Angehörige veröffentlichen Anrufe und SMS der Opfer. Der Kapitän gerät ins Zwielicht. Südkoreas Präsidentin spricht von Mord.
Jindo/Seoul. Kim Dong Hyup ist einer von 352 Schülern an Bord der „Sewol“, als am Mittwoch auf dem Weg zur südkoreanischen Ferieninsel Jeju plötzlich etwas schiefläuft. Er ruft seine ältere Schwester Ha Ha an. „Er sagte, die Lage werde immer ernster, das Schiff kippe zur Seite“, erzählt Ha Ha auf Jindo, einer Nachbarinsel, wo die Familien der Katastrophenopfer zusammengekommen sind.
Erst hat Dong Hyup noch Hoffnung. „Ich weiß nicht wirklich, was passiert, aber ich bin ein Mann, ich werde es schaffen“, sagt der 16-Jährige seiner sechs Jahre älteren Schwester. Er und seine Mitschüler hätten Schwimmwesten angelegt, ihnen sei gesagt worden, sich nicht fortzubewegen. „Er war so tapfer. Aber ich merkte, dass er schreckliche Angst hatte, im Hintergrund waren weinende Kinder zu hören“, sagt Ha Ha, und bricht dabei selbst in Tränen aus.
Dong Hyups Vater glaubt erst noch an das Wunder. „Er hatte immer so einen starken Willen“, sagt Kim Chang Gu über seinen Sohn. „Wenn er zurückkommt, werde ich ihm ganz viel Hühnchen kaufen, das ist sein Leibgericht.“
Doch inzwischen liegt das letzte Lebenszeichen von Dong Hyup fünf Tage zurück. Zwar steigen weiter Taucher in den Rumpf der „Sewol“ hinunter, und die Familien stemmen sich dagegen, dass das Schiff mit schweren Kränen aufgerichtet wird. Aber die Bergungskräfte haben praktisch keine Hoffnung mehr, Überlebende zu finden.
„Papa, mach Dir keine Sorgen“, schrieb das Mädchen Shin in einer ersten SMS. „Ich trage meine Rettungsweste und bin mit den anderen Mädchen zusammen. Wir sind im Schiff, auf dem Gang.“ Ihr Vater schreibt zurück, sie soll das Schiff so schnell wie irgend möglich verlassen. Aber es ist schon zu spät. „Papa, ich kann nicht. Das Schiff ist zu schräg. Der Flur ist voller Leute.“ Es ist Shins letzte Nachricht.
Bis zum Montag werden 80 Todesfälle bestätigt. Von 222 Passagieren fehlt jede Spur, die meisten werden im Bauch der Fähre vermutet, im dritten und vierten Deck, die nach dem Kentern zu tödlichen Fallen wurden.
Hätten viele Menschen gerettet werden können, wenn Kapitän Lee Joon Seok und seine Crew sofort nach dem Unfall die Evakuierung angeordnet hätten – auch wenn kein Schiff in Sicht war, das die Menschen rechtzeitig aus dem kalten und stark strömenden Meer hätten retten können?
Die Familien werfen der Crew und den Behörden seit Tagen Versagen vor. Am Montag machte sich Präsidentin Park Geun Hye die Vorwürfe zu eigen: Kapitän Lee habe die Evakuierung des sinkenden Schiffes unnötig verzögert und die Passagiere dann „im Stich gelassen“, als er selbst das Schiff verließ. Das Verhalten des Kapitäns und einiger Besatzungsmitglieder „kommt Mord gleich“, sagte Park in Seoul. „Nicht nur mein Herz, die Herzen aller Südkoreaner sind gebrochen und mit Schock und Wut erfüllt.“
„Anweisungen der Crew folgen“
Dem seit Samstag inhaftierten Kapitän droht jetzt eine Anklage wegen Fahrlässigkeit und Verstößen gegen die Dienstpflichten. Dabei ist der 68 Jahre alte Lee ein Seemann mit 40-jähriger Berufserfahrung. Bekannt ist, dass er an dem verhängnisvollen Tag des Untergangs für den eigentlichen Kapitän der „Sewol“ eingesprungen war. Den gefährlichen Streckenabschnitt, auf dem sich das Unglück ereignete, soll er aber schon mehrmals befahren haben.
Den Angehörigen der Opfer müssen die Worte Lees nachträglich wie Hohn vorkommen. Er hatte vor vier Jahren in einem Interview des Kabelsenders OBS TV gesagt: „Denen, die auf der Strecke zwischen Inchon und Cheju reisen, wünsche ich zu sagen: Wenn sie den Anweisungen der Crew folgen, so sind Seereisen sicherer als andere Transportmittel.“
Genau auf dieser Strecke kenterte die Fähre – den Passagieren wurde per Lautsprecher befohlen, sich ruhig zu verhalten und sich nicht zu rühren. Das geht aus Smartphone-Videos von Überlebenden hervor. Die meisten hielten sich daran. Der letzte Funkkontakt zwischen der „Sewol“ und einer Überwachungsstelle legt offen, wie groß die Unentschlossenheit auf der Kommandobrücke war. Es ist nicht einmal klar, wo sich der Kapitän wann aufhielt.
Lee selbst rechtfertigte sich nach dem Unfall. Nach einer Vorführung vor Gericht sagte er, er habe angesichts der starken Strömung die Evakuierungsanordnung hinausgezögert. Die Verantwortung für die Katastrophe übernahm er nicht.
In einem weiteren Interview beschrieb Lee auch seine Ängste. „Ich hatte schon auf Schiffen gearbeitet, als ich Mitte 20 war“, sagte er vor vier Jahren in einem Interview, das jetzt eine Zeitung ausgegraben hat. Nach jedem Sturm habe er ans Aufhören gedacht, sagte er demnach. Doch jedesmal habe er sich wieder aufs Wasser getraut.
Der Ermittlungen kommen langsam in Gang, Lee und sechs weitere Crew-Mitglieder wurden inzwischen festgenommen. Auch wird langsam klar: Der völlig chaotische Funkkontakt der „Sewol“ mit der Schiffsüberwachungsstelle an Land könnte die Katastrophe um den Untergang noch verschärft haben. Ein Mitschnitt zeigt, wie unentschlossen beide Seiten auch dann noch agierten, als das Schiff mit 476 Menschen an Bord schon in bedrohlicher Schräglage war.
Die „Sewol“ und die Überwachungsstelle auf der Insel Chindo hatten nach einem ersten Notruf noch etwa eine halbe Stunde Funkkontakt. Nach rund zwanzigminütigem Hin und Her empfahl das „Jindo Vessel Traffic Services Center“, der Kapitän solle über die Evakuierung des Schiffs bestimmen. „Wir kennen die Situation nicht gut genug, also sollte der Kapitän die endgültige Entscheidung über die Rettung der Passagiere treffen.“ Doch die „Sewol“-Besatzung wollte erst wissen, ob die Passagiere sofort gerettet werden könnten.
Ein Patrouillenboot sei in zehn Minuten und ein Helikopter in einer Minute zur Stelle, lautete die Antwort. Die Crew wiederum entgegnete, ein Helikopter reiche nicht, es seien zu viele Passagiere.
Die Ermittler untersuchen, ob ein Versagen der Besatzung vorlag oder das Schiff falsch beladen war. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die Fähre nach einem zu schnellen Wendemanöver in Schlagseite geriet. Warum das Schiff bei dem Manöver zu schnell war, ist allerdings unklar. Die Wetterlage war ruhig. Dem koreanischen Wetteramt zufolge habe es einen halben Meter hohe Wellen gegeben. Es sei bewölkt, aber nicht nebelig gewesen. Es dauerte dann noch zwei Stunden, bis die Fähre kenterte. Trotz der Gefahrenlage wurden die Passagiere angewiesen, in ihren Kabinen zu bleiben.