Hamburg-Winterhude. Das Winterhuder Goldbekhaus lädt am 22. März zur Lesung „Die Nazis nannten sie ‚Asoziale’ und ‚Berufsverbrecher‘“ ein.

Sie sind die lange vergessenen Opfer des Nazi-Regimes gewesen. Erst vor vier Jahren hat der Deutsche Bundestag mit einem einstimmigen Beschluss die etwa 70.000 Menschen als Opfergruppe anerkannt, die in der NS-Zeit als „asozial“ und „kriminell“ stigmatisiert, verfolgt, verhaftet und zum großen Teil in den Konzentrationslagern ermordet worden sind. Das Stadtteilzentrum Goldbekhaus in Winterhude gedenkt am Freitag, 22. März, mit einer Lesung von betroffenen Angehörigen dieser jahrzehntelang verleugneten Opfer des Nationalsozialismus.

Unter dem Titel „Die Nazis nannten sie ‚Asoziale’ und ‚Berufsverbrecher‘“ erinnert das Winterhuder Kulturzentrum in seiner „Woche des Gedenkens“ an die traurigen Schicksale und das verpfuschte Leben dieser NS-Opfer. Zeitzeugen gibt es zwar nicht mehr. Aber die Nachfahren erzählen und beschreiben, was ihre Verwandten in dieser dunklen deutschen Vergangenheit haben erleiden müssen und wie sie selbst das lange Verschweigen dieser Tragödien und dieses Stigma in ihren Familien erlebt haben.

Die Goldbekhaus-Leiterin Katharina Behrens (links) mit Irmi Fuchs, die mit anderen betroffenen Angehörigen am 22.März den lange vergessenen NS-Opfern, die die Nazis als asozial und kriminell stigmatisierten, eine Stimme geben wollen. Sie sagt: Die Nazis haben das Leben meines Vaters verpfuscht.
Die Goldbekhaus-Leiterin Katharina Behrens (links) mit Irmi Fuchs, die mit anderen betroffenen Angehörigen am 22.März den lange vergessenen NS-Opfern, die die Nazis als asozial und kriminell stigmatisierten, eine Stimme geben wollen. Sie sagt: Die Nazis haben das Leben meines Vaters verpfuscht. © Burkhard Fuchs | Burkhard Fuchs

Angehörige verleugneter Nazi-Opfer haben sich zusammengeschlossen

Im vergangenen Jahr haben sich etwa 30 Angehörige dieser Opfergruppe, die in den KZ mit schwarzen und grünen Winkeln auf ihren Häftlingsuniformen gekennzeichnet wurden, zum „Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus“ (VEVON) zusammengeschlossen. Politisches Ziel des Verbandes ist es, diesen NS-Opfern endlich mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu schenken. Sie fordern Anerkennung in der deutschen Erinnerungskultur und möchten ein zentrales Mahnmal für diese lange verleugnete Opfergruppe. Und der Bundestag möge nun auch sein Versprechen einlösen, Forschungsprojekte zu finanzieren.

In einem Handbuch, das denselben Titel wie die Lesung im Goldbekhaus trägt, erzählen 20 Angehörige auf fast 400 Seiten die aufwühlend traurigen Geschichten ihrer zu Unrecht verfolgten Vorväter und –mütter. Es ist erst vor wenigen Tagen erschienen. Fünf der Autoren sind in Hamburg dabei.

Die Goldbekhaus-Leiterin Katharina Behrens (rechts) mit Irmi Fuchs, die mit anderen betroffenen Angehörigen am 22.März den lange vergessenen NS-Opfern, die die Nazis als asozial und kriminell stigmatisierten, eine Stimme geben wollen. Sie sagt: Die Nazis haben das Leben meines Vaters verpfuscht.
Die Goldbekhaus-Leiterin Katharina Behrens (rechts) mit Irmi Fuchs, die mit anderen betroffenen Angehörigen am 22.März den lange vergessenen NS-Opfern, die die Nazis als asozial und kriminell stigmatisierten, eine Stimme geben wollen. Sie sagt: Die Nazis haben das Leben meines Vaters verpfuscht. © Burkhard Fuchs | Burkhard Fuchs

Eindringliches Vorwort von Bundestagspräsidentin Bas

Im Vorwort dieses Buchs mahnt die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas den Bundestagsbeschluss vom Februar 2020 an. Darin hieß es: „Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet.“ So verschieden diese Menschen gewesen sein mögen: „Für sie gab es keinen Platz in der nationalsozialistischen ‚Volksgemeinschaft‘“, schreibt Bärbel Bas in ihrem eindringlichen Vorwort.

Und Bas weiter: „Sie wichen ab. Aus Sicht der Nationalsozialisten genügte das für die Deportation. Sie wurden ohne jedes rechtsstaatliche Verfahren verfolgt – aufgrund von Vorstrafen, Denunziationen oder einfach aus Verdacht. Der perfide Euphemismus der Behörden lautete dafür ‚Vorbeugungshaft‘. In vielen Fällen bedeutete sie ein Todesurteil.“

Das Plakat zur Veranstaltung am 22.März im Goldbekhaus zeigt den Stolperstein von Erna Lieske, die im KZ Auschwitz ermordet wurde, und das Polizeifoto des jungen Franz Walter nach seiner Verhaftung durch die Nazis, die ihn dann zu zehn Jahren Haft verurteilten, die er unter anderen im KZ Esterwegen verbringen musste.
Das Plakat zur Veranstaltung am 22.März im Goldbekhaus zeigt den Stolperstein von Erna Lieske, die im KZ Auschwitz ermordet wurde, und das Polizeifoto des jungen Franz Walter nach seiner Verhaftung durch die Nazis, die ihn dann zu zehn Jahren Haft verurteilten, die er unter anderen im KZ Esterwegen verbringen musste. © Burkhard Fuchs | Burkhard Fuchs

17-jährige Hamburger Halbwaisin in Auschwitz ermordet

Wie für Erna Lieske, die als 17-jährige Halbwaise nach dem ersten Weltkrieg aus bettelarmen Verhältnissen nach Hamburg kam und sich in der großen Stadt mit notdürftigen Jobs und Diebstählen über Wasser hielt. Sie konnte ihre Miete nicht mehr bezahlen, wurde angezeigt und als „gefährliche Gewohnheitsverbrecherin“ zu drei Jahren Haft mit anschließender „Sicherheitsverwahrung“ und Aberkennung ihrer bürgerrechtlichen Ehrenrechte verurteilt.

Über mehrere Zuchthäuser landete sie 1943 im Vernichtungslager Auschwitz, wo sie einen Monat später umgebracht wurde. Ihre Enkelin Liane Lieske hat in Hamburg in jahrelanger Recherche das schwere Schicksal ihrer Großmutter nachgezeichnet und wird darüber im Goldbekhaus berichten.

Die Goldbekhaus-Leiterin Katharina Behrens (links) mit Irmi Fuchs, die mit anderen betroffenen Angehörigen am 22.März den lange vergessenen NS-Opfern, die die Nazis als asozial und kriminell stigmatisierten, eine Stimme geben wollen. Sie sagt: Die Nazis haben das Leben meines Vaters verpfuscht.
Die Goldbekhaus-Leiterin Katharina Behrens (links) mit Irmi Fuchs, die mit anderen betroffenen Angehörigen am 22.März den lange vergessenen NS-Opfern, die die Nazis als asozial und kriminell stigmatisierten, eine Stimme geben wollen. Sie sagt: Die Nazis haben das Leben meines Vaters verpfuscht. © Burkhard Fuchs | Burkhard Fuchs

Opfer-Angehöriger erhält Verdienstkreuz am Bande

Bei Frank Nonnenmacher war es der Onkel Ernst, der als verurteilter obdachloser Wanderarbeiter die Haft im KZ Sachsenhausen zwar überlebte, aber viele Jahre nach dem Krieg um die Anerkennung als politisch verfolgter NS-Häftling in der Bundesrepublik vergeblich kämpfte. Sein Neffe Frank Nonnenmacher, ein emeritierter Professor der Sozialwissenschaften der Frankfurter Goethe-Uni, hat das Schicksal seines Onkels und diese gesellschaftliche Schweigespirale aufgearbeitet, die für viele dieser NS-Opfer eine erneute Bestrafung in ihrem verpfuschten Leben danach war.

Nonnenmacher, der den Verband der verleugneten NS-Opfer mit den anderen 30 Angehörigen ins Leben gerufen hat und zu dessen Vorsitzenden gewählt wurde, kommt ebenfalls ins Goldbekhaus. Zum Gedenktag der Auschwitz-Befreiung am 27. Januar 2024 konnte er in Mainz vor dem Landtag von Rheinland-Pfalz erstmals vor großem Publikum an diese lange vergessenen Opfer der Nazis öffentlich erinnern. Für dieses Engagement ist ihm das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik verliehen worden.

Als Moorsoldat über das KZ an die Front

Und Irmi Fuchs, die diese Veranstaltung im Goldbekhaus organisiert, wird über den spektakulären Fall ihres Vaters Franz Walter berichten, der zunächst wegen Zechprellerei 1934 inhaftiert wurde. Weil er sich als Handelsreisender auf homöopathische Arzneimittel und Augendiagnosen verstand, geriet er in den Verdacht, eine junge Frau als angeblicher Arzt behandelt zu haben. Ein Psychotherapeut nutzte die Gunst der Stunde für seine eigene Karriere und entlockte der Frau in Hunderten Hypnose-Sitzungen das angebliche Geständnis, das der zehn Jahre ältere Franz Walter dieser ominöse Arzt gewesen sei, der ihre behauptete jahrelange Pein verursacht habe.

Dass der immer wieder seine Unschuld beteuerte und die Frau zuvor nie gesehen haben wollte, die ihn bei der polizeilichen Gegenüberstellung vor der Hypnose auch nicht erkannt hatte, nutzte ihm nichts. Er wurde wegen Betruges zu zehn Jahren Haft verurteilt, die er als Moorsoldat im KZ Esterwegen und vier Zuchthäusern verbrachte. Die letzten beiden Kriegsjahre musste er noch an die norwegische Front.

Das Buch zur Lesung im Goldbekhaus „Die Nazis nannten sie ‚Asoziale‘ und ‚Berufsverbreche‘“ ist im Campus-Verlag Frankfurt/New York 2024 erschienen. Es beinhaltet 372 Seiten, kostet 29 Euro und ist auch als E-Book erhältlich. ISBN: 978-3-593-51838-1.
Das Buch zur Lesung im Goldbekhaus „Die Nazis nannten sie ‚Asoziale‘ und ‚Berufsverbreche‘“ ist im Campus-Verlag Frankfurt/New York 2024 erschienen. Es beinhaltet 372 Seiten, kostet 29 Euro und ist auch als E-Book erhältlich. ISBN: 978-3-593-51838-1. © Burkhard Fuchs | Burkhard Fuchs

Die Lesung „Die Nazis nannten sie ‚Asoziale‘ und ‚Berufsverbrecher‘ im Goldbekhaus Winterhude, Moorfurtweg 9, ist am Freitag, 22.März. Sie beginnt um 19 Uhr in der Bühne zum Hof und wird musikalisch begleitet. Der Eintritt ist frei. Weitere Informationen im Internet unter www.dieverleugneten-vevon.de