Nerissa und Katherine Bowes-Lyon, geistig behindert, mussten in Heimen vegetieren. Seit 1961 galten sie offiziell als “verstorben“. Eine lebt noch heute.
London. Das tägliche Hofbulletin macht keine Angaben darüber, ob Königin Elizabeth, 85, am Donnerstagabend vor dem Fernseher saß. Eher nicht, muss man vermuten. Denn der einstündige Dokumentarfilm, den Englands 4. Kanal zur Hauptsendezeit ausstrahlte, beleuchtete eine der dunkelsten Seiten der königlichen Familie: die Hartherzigkeit, zu der die Royals fähig sind.
Unter dem Titel "The Queen's Hidden Cousins" (Die versteckten Cousinen der Queen) ging die Sendung in erster Linie dem Schicksal der Schwestern Nerissa und Katherine Bowes-Lyon nach - zwei Nichten der 2002 gestorbenen Königinmutter und damit Cousinen 1. Grades der heutigen Queen. Ihr Vater war John Herbert Bowes-Lyon, ein Bruder Queen Mums, ihr Großvater ein schottischer Graf, der Earl of Strathmore and Kinghorn, und ihr Elternhaus das Familienschloss Glamis Castle.
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In früher Kindheit wurde deutlich, dass Nerissa und Katherine - im Gegensatz zu ihren beiden Schwestern - an etwas litten, das man im heutigen Großbritannien "Lernschwierigkeiten" nennt. Mit anderen Worten: Sie waren geistig behindert, lernten niemals richtig sprechen, konnten weder lesen noch schreiben und sollten auch bis ins hohe Alter nie über das Begriffsvermögen eines sechsjährigen Kindes hinauskommen. Um die vermeintliche Familienschande zu vertuschen, durften sich die beiden Mädchen nicht in der Öffentlichkeit zeigen. Zunächst wurden sie von Personal im Schloss betreut, aber im Jahr 1941 wurden sie heimlich in ein staatliches Irrenhaus südlich von London eingewiesen.
Die kommenden Jahrzehnte verbrachten sie in geschlossenen Anstalten - abgeschnitten von jeglichem Familienkontakt, obwohl ihre verwitwete Mutter noch bis 1995 lebte. "Nie kam Besuch, und selbst zu Weihnachten bekamen sie weder Geschenke noch eine Karte", erinnerte sich Bridie, eine ihrer Pflegerinnen aus dem Royal-Earlswood-Asyl, in der Sendung. Und nie wurde ein Patient als geheilt entlassen. Mehrere Hundert Patienten dämmerten in Earlswood, einem weitläufigen roten Ziegelkomplex aus dem Jahr 1855, vor sich hin. Die Ärzte und Schwestern führten ein strenges Regiment. Die Insassen trugen Anstaltskleidung. Fluchtversuche wurden mit einer Spritze geahndet. Bei der Einweisung war Nerissa 22 Jahre alt, Katherine 15. "Sie waren sehr innig", berichtete Theresa, eine andere Pflegerin. "Vor allem Katherine war sehr liebevoll. Dauernd kam sie und umarmte uns. Nerissa war etwas zurückhaltender." Ihre Tante, die spätere Queen Mum, war inzwischen Königin, übernahm sogar die Schirmherrschaft von Mencap, dem führenden Hilfswerk für geistig Behinderte.
An dem Tag, als ihre Nichten in Earlswood eingeliefert wurden, fielen deutsche Bomben auf London, und König George VI. fuhr mit seiner Gemahlin ins East End, um die Verbundenheit des Königshauses mit den Ausgebombten zu demonstrieren. Doch für die peinlichen Verwandten empfanden sie offenbar nichts, obwohl sich diese, bei aller Behinderung, ihrer inzwischen königlichen Familienbande bewusst waren. Jedes Mal, wenn die Nationalhymne im Radio erklang oder Royals über den Bildschirm flimmerten, sprangen Katherine und Nerissa auf und salutierten. Alle großen Ereignisse, von der Hochzeit ihrer Cousine Elizabeth mit Prinz Philip 1947 über Elizabeths Krönung 1953 bis zur Heirat von Prinz Charles und Diana - und in Katherines Fall der Trauung von Prinz William mit Kate Middleton - verfolgten sie live im Fernsehen. In den Augen der Öffentlichkeit hingegen waren sie längst gestorben. Buchstäblich. Denn 1963 hatte "Burke's Peerage", der englische "Gotha" ("Genealogisches Handbuch des Adels"), im Buckingham-Palast nachgefragt, was aus den beiden Bowes-Lyon-Töchtern geworden sei. "1961 verstorben", lautete die verbindliche Hofauskunft. In Wirklichkeit lebt Katherine - 85 Jahre alt - heute noch. Nerissa, die Ältere, ist seit 25 Jahren tot. Sie wurde in einem Armengrab beigesetzt, das die Verstorbene nicht einmal eines Vornamens würdigte: "M11125 Bowes Lyon". Erst in vergangener Zeit ist ein regulärer Grabstein gesetzt worden. 1996, zehn Jahre nach Nerissas Tod, wurde die Royal-Earlswood-Anstalt geschlossen. Katherine kam in ein Pflegeheim, das 2001 wegen unwürdiger Zustände dichtmachte. Wieder musste sie umziehen.
Angeblich lässt sich die Queen in den vergangenen Jahren über Katherines Wohlergehen auf dem Laufenden halten. Wer weiß, wie viel besser ihr Zustand heute sein könnte, wenn sie nicht Jahrzehnte von den Royals totgeschwiegen worden wäre.