Paralympics-Star Oscar Pistorius erschoss im Februar 2013 seine Freundin. Mord oder Unfall? 107 Zeugen sind geladen

Pretoria. Er war Südafrikas Nationalheld: Oscar Pistorius, 27, der Läufer, der bei allen Paralympics seit 2004 etliche Medaillen holte. Er war es bis zu den Schüssen am 14. Februar 2013, als er seine Freundin, das Model Reeva Steenkamp, 29, durch die Tür des Badezimmers tötete. Ist der Sportler, dem durch eine angeborene Fehlbildung die Wadenbeine fehlen, des Mordes schuldig? Oder handelte es sich um ein tragisches Versehen, und er schoss, weil er in seiner Villa Einbrecher vermutete?

Am Montag beginnt vor dem High Court in Pretoria der Prozess gegen den Südafrikaner, der seit Februar 2013 gegen Kaution auf freiem Fuß ist. Das Verfahren gilt in Südafrika als Jahrhundertprozess. Staatsanwalt Gerrie Nel wird die Anklage vortragen. Pistorius, der sich bisher als Opfer eines „entsetzlichen Irrtums“ dargestellt hat, wird sich als „schuldig“ oder „nicht schuldig“ bekennen müssen. Danach beginnt die Zeugenvernehmung: 107 Namen stehen auf der Liste. 15 Verhandlungstage sind angesetzt.

Es ist das erste Mal in der Geschichte Südafrikas, dass ein solcher Prozess live übertragen wird. 300 Journalisten aus aller Welt haben sich angekündigt. Aus den USA und Großbritannien sind mehr als ein Dutzend Medien vertreten, zahlreiche Reporter kommen auch aus Deutschland, Frankreich oder Japan. Der südafrikanische Kabelanbieter Multi-Choice nahm am Sonntag auf einem eigens geschaffenen Pistorius-Kanal seine Berichterstattung rund um die Uhr auf. Mehrere TV- und Radiostationen wollen ab Montag live aus dem Gerichtssaal in Pretoria übertragen.

Bei dem Indizienprozess wird es besonders um die Glaubwürdigkeit des Angeklagten gehen. Die Ausstrahlung eines jetzt veröffentlichten Videos, das Pistorius an einem Schießstand zeigt, scheint die Staatsanwaltschaft zu bestätigen, die ihn als schießwütig darstellt. Die am Wochenende veröffentlichten Aufnahmen zeigen den Sprintstar, wie er mit einer Pistole auf eine Wassermelone schießt. Man hört die Stimme eines Mannes, der die explodierte Melone mit den Worten kommentiert: „Sie ist viel weicher als ein Gehirn, aber ...“. Der Sender Sky News berichtete, es sei die Stimme von Pistorius.

Was nun wirklich in der Tatnacht passierte, ist unklar. Der Fernsehsender eNCA zitierte aus Gerichtsdokumenten: Ihnen zufolge wird Chefankläger Gerrie Nel fünf Belastungszeugen präsentieren, die zum Zeitpunkt der Schüsse Schreie gehört haben. Den Dokumenten zufolge kommt der Ballistikexperte der Staatsanwaltschaft zu dem Schluss, dass der Sportler die Schüsse tatsächlich, wie von ihm ausgesagt, ohne Prothesen abgefeuert haben soll. Das würde entlastend wirken.

Auf der Suche nach einem möglichen Motiv sind Ermittler in die USA gereist, um eventuell gelöschte Kurznachrichten wiederherstellen zu lassen. Es gebe allerdings auch ohne diese Daten „mehr als genug Beweise“, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft. Die Verteidigung gibt sich gleichermaßen zuversichtlich, dass sich Pistorius’ Darstellung belegen lasse.

Der Sportler kann sich ein imposantes Verteidigungsteam leisten. Die Anwälte Barry Roux und Kenny Oldwage gehören zu den bestbezahlten des Landes. Hinzu kommen drei forensische Experten sowie die US-Firma Evidence Room, die auf die Computeranimation von Tatorten spezialisiert ist.

Unterdessen sollen Journalisten im Vorfeld des Prozesses Zeugen drangsaliert haben, berichtet die „Sunday Times“. Reporter hätten versucht, im Kreis von Angehörigen und Freunden der Zeugen „schmutzige Wäsche“ auszugraben, zitierte die Zeitung einen Polizeioffizier. Mehrere Zeugen der Anklage, unter ihnen Polizisten, haben sich über solche Belästigungen bei der Staatsanwaltschaft beschwert.

Die Familie von Oscar Pistorius betonte am Wochenende noch einmal ihre Solidarität mit dem Angeklagten. „Wir lieben Oscar, wir glauben ihm, wir werden während des gesamten Prozesses zu ihm stehen“, betont Onkel Carl Pistorius auf der Website seines Neffen. Weder Familie noch Anwälte würden die Berichte kommentieren: „Die Zeit für öffentlichen Kommentare ist vorbei“, sagt Carl Pistorius, bei dem der Angeklagte seit seiner Freilassung gegen Kaution lebt. Pistorius wird auch nach jedem Verhandlungstag in das Haus seines Verwandten zurückkehren.

Am Ende wird allein Richterin Thokozile Masipa Pistorius’ Schuld beurteilen müssen. Entscheidet sie auf Mord, stünden Pistorius mindestens 25 Jahre Gefängnis bevor. Folgt sie dem Antrag der Verteidigung auf fahrlässige Tötung, könnten bis zu 15 Jahre Haft drohen. Eine Mindesthaftzeit gibt es für dieses Verbrechen in Südafrika nicht. Er könnte die Anklage überstehen, ohne einen Tag im Gefängnis verbringen zu müssen.