Höchster Viadukt der Welt wird heute in Südfrankreich eingeweiht - 270 Meter über der Erde. Es ist die Krönung des Brückenbaus, einer Leidenschaft, die die Menschen seit Urzeiten beherrscht . . .

Hamburg. Der erste Brückenbauer war der Sturm: Er riß Baumriesen aus dem Boden und warf die Stämme zuweilen quer über steile Schluchten. Vor zehntausend Jahren wohl sicherten Jäger und Sammler solche gefährlichen, aber zeitsparenden Übergänge zum ersten Mal mit Ästen und Lianen: Irgendwo in Afrika, Asien oder Europa verließen die ersten Verkehrsteilnehmer den gewohnten Boden der Längen und Breiten und schwangen sich in die dritte Dimension.

Die jungsteinzeitlichen Quer-Denker vollbrachten eine Leistung von welthistorischem Ausmaß: Noch vor dem Einbaum und dem Rad machte die Brücke die Erde dem mobilen Menschen untertan. Keine Straße, keine Stadt, kein Handels- und kein Feldzug kam ohne sie aus. Mal hoch wie ein Turm, mal schwankend wie ein Schiff führt sie den Menschen in, durch und über Elemente, für die vorher nur Fisch und Federvieh geschaffen schienen.

Das jüngste und beeindruckendste Beispiel, technisches Glanzstück des britischen Stararchitekten Norman Foster, kürzt seit heute die Fahrt von Paris nach Barcelona um jährlich viele Millionen Stau-Stunden: Mit Pfeilern höher als der Eiffelturm kreuzt der Viadukt den Fluß Tarn in Zugvogel-Reiseflughöhe und spart den Teilnehmern der alljährlichen Urlaubskarawane von der Metropole zum Meer Wut, Zeit und Pannen.

Das Mammutwerk, durchaus kein "Tand von Menschenhand" wie Fontanes zum Schluß doch nicht ganz sturmfeste "Brücke über den Tay", vereint technische Meisterschaft mit moderner Magie: Schon die Menge des Materials sprengt alle Vorstellungskraft; noch weniger vermag sich der ungeschulte Verstand auszumalen, wie Ingenieurkunst das gigantische Puzzle aus Stahl und Beton in schwindelnder Höhe so millimetergenau zusammensetzen konnte.

Die hohe Kunst hat alte Tradition: Schon der erste Reporter der Weltgeschichte, der griechische Historiker Herodot, berichtete im 5. Jahrhundert beeindruckt von den hundert Pfeilern an Babylons Balkenbrücke. Spätere Griechen schilderten schaudernd das fatale Schicksal der persischen Schiffsbrücke über den Hellespont, reisten lieber per Planke und überließen die Brückentechnik den römischen Straßenbauern, deren Via- und Aquädukte vielerorts bis heute überdauern: Roms Ponte Rotto schon seit dem Jahr 179 v. Chr. Das Mittelalter brachte nur wenig Brauchbares zustande, die London Bridge des 12. Jahrhunderts zum Beispiel bremste den Lauf der Themse und stürzte prompt ein.

Erst die genialen Baumeister der Renaissance trieben die verbindliche Technik wieder voran, Venedigs Rialto-Brücke gilt als schönstes Exempel. Danach aber waren die technischen Möglichkeiten der klassischen Materialien Holz und Stein erschöpft. Schließlich lieferte das Industriezeitalter die Wunderstoffe für neue Weiten: Stahl und Beton. Als erste schraubten und schweißten Engländer 1775-79 einen Eisenweg über den Severn, 1794-96 taten es ihnen die Schlesier bei Laasan nach.

Die erste moderne Hängebrücke baute 1801 der Amerikaner James Finlay 21,5 Meter weit über Pennsylvanias Jacob's Creek. Um 1830 hängte der Franzose Marc Seguin mehrere Viadukte mit Spannweiten bis 100 Meter an Stahlseile. Der moderne Drang des "Schneller, Höher, Weiter" feuerte den Wettkampf mit Pfeiler und Bogen an: Der deutsche Ingenieur Johann August Röbling setzte die ersten modernen Stahlkabelbrücken 1855 über die Niagara-Schlucht, 1867 über den Ohio und 1883 über den East River - seine Brooklyn Bridge war mit 486 Meter Spannweite um die Hälfte länger als alle vorherigen Konstruktionen.

Das 20. Jahrhundert sicherte auch dem Brückenbau neue Superlative: Istanbuls Europabrücke knüpfte zwei Kontinente zusammen. Japans Akashi-Kaikyo überspannt 1990 Meter - Weltrekord in dieser Disziplin. Eine Brücke über die Meerenge von Messina soll womöglich noch dieses Jahrzehnt Touristen spektakulär nach Sizilien führen. Und der Kalifornier Chuck Seim sitzt über Plänen einer Gibraltar-Brücke zwischen Europa und Afrika: 14 Kilometer, zwölf Pfeiler.

Ob solche Gigantopontie sich jemals rechnet, steht in den Sternen. Und wie beim Wolkenkratzer sichert nicht nur die schiere Höhe das Prestige: Londons Tower-Bridge und San Franciscos Golden Gate, technisch längst überholt, zählen weiter zu den schönsten der Welt. Denn weit mehr als nur der kühle Superlativ der Meter und Megatonnen bewegt die Herzen das Geheimnisvolle, Mystische jenseits des Rechenschiebers wie etwa bei der Brücke am Kwai. Kein anderes Konstrukt des Ingenieurgeistes wurzelt tiefer im Wesen des Herdentiers Mensch als die Brücke: Sie verknüpft Inseln, Länder und Kontinente, aber auch Reiche und Völker. Sie quert Flüsse und Meeresstraßen, aber auch Mauern und Zäune, und sinnbildlich verbindet sie zudem Rassen und Religionen, Kasten und Klassen, und manchmal sogar politische Parteien.

Die Römer nannten ihren höchsten Priester "Pontifex" - "Brückenbauer"; der größte unter ihnen ist bis heute als "Pontifex maximus" der Papst. Doch: "Wir alle sind aufgerufen, pontifices - Brückenbauer zu sein", sagte August Everding vor knapp zehn Jahren zu einem Jubiläum der Eidgenössisch-Technischen Hochschule Zürich. "Viele Flüsse haben schon ihre Übergänge. An vielen stehen wir an verschiedenen Ufern und suchen nach Pontons, nach Stegen, nach Kommunikation."

"Ein Lied kann eine Brücke sein", weiß Sängerin Joy Fleming. Es gibt politische Brückenbauer und den Brückenheiligen Nepomuk. Brücken sind mal golden, mal bricht man sie hinter sich ab, und zuweilen erzeugt ihr Einsturz Zahnlücken, wenn Fontanes Verse Wirklichkeit werden: "Wie Splitter brach das Gebälk entzwei!" Der Tarn-Brücke blüht gewiß eine bessere Zukunft als der über den Tay. Dennoch mag dort oben, in 270 Meter Höhe, manchem Autofahrer mulmig werden - mindestens bis er seitlich wieder Land sieht. Dann erst gilt wohl auch in Frankreich, was das deutsche Sprichwort sagt: "Kaum über der Bruck, verlacht man den Nepomuk."