intervention der Einsatzkräfte wäre der Frachter auf die apulische Küste geprallt. Ein mutmaßlicher Schleuser wurde festgenommen.
Die italienische Küstenwache hat auf Facebook mehrere Videos veröffentlicht.
Auf dem Frachter, der unter der Flagge Moldaus fuhr, waren nach Medienangaben vor allem Syrer. Auch viele Kinder und Schwangere seien an Bord gewesen, eine davon sei kurz vor der Geburt gestanden. Etwa 130 Menschen kamen vorsorglich ins Krankenhaus. Das Schiff, das eigentlich die kroatische Hafenstadt Rijeka ansteuern sollte, wurde im Hafen von Gallipoli beschlagnahmt.
Hat die griechische Marine die Lage an Bord verharmlost?
Als der Frachter am Dienstagabend etwa drei Meilen vor dem süditalienischen Ort Santa Maria di Leuca war, gelang es Mitgliedern der Küstenwache, mit Hubschraubern auf das Schiff zu kommen. Es wird vermutet, dass Menschenschlepper Migranten aus Westgriechenland abgeholt haben, um sie nach Italien zu bringen.
Vermutlich hatten Flüchtlinge vor der griechischen Insel Korfu einen Notruf abgesetzt. Mehrere Schnellboote der griechischen Marine wurden entsandt. Der Kapitän gab jedoch an, alles sei in Ordnung und das Schiff sei nicht in Seenot. Die „Blue Sky M“ soll Medienberichten zufolge seit Tagen in der Region des Ionischen Meeres im Westen Griechenland unterwegs gewesen sein. Zunächst war die Rede von 600 oder 700 Flüchtlingen an Bord gewesen.
Deutsche auf der „Norman Atlantic“: Es war die Hölle
Internationale Schleuserbanden versuchen immer wieder, Migranten durch das Mittelmeer nach Europa zu schaffen. Tausende Menschen sind dabei in den vergangenen Monaten ums Leben gekommen. Oft verlassen die Schleuser die Boote, bevor sie an der Küste ankommen, um einer Festnahme zu entgehen.
Eine deutsche Überlebende des Fährunglücks in der Adria hat chaotische Zustände an Bord der „Norman Atlantic“ geschildert. „Es war wie in der Hölle, die ganze Zeit Rauch, Rauch, Rauch“, sagt Ute Kilger aus München. „Die Crew war nicht anwesend, es gab keinen Ansprechpartner, niemanden, der Informationen hatte, niemanden, der einen beschützt hat.“
Kilger sagt, sie sei mit einem Bekannten aus München in Griechenland zur Olivenernte und auf der Rückreise nach Deutschland gewesen. Beim Betreten des Schiffes habe sie bereits ein schlechtes Gefühl gehabt, sagt die 54-Jährige. „Das Schiff war alt und klein, nicht wie eine richtige Fähre.“ Eigentlich hätten sie ein anderes Schiff gebucht.
In der Nacht sei sie dann von Schlägen geweckt worden. „Auf den Gängen liefen Leute rum, es wurde lauter. Ich habe Rauch gerochen. Es war Rauch im Treppenhaus, das Licht ging aus.“ Als sie sich auf Deck geflüchtet habe, habe es panikartige Szenen und Rangeleien gegeben. „Es gab Angst, sehr viel Angst. Alle wollten auf Rettungsboote. Familien schrien.“