Entführungsopfer von Cleveland berichten über ihr jahrelanges Martyrium. Kidnapper schweigt vor Haftrichter
Washington. Eine Pizza! Das wünschte sich Amanda Berry, als sie nach dem Ende ihres zehnjährigen Martyriums in der Gewalt des Ariel Castro endlich nach Hause konnte. Gina DeJesus bat um ein Chicken Sandwich zur Willkommensparty bei ihrer Familie wenige Blocks entfernt im Westen von Cleveland. Michelle Knight lag am Donnerstag noch im Krankenhaus, aber die Ärzte beschrieben ihren Zustand als gut, und sie esse mit Appetit.
Die drei Frauen, 27, 23 und 32 Jahre alt, sind zusammen mit Jocelyn, der von ihrem Entführer gezeugten sechsjährigen Tochter Amandas, der Hölle entkommen. Ginas nach oben gereckter rechter Daumen bei ihrem Eintreffen daheim kontrastierte in tröstlicher Weise mit dem gesenkten Blick des 52-jährigen Ariel Castro vor dem Haftrichter. Castro hörte stumm zu, als der Untersuchungsrichter die Kaution auf unerreichbare acht Millionen Dollar festsetzte. Ihm wird der Prozess gemacht wegen Freiheitsberaubung und wiederholter Vergewaltigungen. Der ehemalige, im vergangenen November gefeuerte Busfahrer wird das Gefängnis mutmaßlich nie wieder verlassen.
Die Ermittler gehen inzwischen davon aus, dass er als Alleintäter und ohne Mitwisser handelte. Am Montagabend waren seine Brüder Onil und Pedro als vermeintliche Komplizen verhaftet, am Donnerstag aber wieder freigelassen worden.
Amanda Berry hatte am Montagnachmittag einen Moment der Abwesenheit ihres Peinigers genutzt, um auszubrechen. Castro hatte das Haus verlassen, um zu McDonald’s zu fahren, und vergessen, die „große Zwischentür“ abzuschließen, zitieren Medien aus einem Polizeibericht. Amanda verließ daraufhin entgegen strikten Verboten ihres Entführers ihr Zimmer im Obergeschoss des zweistöckigen, maroden Gebäudes in Clevelands Seymour Avenue, öffnete die Haustür und rief, weil die Sturmtür davor verschlossen war, verzweifelt um Hilfe. Nachbar Charles Ramsey half ihr, den unteren Teil dieser Tür aufzubrechen, sodass Amanda mit ihrer verstört wirkenden Tochter hindurchkriechen konnte.
Die beiden anderen jungen Frauen hätten zu diesem Zeitpunkt ebenfalls fliehen können, blieben aber im Obergeschoss. Erst als Polizeibeamte das Haus durch die aufgebrochene Tür betraten und sich laut als Polizisten zu erkennen gaben, stürzte sich zunächst Michelle aus einem Zimmer in die Arme des einen Beamten. „Sie haben mich gerettet“, rief sie. Gleich danach lief Gina dem Beamten aus einem anderen Zimmer ebenfalls in die Arme.
Diese Szene vermittelt eine Vorstellung, wie stark Castro die jungen Frauen durch Gewalt, Drohungen und Einschüchterungen von sich abhängig gemacht hatte. Nachdem er sie entführt hatte – die damals 16-jährige Amanda auf dem Heimweg von einem Burger-King-Restaurant, in dem sie jobbte, und die 14-jährige Gina auf dem Rückweg von der Schule –, fesselte er sie zunächst im Keller mit Handschellen, Ketten und Stricken. Sie wurden geschlagen und bedroht und durften erst später im oberen Stockwerk leben. Aber auch dort schloss Castro sie in verschiedenen Räumen ein.
Alle Frauen wurden von ihrem Entführer vergewaltigt. Michelle Knight, die am längsten in seiner Gewalt war, wurde dabei fünfmal schwanger. Laut Polizeibericht „ließ er sie für mindestens zwei Wochen hungern, und danach schlug er ihr wiederholt in den Bauch, bis sie eine Fehlgeburt erlitt“.
Michelle musste hingegen Amanda bei ihrer Entbindung von Jocelyn helfen. Es gab Probleme, weil das Baby zunächst für mehrere Minuten nicht atmete. „Michelle sagte aus, Ariel habe ihr gesagt, dass er sie töten werde, wenn das Baby sterbe“, heißt es in dem Bericht. Michelle rettete das Kind durch Mund-zu-Mund-Beatmung. Einen Arzt sahen die jungen Frauen und das Kind während ihrer gesamten Gefangenschaft nicht.
Im Haus fanden die Ermittler den Entwurf eines Briefes, den Castro nie abschickte. Darin äußert er sich selbstkritisch, gibt aber seinen Opfern die Schuld an ihrem Schicksal: „Sie sind entgegen ihrem Willen hier, weil sie den Fehler machten, zu einem völlig Fremden ins Auto zu steigen.“