Hamburg. Nächster HSV-Gegner führt die Tabelle souverän an. Das ist kein Zufall – der Weg nach einer Erklärung führt zu einem Ex-Hamburger.

Am Donnerstag schauten Sportdirektor Michael Mutzel und Chefscout Claus Costa am Trainingsplatz vorbei. Die beiden Kaderplaner des HSV unterhielten sich angeregt, während Trainer Tim Walter seine Profis mit One-Touch-Fußball auf das kommende Auswärtsspiel am Sonntag bei Darmstadt 98 (13.30 Uhr/Sky und im Liveticker bei abendblatt.de) vorbereitete. Die Übung diente dazu, durch schnelle Kombinationen Lücken in die Defensivreihe zu reißen. Eine Qualität, auf die es beim Duell in Darmstadt ankommen wird.

Doch die Hessen, die nach dem HSV die zweitbeste Abwehrreihe der Zweiten Liga stellen, sind weitaus mehr als nur ein kompakt stehender Zweitligist. Mit seiner offensiv ausgerichteten Spielweise hat sich das Team still und heimlich an die Tabellenspitze geschossen. Angesichts der namhaften und vor allem finanzkräftigeren Konkurrenz aus Bremen, Schalke, Hamburg, Nürnberg und Düsseldorf hat keiner der viel zitierten Experten Darmstadt diese Rolle nach fast einem Drittel der Saison zugetraut. Dabei ist diese Entwicklung kein Zufall.

Wie HSV-Gegner Darmstadt ein Aufstiegskandidat wurde

Wer verstehen will, wie sich der Verein zu einem ernsthaften Aufstiegskandidaten mausern konnte, der muss ziemlich genau drei Jahre in den Februar 2019 zurückgehen, als der frühere HSV-Torwart Carsten Wehlmann sportlicher Leiter bei den Lilien wurde. Damals befand sich der Club auf Rang 14 und taumelte nach nur einem Sieg aus den zurückliegenden zehn Spielen dem Drittliga-Abstieg entgegen. Doch dann schuf Wehlmann neue Werte, gab eine neue Ausrichtung des Kaders vor und setzte nach dem Klassenerhalt den Rotstift an.

Mit dem Ziel vor Augen, die Mannschaft über mehrere Transferperioden zu verjüngen, krempelte der Manager fast den kompletten Kader um. Seit seinem Amtsantritt vor drei Jahren gehören mit Tobias Kempe, Fabian Holland und Marvin Mehlem nur noch drei Profis von damals dem aktuellen Team an. 33 Spieler sind unter Wehlmann gekommen, 40 haben den Verein verlassen. Es waren zwar auch Ergänzungsspieler dabei, doch unter dem Strich stand in jedem Sommer ein gewaltiger Umbruch – mit jeweils einem neuen Trainer.

Denn Erfolg weckt Begehrlichkeiten. Und so musste Darmstadt nach den Plätzen fünf (2019/20) und sieben (2020/21) die Abgänge der Trainer Dimitrios Grammozis beziehungsweise Markus Anfang verkraften. Dadurch ergab sich allerdings auch vor dieser Saison die Möglichkeit, Torsten Lieberknecht zu verpflichten – ein Glücksfall für Darmstadt. Der Coach setzt den unter Anfang eingeschlagenen offensiven Spielstil fort und hat es zudem geschafft, die zuvor anfällige Defensive zu stabilisieren. Mit seiner empathischen und authentischen Art passt er optimal zu dem Verein, der großen Wert auf Teamgeist legt.

Zufall? Die Geschichte hinter Darmstadts Sturmduo

Dennoch standen Wehlmann und Lieberknecht im vergangenen Sommer vor einer schwierigen Aufgabe: Sie mussten eine Lösung finden, die Abgänge von Zweitligatorschützenkönig Serdar Dursun (Fenerbahce Istanbul)) und Mittelfeld-Stabilisator Victor Pálsson (Schalke 04) zu kompensieren. Wie immer war das Geld knapp beim mit einem Etat von elf Millionen Euro ausgestatteten Traditionsverein, und so war mal wieder Kreativität auf dem Transfermarkt gefragt.

Darmstadt verfolgte die Idee, Dursuns 27 Tore auf mehrere Schultern zu verteilen, und holte Philipp Tietz (ablösefrei von Wiesbaden) und Luca Pfeiffer (kostenlose Leihe von Midtjylland). Ein Plan, der angesichts von jeweils zwölf Saisontoren voll aufging. Die beiden Angreifer profitieren von Lieberknechts Offensivfußball, der bislang zu 45 Treffern geführt hat – es ist der Ligabestwert.

Dabei war es zunächst gar nicht klar, dass Pfeiffer und Tietz eine Doppelspitze bilden werden. Die Idee reifte beim letzten Testspiel vor der Saison gegen Köln II (4:2), als die beiden Stürmer prächtig harmonierten. Seitdem sind sie aus der ersten Elf nicht mehr wegzudenken.

Noch ein Ex-HSV-Profi half Darmstadt

Trotz des treffsicheren Sturmduos verpatzte Darmstadt den Saisonstart wegen mehrerer Corona-Fälle innerhalb der Mannschaft. Nach zwei Niederlagen in der Liga und dem Pokal-Aus bei Drittligist 1860 München verpflichtete der Club Klaus Gjasula nach dessen Vertragsauflösung beim HSV, wo der Deutsch-Albaner nicht glücklich wurde. Mit dem Palsson-Ersatz war das letzte Puzzleteil schließlich gefunden.

Auch dank des wiedererstarkten Gjasula werden in Darmstadt längst Erinnerungen an den Bundesligaaufstieg 2015 wach. Erste Stimmen behaupten sogar, dass der Teamgeist der heutigen Mannschaft noch besser sein soll. Das damalige Team stach durch seine Mentalität hervor und ärgerte die Gegner mit seiner unattraktiven, aber erfolgreichen Spielweise. Inzwischen spielt Darmstadt einen deutlich attraktiveren Fußball – und hat zudem das Kämpfen nicht verlernt. Die Zutaten für einen erneuten Aufstiegscoup sind somit vorhanden.