Im Moskauer Dopinglabor sind über Jahre positive Proben verschwunden, das russische Sportministerium hat die Manipulationen überwacht.
Toronto. Ein Olympia-Ausschluss für alle Russen rückt wegen eines staatlich organisierten Dopingsystems immer näher: Der mit Spannung erwartete McLaren-Report hat 18 Tage vor Beginn der Sommerspiele in Rio de Janeiro den Druck auf Russland und das IOC massiv erhöht und den Weltsport erschüttert.
Demnach habe das russische Sportministerium weitreichende Manipulationen während der Winterspiele in Sotschi 2014 und darüber hinaus mit Hilfe des Geheimdienstes FSB "gelenkt, kontrolliert und überwacht".
IOC reagiert mit Entsetzen
Empfehlungen für Konsequenzen gab der Report nicht - dennoch setzt er nun vor allem das Internationale Olympische Komitee (IOC) und Thomas Bach maximal unter Zugzwang. IOC-Präsident Bach hat mit Entsetzen auf den Report reagiert und erste Entscheidungen für Dienstag angekündigt.
"Die Ergebnisse des Berichts zeigen einen erschreckenden und beispiellosen Angriff auf die Integrität des Sports und der Olympischen Spiele", wurde Bach in einer Stellungnahme zitiert: "Daher wird das IOC nicht zögern, die härtesten Sanktionen gegen jede beteiligte Person oder Organisation zu treffen."
Das IOC werde die komplexen und detaillierten Anschuldigungen insbesondere gegen das russische Sportministerium prüfen. In einer kurzfristig anberaumten Telefonkonferenz werde das IOC-Exekutivboard am Dienstag beraten, um erste Entscheidungen zu treffen, die auch "vorläufige Maßnahmen und Sanktionen" mit Blick auf Rio 2016 beinhalten könnten.
Die Erkenntnisse McLarens, der am Montagmorgen Ortszeit im Sheraton Centre Hotel im kanadischen Toronto seinen Bericht vorstellte, sind unmissverständlich. Demnach sind nicht nur die Sotschi-Spiele und Wintersportler betroffen: "Russische Athleten aus den meisten Sommer- und Wintersportarten" hätten von der Manipulationsmethode, die von "mindestens Ende 2011 bis August 2015" geplant und durchgeführt worden sei, profitiert.
McLaren: Keine Zweifel an Beweisen
Das russische Sportministerium habe die Manipulation, bei der vor allem Dopingproben ausgetauscht wurden, mit Hilfe des Geheimdienstes FSB "gelenkt, kontrolliert und überwacht", hieß es in dem Report. McLaren bestätigte damit Aussagen des russischen Kronzeugen Gregori Rodtschenkow, denenzufolge die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi massiv auch unter Mithilfe staatlicher Behörden beeinflusst worden waren. Mehrere Dutzend russische Sportler, darunter mindestens 15 Medaillengewinner, sollen in Sotschi gedopt an den Start gegangen sein.
"Ich bin sehr überzeugt von unseren Ergebnissen. Wir haben viele Beweise, die keine Zweifel zulassen", sagte McLaren. Empfehlungen in Richtung IOC wolle er "anderen überlassen".
Sein Bericht hielt fest, dass in die Planung des einzigartigen Vertuschungsverfahrens des Labors in Sotschi unter anderem das Sportministerium, der Geheimdienst FSB und das Moskauer Stamm-Labor eingebunden waren. Eine vorher ausgewählte Gruppe russischer Athleten, die in Sotschi am Start waren, wurden demnach durch die Vertuschung von Proben geschützt. Bei allen Fläschchen mit den Proben wurden Manipulationen festgestellt, alle Deckel waren entfernt und später wieder angebracht worden.
Russland gibt sich kämpferisch
Russland hatte schon vor der Veröffentlichung harten Widerstand gegen eine mögliche Komplettsperre angekündigt. "Es gibt ein Arsenal an legalen Mitteln für die Verteidigung der Interessen der Sportler, und Russland wird es bis zum Letzten ausschöpfen", sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow in Moskau.
Nun ist das IOC am Zug. Zuletzt hatte Bach versucht, den Sotschi-Skandal von den Spielen in Rio (5. bis 21. August) fernzuhalten, indem er die Wintersportverbände für zuständig erklärte. Der 62-Jährige, ein Intimus von Russlands Präsident Wladimir Putin und strikter Gegner von Sippenhaft-Maßnahmen, muss sich aber auch an einem anderen Satz messen lassen: "Klar ist, wenn es einen institutionellen Eingriff gegeben hätte, dann würde das IOC auch institutionell reagieren und wird dabei nicht zögern."
Zudem steht Bach eine weitere Entscheidung mit enormer sportpolitischer Sprengkraft ins Haus, wenn er über das Startrecht der Whistleblowerin Julia Stepanowa für Rio entscheidet. Ebenfalls wegweisend: Bis Donnerstag will der Sportgerichtshof CAS über die Klage von 68 russischen Leichtathleten gegen die durch den Weltverband IAAF verhängte Kollektivsperre für Rio entscheiden.
Viele Verbände fordern Russland-Auschluss
Am Wochenende war der Druck auf das IOC noch einmal gestiegen. Zehn Nationale Anti-Doping-Agenturen, darunter auch die deutsche NADA, und 20 Athletenverbände hatten im Vorfeld von McLarens Präsentation den Komplett-Ausschluss der Russen gefordert, sollten sich Rodtschenkows Vorwürfe bestätigen.
Der oberste US-Dopingfahnder Travis Tygart, der einst den Super-Doper Lance Armstrong zur Strecke brachte, forderte Bach in einem Brief dazu auf, noch "vor dem 26. Juli zu handeln und Russland, sein Olympisches und Paralympisches Komitee sowie sämtliche russischen Sportverbände von den Spielen in Rio auszuschließen".
Nachträgliche Medaillen für deutsche Sportler?
Der Ire Patrick Hickey, Mitglied der IOC-Exekutive und enger Vertrauter von Bach, reagierte "schockiert und betroffen" und sah durch das Vorpreschen der Dopingjäger die "Glaubwürdigkeit des Reports untergraben." Derselben Meinung war naturgemäß Russlands Sportminister Witali Mutko. McLaren bestritt dies am Montag vehement.
NADA-Vorstand Lars Mortsiefer verteidigte den Vorstoß der Anti-Doping-Jäger: "Wenn man wie wir 24 Stunden am Tag gegen Doping kämpft, kann man nicht anders handeln." Offenbar herrscht in den Reihen der Dopingjäger mittlerweile auch ein tiefes Misstrauen gegenüber der IOC-Führungsriege, die zwar gebetsmühlenartig den "Schutz der sauberen Athleten" und eine "Null-Toleranz-Politik" propagiert, gegenüber der Sportgroßmacht Russland bislang aber extrem zurückhaltend auftrat. Nun aber kommen Thomas Bach und Co. nicht mehr um eine klare Entscheidung herum – pro oder contra Russland.
Sollten zudem auch die Wintersportverbände rückwirkend Strafen gegen russische Medaillengewinner von Sotschi vollziehen, dürfen auch deutsche Athleten hoffen. In drei Fällen würden sie bei nachträglichen Ausschlüssen auf den Bronzerang rutschen (Claudia Pechstein/Eisschnelllauf, Andi Langenhan/Rodeln, Patrick Bussler/Snowboard), in zwei Fällen sogar zu Olympiasiegern werden (Aljona Savchenko/Robin Szolkowy/Paarlauf, Männer-Staffel/Biathlon).