Die Verurteilung des Vaters des Amokläufers reißt in Winnenden alte Wunden auf. Dennoch wird das Urteil unterschiedlich aufgenommen.
Winnenden. Die Sonne scheint auf den kleinen Friedhof im Leutenbacher Stadtteil Weiler zum Stein. Schon von Weitem fallen vier Gräber auf. Liebevoll sind sie gestaltet, mit Bildern, Erde, Kieseln und Pflanzen. Frische Weidekätzchen und Alpenveilchen zeigen, dass sie regelmäßig gepflegt werden. Briefe, Herzen, Engel und zahlreiche Andenken erinnern an vier Mädchen, deren Leben viel zu früh beendet wurde.
Vor 23 Monaten hat ein 17-jähriger Amokläufer in der Albertville-Realschule in Winnenden und auf seiner Flucht nach Wendlingen die vier und 11 weitere Menschen erschossen. Anschließend tötete er sich selbst. An diesem Donnerstagmorgen fällt im Stuttgarter Landgericht das Urteil gegen den Vater des Täters: 1 Jahr und 9 Monate auf Bewährung.
„Ruhe wird es nie geben“, sagt der 16-jährige Ken. Mit Freunden schlendert er über den Markt in Winnenden, rund 25 Kilometer nordöstlich von Stuttgart. Sein Kumpel Saverio ist empört über das Urteil: „Der Vater hätte ins Gefängnis gemusst“, meint der 15-Jährige. Der Unternehmer stand vor Gericht, weil er die Tatwaffe unverschlossen im Schlafzimmerschrank aufbewahrt hatte. Er hätte sich mehr um seinen Sohn kümmern müssen, findet Saverio. „Die Tat war auch seine Schuld.“
So hart sehen es einige Erwachsene nicht. „Wenn er stärker bestraft worden wäre, hätte das auch nichts genutzt“, ist Erika Arning (68) überzeugt. Die Familie sei schon gestraft genug. Jetzt habe der Vater wenigstens die Chance, sich um sein anderes Kind zu kümmern. Sie könne aber gut verstehen, wenn die Familien der Opfer mit dem Urteil nicht zufrieden seien. „Der Mann hätte im Prozess viel mehr Mitgefühl für die Angehörigen zeigen müssen.“
Ein härteres Urteil wäre für die Eltern kein wirklicher Trost, findet Anja Bernardi. Die 39-jährige Mutter zweier Kinder sagt: „Die größte Strafe hat er eh immer, wenn er in den Spiegel schaut.“ Der passionierte Jäger Herbert Mathes sieht die Schuld dagegen nicht beim Vater. „Auf einen 17-Jährigen muss man sich doch verlassen können“, meint der 75-Jährige.
Die meisten Fußgänger winken an diesem Morgen jedoch lieber ab und laufen schnell zum nächsten Marktstand, um ihre Einkäufe zu erledigen. „Das Leben muss weitergehen“, sagte eine Seniorin entschuldigend und zuckt mit den Schultern. Dass es das tatsächlich tut, zeigt sich an zwei anderen Orten. Das große weiße Haus mit Gartenteich, in dem der Amokläufer mit seiner Familie lebte, trägt inzwischen ein neues Namenschild. Schuhe auf der Veranda lassen darauf schließen, dass es wieder bewohnt ist.
Auch an der Albertville-Realschule weist der Blick nach vorn. Wo einst ein riesiges Blumenmeer an die getöteten Schüler und Lehrerinnen erinnerte, stehen heute ein Kran und ein Rohbau. Fleißig wird an dem neuen Anbau der Schule gearbeitet. Er soll dem Tatort ein neues Gesicht geben – damit die schrecklichen Bilder vom 11. März 2009 eines Tages vielleicht etwas weniger präsent sind.
Der Leiter der Schule, Sven Kubick, regiert zurückhaltend auf das Urteil. „Gerechtigkeit gibt es kaum“, sagt er. Sie hätten Kolleginnen, Schülerinnen und einen Schüler zu beklagen. „Ein Freispruch wäre sicher das falsche Signal gewesen.“ Seit dem Amoklauf habe die Schule ihre Zusammenarbeit mit den Eltern verstärkt. „Es geht darum, schon Kleinigkeiten wahrzunehmen und auch Grenzen zu setzen zum Beispiel bei Gewalt- und Computerspielen.“
Dem Vater des Täters droht nun eine Schadenersatzforderung von der Stadt Winnenden. Deren Oberbürgermeister Hartmut Holzwarth (CDU) teilt am Donnerstag mit: „Sobald die Urteilsbegründung vorliegt und das Urteil Bestand hat, stellt sich für die Stadt Winnenden die Frage, ob wir zivilrechtlich unsererseits den materiellen Schaden einklagen, den die Stadt als Schulträgerin erlitten hat.“ Er hoffe, dass die vom Landgericht verhängte Strafe andere Waffenbesitzer vor „solch fahrlässigem Handeln“ abschrecke. Denn das Gericht sehe offensichtlich einen definitiven Zusammenhang zwischen dem Handeln des Vaters und den schrecklichen Mordtaten des Sohnes.