Hamburg. Die Turnierdirektorin spricht über die Herausforderung, während einer Pandemie zwei Tennisturniere in Folge zu veranstalten.

Zum Durchatmen bleibt zwar kaum Zeit, dennoch wird Sandra Reichel am Montag einmal kurz innehalten. Wenn in Runde eins der Qualifikation für das Hauptfeld erstmals seit 2002 wieder internationale Tennisdamen am Rothenbaum aufschlagen, kann die Turnierdirektorin ein wichtiges Etappenziel abhaken, das sie sich bei ihrem Einstieg im Sommer 2019 gesteckt hatte. Wie steinig der Weg dorthin war und wie fordernd die Organisation einer Großveranstaltung in Pandemiezeiten ist, darüber spricht die 50 Jahre alte Österreicherin im Abendblatt.

Hamburger Abendblatt: Frau Reichel, wie häufig haben Sie sich in den vergangenen Wochen eine Zeitmaschine gewünscht, die Sie direkt ins Jahr 2022 katapultiert?

Sandra Reichel: Wir wussten, als wir uns für die Durchführung der Turniere entschieden haben, dass auch in diesem Jahr noch keine Normalität herrschen würde. Aber das, was mein Team und ich in den vergangenen Wochen erlebt haben, toppt alles. Wir sind am Limit und manchmal auch darüber hinaus, was vor allem daran liegt, dass wir täglich mit neuen Covid-Themen konfrontiert sind. Das war im vergangenen Jahr schon sehr herausfordernd, aber dieses Jahr hat das Limit noch einmal deutlich verschoben.

Das Dilemma, in dem Sie stecken, ist, dass das Damenturnier parallel zur zweiten Woche des Grand-Slam-Events von Wimbledon ausgetragen wird und das Herrenturnier am Wimbledon-Finalwochenende startet. Wer aus England einreist, kommt aus dem Land mit der schlimmsten Verbreitung der Deltavariante des Coronavirus. Was bedeutet das für Ihre Turniere?

Reichel: Bis vor Kurzem mussten wir befürchten, dass wir unsere Turniere verschieben oder gar komplett absagen müssen. Erst als wir von der Bundesregierung die Ausnahmegenehmigung erhielten, dass eine Einreise ohne Quarantäne und auch die Weiterreise zu den Olympischen Spielen nach Tokio möglich ist, hatten wir gewisse Planungssicherheit. Dennoch ändern sich die Vorschriften täglich. Alle, die aus London kommen, müssen eine strenge Testroutine durchlaufen, die bei der Damentennisorganisation WTA anders geregelt wird als beim Herrenpendant ATP. Es ist extrem, auf was dabei zu achten ist, denn zusätzlich sind die Regelungen der jeweils zuständigen Behörden zu beachten. Es gilt immer die strengste Vorschrift. Das bedeutet, wenn die WTA härtere Regeln aufstellt als die deutschen Behörden, halten wir uns daran. Uns ist sehr wichtig, das durchzuziehen.

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Sie dürfen täglich bis zu 3500 Fans ins Stadion lassen, auch für diese gelten die bekannten Regeln. Was denken Sie da angesichts der Bilder von der Fußball-EM, wo im Wembley-Stadion, also mitten im Risikogebiet, 45.000 Menschen ohne Abstand, ohne Masken hemmungslos feiern?

Reichel: Da frage ich mich schon, wo die Logik ist. Für mich ist das unglaublich, und es regt mich sehr auf, dass manche so tun, als hätte es Corona nie gegeben. Wir alle sehnen uns nach der Zeit, in der wir ohne Einschränkungen unser Leben leben können. Aber wir dürfen doch nicht vergessen, was in den vergangenen eineinhalb Jahren los war. Wir werden deshalb unserer Verantwortung in vollem Umfang nachkommen und alles dafür tun, dass unsere Turniere so sicher wie nur irgend möglich sind.

Im vergangenen Jahr, als das Herrenturnier in den September verlegt wurde, waren Sie die erste Großveranstaltung in Hamburg mit Zuschauern und haben viel Lob dafür bekommen, dass Sie den Mut hatten, das Turnier trotz der Pandemie durchzuziehen. Was ist von dieser Anerkennung geblieben, hat sie sich langfristig ausgewirkt?

Reichel: Wir spüren, dass wir uns das Vertrauen der Stadt und der Menschen erarbeitet haben. Es wird anerkannt, dass wir es ernst meinen und das Turnier in guten wie in schlechten Zeiten in Hamburg halten wollen. Auch unsere Sponsoren und Partner sind alle bei der Stange geblieben, was in diesen Zeiten wahrlich nicht selbstverständlich ist. Mein Gefühl ist, dass wir in der Krise tatsächlich enger zusammengewachsen sind, und dafür bin ich sehr dankbar.

Danken ATP und WTA Ihnen Ihre Treue auch in diesem Jahr wieder mit finanziellem Entgegenkommen?

Reichel: Ja, beide haben Reduktionen des Preisgelds zugestimmt, die sich prozentual nach der erlaubten Zulassung von Zuschauern richten. Diese Unterstützung ist essenziell. Wenn wir die vollen Preisgelder ausschütten müssten, könnten wir die Turniere in diesem Jahr nicht durchführen.

Konnten Sie mit den Erfahrungen, die Sie 2020 gesammelt haben, anderen Turnierveranstaltern, die im vergangenen Jahr ihre Events abgesagt hatten, Rat geben?

Reichel: Tatsächlich waren wir bei Board Meetings das sogenannte „Best Prac­tice“-Beispiel und konnten darüber unsere Erfahrungen vielfältig weitergeben. Ich habe auch eine Mitarbeiterin an das Turnier in Genf verliehen, die dort ihre Expertise in Sachen Covid-Regeln einbringen konnte. Darüber haben wir einiges an Kredit gewonnen.

Corona ist ja beileibe nicht Ihre einzige Hürde. Der Termin der beiden Turniere ist im Sandwich zwischen Wimbledon und den Olympischen Spielen in Tokio, die sechs Tage nach dem Herrenfinale starten, alles andere als optimal. Was bedeutete das für die Planung und Bewerbung der Starterfelder?

Reichel: Die Terminproblematik war uns schon im vergangenen Jahr bewusst, aber das hat uns nicht davon abgehalten, es durchzuziehen. Natürlich weiß ich, dass die Fans und auch die Medien nach großen Namen fragen. Aber unsere Ausrichtung ist eine andere. Wir wollen in Hamburg die Spielerinnen und Spieler der neuen Generation präsentieren, die Stars von morgen sozusagen. Vor allem aber soll bei uns das Turnier der Star sein, wir wollen die Marke Rothenbaum derart stärken, dass das Event von allein Strahlkraft hat. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass auch ohne große Namen der gezeigte Sport hochklassig ist. Das erwarte ich auch in diesem Jahr.

Dass Ihr Zugpferd Dominic Thiem zwei Tage nach der Bekanntgabe seines Starts wegen einer schweren Handgelenksverletzung absagen musste, verbuchen Sie das als Ironie des Schicksals?

Reichel: Am meisten leidet der Domi unter seiner Verletzung doch selbst. Für mich war viel wichtiger, dass er sich für zwei Jahre verpflichtet hat, das ist ein starkes Zeichen. Ob wir trotzdem noch ein, zwei Topspieler haben werden, kann ich am 8. Juli um 16 Uhr sagen. Aber diese Ungewissheit sind wir ja längst gewohnt.

Bei den Damen hat sich die Turnierlandschaft in Deutschland gerade extrem gewandelt. Mit den Rasenturnieren in Berlin und Bad Homburg und Ihrem Turnier sind drei Events dazugekommen. Angesichts dessen, dass die goldene Generation um Angelique Kerber, Julia Görges und Andrea Petkovic bald abgetreten sein wird: Kommt diese Entwicklung nicht fünf Jahre zu spät?

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Reichel: Im Gegenteil: Ich bin sehr froh über jedes Turnier, das neu dazukommt, denn je größer der Fokus auf das Damentennis in Deutschland ist, desto mehr wird es davon profitieren. Und wir haben doch nun die Chance, die neue Generation mit aufzubauen und zu fördern. Im Sport gibt es immer Zyklen, und es werden neue Topspielerinnen nachkommen. Das braucht Zeit und Geduld, aber die haben wir. Ich bin einfach nur froh und glücklich, dass wir das Damentennis auch nach Hamburg zurückbringen können.

Wie heben Sie sich mit Ihrem Damenturnier denn von den anderen ab?

Reichel: Erst einmal dadurch, dass wir der einzige Standort in Deutschland sind, der Damen und Herren quasi als ein Event in zwei aufeinanderfolgenden Wochen bietet. Dazu kommt, dass wir mit Andrea Petkovic eine Botschafterin gewinnen konnten, die für uns Gold wert ist. Sie hat so viel Erfahrung, sie hat eine Stimme, die überall auf der Tenniswelt gehört wird. Sie hat auch schon einige Ideen, die wir in der Zukunft gemeinsam umsetzen werden. Darauf freue ich mich sehr.

Gibt es in diesem Jahr abseits des sportlichen Geschehens Neuerungen auf der Anlage oder im Rahmenprogramm?

Reichel: Da wir immer noch starken Einschränkungen unterliegen, wird es keine großen Veränderungen im Vergleich zu 2020 geben. Für mich ist immer noch das neue Stadion die wichtigste Veränderung. Jedes Mal, wenn ich es betrete, bin ich begeistert darüber, wie großartig es geworden ist.

Alles in allem kann man also sagen: Augen zu und durch in diesem Jahr und dann hoffen, dass 2022 alles wieder normal wird?

Reichel: Darauf hoffen wir alle. Aber ich bin auch für dieses Jahr optimistisch. Bei all den Mühen und Hindernissen ist es ein Traum, der wahr wird, Damen und Herren gemeinsam in Hamburg antreten zu sehen. Wir haben versprochen, dass wir dieses Turnier mit voller Leidenschaft für Hamburg entwickeln wollen. Das treibt uns an, wir wollen das Vertrauen rechtfertigen und zeigen, was wir können. Deshalb ziehen wir es auch in diesem Jahr aus ganzem Herzen durch. Die Zeitmaschine brauche ich nicht.