Hamburg. Die Hamburger sind Bundesliga-Spitze im Laufpensum, aber haben zugleich die dünnste Rotation. Wie sie physisch und mental standhalten.
Kurz und knackig beging der FC St. Pauli am Dienstagvormittag den Wochenstart. Für alle Besserwisser: den Trainingswochenstart. Vergleichsweise kurz war dann allerdings auch die Liste einsatzbereiter Akteure für Trainer Alexander Blessin. Denn gleich sechs Stammspieler (Jackson Irvine, Eric Smith, Karol Mets, Hauke Wahl, Philipp Treu, Morgan Guilavogui) waren offenbar nicht knackig genug für eine komplette Einheit. Auch Defensivergänzung Adam Dzwigala lief nur individuell.
Grund zur Sorge besteht allenfalls bei Mets, den Patellasehnenprobleme plagen. Ansonsten gilt es, nur zwei Tage nach der Partie bei Borussia Mönchengladbach (0:2) und drei Tage vor dem eminent wichtigen Heimspiel gegen Holstein Kiel die Kräfte angemessen einzuteilen.
FC St. Pauli Bundesliga-Spitze beim Laufpensum
Die Belastungssteuerung ist ein großes Thema bei St. Pauli. Ungeachtet der Tatsache, dass der Aufsteiger, vor allem nach dem Ausscheiden im DFB-Pokal, keine Doppelbelastung zu absolvieren hat. Denn wenn die Hamburger gefordert sind, müssen sehr wenige Spieler sehr viel herausholen.
Kein Bundesligist spult ein größeres Laufvolumen ab als die Kiezkicker. 1.334,53 Kilometer, was in etwa der Entfernung von Hamburg nach Rom entspricht, beträgt die kollektive Laufleistung nach elf Begegnungen bereits. Diese Statistik führt St. Pauli deutlich vor Union Berlin (1.318,44) an. Kapitän Irvine ist mit 133,98 Kilometern gemeinsam mit Bayerns Joshua Kimmich Erster bei der individuellen Performance, Wahl (124,09) ist Achter.
Bei den Kiezkickern verteilt sich viel Last auf wenige Schultern
Zugleich sind die Braun-Weißen Schlusslicht in der Anzahl eingesetzter Akteure. Ebenso wie bei vier weiteren Erstligisten waren es in dieser Saison erst 21. Auch aus Verletzungsgründen sowie der verfügbaren Qualität tendierte Blessin bislang dazu, selten zu rotieren, häufig erst spät zu wechseln und sein Kontingent nicht immer auszuschöpfen. Ergo: Viel Last wird auf wenige Schultern verteilt.
Kann dies im weiteren Verlauf der Saison noch für Ermüdungsprobleme sorgen? Vielleicht sogar schon im Endspurt bis zur Winterpause? „Die Spieler sind alle jung und dynamisch. Bei einem Spiel pro Woche und normalem Training sollten sie vor allem die physische Belastung locker wegstecken“, sagt Sportmediziner Professor Klaus-Michael Braumann beschwichtigend. Bei der Kurzanalyse des langjährigen Dekans der Fachbereiche Sportwissenschaft sowie Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg sticht ein scheinbar obsoletes Wort heraus: physisch. Geht es nicht immer um physische Exhaustion?
Professor Klaus-Michael Braumann: „Mentale Belastung ist total unterschätzt“
„Die körperliche Erschöpfung könnte normalerweise frühestens nach sechs bis acht Monaten deutlich spürbar werden für Spieler, die ein bis zweimal wöchentlich spielen. Das haben die meisten Trainer inzwischen aber mit der Belastungsdosierung inzwischen aber gut im Griff, von außen erweckt auch St. Pauli diesen Eindruck auf mich“, sagt der Sportmediziner. Allerdings sei die psychische Belastung und deren Auswirkung auf die körperliche Ermüdung total unterschätzt. „Der mentale Stress wird oft völlig ausgeblendet“, sagt der 75-Jährige.
Im Stress erhöht sich der Muskeltonus und damit auch das Verletzungsrisiko signifikant. Besondere Herausforderungen wie der Abstiegskampf können darauf einzahlen, aber auch Zukunftsängste, wenn beispielsweise der Vertrag ausläuft. „Jeder weiß, wie man sich am nächsten Tag fühlt, wenn nachts das Kopfkino angegangen ist und am Schlaf hindert“, sagt Braumann.
Auslaufende Verträge sorgen für Stress und erhöhen Verletzungsrisiko
Beim FC St. Pauli sind nach Abendblatt-Information sicher die Verträge der schon länger verletzten Sascha Burchert und Simon Zoller aus sowie der von Carlo Boukhalfa und die Leihen von Robert Wagner und Guilavogui zum Saisonende terminiert. Es sei dann am Verein, das nötige Umfeld zu schaffen, um beide Belastungen zu kontrollieren, so Braumann.
Das scheint im Trainingszentrum an der Kollaustraße ganz offenbar der Fall zu sein. „Gar nicht“, antwortete Wahl am Dienstagmittag kurz und knackig auf die Frage nach der Ermüdung. Und wenn es einer wissen muss, dann der 30-Jährige, der nicht eine Sekunde der Bundesliga-Saison verpasste.
Hauke Wahl ist noch „gar nicht“ ermüdet
„Es stimmt, dass wir momentan nicht viele Rotations- und Wechselmöglichkeiten haben, aber zumindest ich bin das gewohnt“, sagte der Innenverteidiger. Er nutze vor allem die Länderspielpausen, um seine Akkus aufzuladen, in der vergangenen konnte Wahl drei freie Tage am Stück genießen.
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Dennoch achten Blessin und der Stab St. Paulis penibel auf die Belastung ihrer Profis, die mit Sensoren gemessen und jederzeit ausgelesen werden kann. Wer im roten Bereich ist, obwohl er das vielleicht noch gar nicht merkt, wird vom Platz geschickt. Dass Blessin am Dienstag Oladapo Afolayan, Boukhalfa, Johannes Eggestein, David Nemeth und Manolis Saliakas schon nach 38 Minuten Feierabend gab, Nikola Vasilj nach 55 Minuten, war jedoch planmäßig. Kurz sollte die Woche eben starten, damit Freitag alle knackig gegen Kiel sind.