Schock, Trauer, Verzweiflung und Ratlosigkeit. Der furchtbare Amoklauf des 17-jährigen Tim K. hat weltweites Entsetzen ausgelöst. Die Menschen in Winnenden fragen sich, wie es so weit kommen konnte - ein Hintergrundbericht.
Winnenden. Die Menschen in Winnenden stehen unter Schock. In den meisten Häusern sind die Rollladen heruntergelassen. Am Nachmittag stehen nur noch wenige Schaulustige an den Polizeiabsperrungen vor dem Schulzentrum der schwäbischen Kleinstadt. Niemand findet Worte für die schreckliche Tat, die sich hier ereignet hat.
Nach bisherigen Erkenntnissen stürmt der 17 Jahre alte Tim K. aus dem kleinen Ort Weiler zum Stein gegen 9.30 Uhr mit einem schwarzen Kampfanzug bekleidet die Albertville-Realschule, auf der er im vergangenen Jahr seinen Abschluss gemacht hat. Mit einer Pistole, die offenbar aus der legalen Waffensammlung seines Vaters stammt, erschießt er neun Schüler im Alter von 15 und 16 Jahren sowie drei Lehrerinnen, darunter eine Referendarin. Die Opfer werden von der Tat vollkommen überrascht, einige der Toten hatten noch Stifte in den Händen, berichtet die Polizei.
Nachdem er die Schule verlassen hat, tötet K. einen Mitarbeiter einer angrenzenden psychiatrischen Klinik. Anschließend stoppt er einen Wagen und zwingt den 61 Jahre alten Fahrer, ihn ins 40 Kilometer entfernte Wendlingen zu fahren. Dort gelingt dem Mann nach einem Unfall an einer Autobahnauffahrt die Flucht. Tim K. geht in ein Autohaus und erschießt dort einen Mitarbeiter und einen Kunden. Vor dem Autohaus kommt es zu einem Schusswechsel mit der Polizei, bei dem zwei Polizisten schwer verletzt werden. Gegen 12.30 Uhr tötet sich Tim K. offenbar durch einen Schuss in den Kopf selbst. Erinnerungen werden wach an den Amoklauf von Erfurt 2002, bei dem 17 Menschen ihr Leben verloren.
Frank Sailer ist Vorsitzender des Fördervereins der Albertville-Realschule. Sein 15-Jähriger Sohn war zum Zeitpunkt des Amoklaufs in der Schule. "Er steht völlig unter Schock", sagt Sailer sichtlich bewegt. "Wie wir alle", fügt er hinzu. Warum Tim K. zum Amokläufer wurde, kann er sich nicht erklären. Nur einen rechtsradikalen Hintergrund, über den in den Medien spekuliert worden sei, schließe er aus, sagt er.
Jürgen Kiesl, Bürgermeister der Gemeinde Leutenbach, zu der Weiler zum Stein gehört, hat Tim K. zwei Mal als Sportler geehrt. Auch die Eltern des Jungen kennt er gut, der Vater ist ein angesehener Unternehmer. "Ich kann mir nicht vorstellen, was diesen Jungen zu der Tat gebracht haben sollte", sagt auch Kiesl. Er will nun sicherstellen, dass die Winnender Schüler von Psychologen betreut werden. "Wir müssen auch dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passiert", sagt er. "Nach diesem Tag wird bei uns über Monate nichts mehr so sein, wie es war."
Vor der Albertville-Realschule stehen kleine Grüppchen von Schülern. Jungen und Mädchen, etwa 14 bis 18 Jahre alt. Gesprochen wird wenig. Die Schüler ziehen an ihren Zigaretten, manchmal nehmen sie sich gegenseitig in den Arm. Viele kannten Tim K. Als unauffällig und höflich beschreiben sie ihn. Er sei ruhig, kein Macho, aber auch kein Außenseiter gewesen. "Jemand, mit dem man gerne ausgeht", sagt die 15-Jährige Jasmin. Sie befürchtet, das die Schwester einer ihrer Freundinnen unter den Opfern ist. "Deshalb bin ich hier, um mehr zu erfahren."
"Wir erfahren aber überhaupt nichts", beschwert sich eine ältere Frau, die in der Albertville-Schule als Putzkraft beschäftigt ist. Zum Zeitpunkt des Amoklaufs sei sie in der Turnhalle gewesen, berichtet sie. Die Unterricht dort sei vollkommen normal gelaufen, bis die Polizei plötzlich alle Schüler aus dem Gebäude geholt habe. "Ich bin so fassungslos, ich kann nicht einmal weinen", sagt die Frau, deren blaue Augen dennoch feucht schimmern.
Wie die Menschen in Winnenden ist auch die Polizei ratlos. Hauptziel der Ermittlungen sei es aktuell, die Vergangenheit des Täters aufzuarbeiten und ein mögliches Motiv zu finden, sagt ein Sprecher. Der Computer des Täters, seine Kleidung und seine bevorzugte Musik werden ausgewertet. Mehrere Notfallseelsorger und Psychologen sind nach Winnenden gekommen und kümmern sich um Schüler und Eltern, die die schreckliche Tat verarbeiten müssen.
"Einige erzählen ihre Erlebnisse zehn Mal hintereinander, andere sind verstummt. Wir hören zu", sagt Albert Biesinger, der als Notseelsorger aus Tübingen nach Winnenden gekommen ist. Am Abend soll mit einem ökumenischen Gottesdienst der Opfer gedacht werden. "Das ist wichtig, weil es einen Ort geben muss, an dem man sich nicht alleine fühlt und an dem man eine Kerze für die Verstorbenen anzünden kann." Der baden-württembergische Innenminister Heribert Rech (CDU) sagt vor Journalisten: "Die Seele der Schule ist verwundet." Die Seelen der Menschen in Winnenden sind es auch.
Für Angehörige der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrkräfte der Albertville-Realschule ist eine Hotline-Nummer beim Regierungspräsidium Stuttgart geschaltet, die mit Schulpsychologen besetzt ist: 0711/904 - 40149, seelsorgerlichen Beistand bietet auch die Telefonseelsorge unter 0800 1110111.