Hamburg. Das 2:0 bei Werder Bremen ist Balsam für die HSV-Seele. Doch der frühere Stürmer beider Clubs gießt kräftig Wasser in den Wein.

Wer verstehen wollte, was ein HSV-Sieg gegen Werder Bremen in Hamburg auslösen kann, der musste am Morgen danach nicht nur zuhören. Sondern vor allem zuschauen. Tim Leibold stand auf dem Rasen des Trainingsplatzes und suchte nach den passenden Worten für den ersten Nordderbysieg nach fünfeinhalb Jahren. Um ihn herum ein Dutzend Journalisten, zwei Kameras, drei Mikrofone. Leibold sprach über „Abgezocktheit“, „Cleverness“ und auch „Eier in der Hose“, die man in Bremen haben müsste. „Sehr, sehr glücklich und stolz“ sei die Mannschaft, sagte Leibold.

Und während der glückliche und stolze Linksverteidiger den „sensationellen Abend“ mit einer Inflation des Wortes „sehr“ garnierte („Es war einfach sehr, sehr, sehr, sehr gut“), gingen nach und nach die HSV-Protagonisten vom Vorabend im Rücken Leibolds vom Platz. Den Anfang machte Trainer Tim Walter, der den medialen Auflauf nutzte, um hinter Leibold zu scherzen und fröhlich in die Kameras zu winken.

„Ich hoffe, dass die Herren Journalisten ihre Bleistifte mitgebracht haben“, rief Walter, als Leibold Torhüter Daniel Heuer Fernandes über den grünen Klee lobte. Dann waren es Ludovit Reis, Mikkel Kaufmann und Tommy Doyle, die in die Kameras blödelten und versuchten, den Kollegen aus dem Konzept zu bringen.

HSV feiert nach Sieg gegen Werder Bremen

Doch Leibold ließ sich am Morgen nach den 90 Minuten genauso wenig übertölpeln wie die meiste Zeit am Vorabend während der 90 Minuten. Der 27-Jährige berichtete von einer feucht-fröhlichen Rückfahrt in der Nacht, guter Musik im Bus und einer Kiste Bier.

Und am Ende ergab sich aus dem, was Leibold sagte, und dem, was in Leibolds Rücken passierte, ein Gesamtbild, das nur einen Schluss nach sich ziehen konnte: Die Laune beim HSV hätte nicht besser sein können. Das 2:0 in Bremen war ein Sieg für die zuletzt so geschundene Seele.

„Es war ein besonderer Sieg in einem besonderen Spiel – für uns als Mannschaft, vor allem aber für die HSV-Fans, deshalb ist dieser Sieg mehr wert als drei Punkte“, sagte auch Robert Glatzel, der diesen Mehr-als-ein-Dreier-Sieg schon sehr früh mit seinem herrlichen Führungstreffer auf den Weg brachte. Nicht einmal 90 Sekunden waren gespielt, als der Stürmer eine wunderschöne Kombination durch Jan Gyamerah, Leibold und Moritz Heyer zum schnellsten Tor der HSV-Zweitligageschichte per Kopf vollendete. „Der Start ins Spiel lief für uns natürlich perfekt“, sagte Glatzel.

Spielglück für den HSV

Und es sollte noch besser kommen. Der HSV hatte das, was man an hochkompetenten Fußball-Stammtischen allgemein Spielglück nannte. Erst entschied sich Schiedsrichter Sascha Stegemann gegen einen möglichen Elfmeterpfiff und gegen eine Rote Karte für HSV-Kapitän Sebastian Schonlau (36.), dann nahm er auch noch ein herrliches Freistoßtor von Marvin Ducksch (42.) zurück. Und als der HSV dann auch noch in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit durch Heyer das 2:0 köpfte, hatten die mitgereisten 1500 HSV-Fans endgültig das Gefühl, dass an diesem Abend Großes möglich schien.

„Die Bremer hätten noch fünf Stunden spielen können und hätten kein Tor mehr schießen können“, sagte am nächsten Morgen Leibold, der mit diesem einen Satz auch die zweite Halbzeit treffend zusammenfasste. Denn tatsächlich hatten die Bremer nach einer Gelb-Roten Karte für Schonlau noch eine ganze Reihe an Großchancen, von denen sie aber bis zum Abpfiff nach 96 intensiven Minuten keine mehr nutzen konnten.

Martin Harnik fand strenge Worte

„Der Platzverweis hat unsere unerfahrene Mannschaft etwas aus dem Tritt gebracht. Anschließend wurde es ab und zu hektisch und gefährlich, da müssen wir noch cleverer sein“, sagte Trainer Walter, der trotzdem nach dem Spiel ein Tänzchen auf dem Rasen wagte und anschließend ein hochzufriedenes Gesamtfazit zog: „Es ist einfach überragend, dass wir den Fans heute etwas zurückgeben konnten, die Mannschaft hat sich gerade riesig darüber gefreut.“

Ende gut, alles gut – könnte man also meinen. Doch ganz so einfach wollte es sich Sport1-Experte Martin Harnik dann nicht machen. „Wenn der HSV am Ende 2:3 oder 2:4 verliert, denn Werder hatte die Chancen, dann steht die Mannschaft mit leeren Händen da und ist enttäuscht. Am Ende ist es doch ein Ergebnissport und nicht eine Frage des Systems. Heute ist das Gott sei Dank gut gegangen für den HSV; aber es ist schon Wahnsinn, dass es da keinen Plan B gibt“, mäkelte der frühere HSV- und Werder-Profi, während Walter neben ihm stand und aufmerksam zuhörte.

Derby war für HSV ein „sehr schönes Erlebnis“

„Plan B ist schwierig, wenn du erst mal den Plan A umsetzen musst nach vier, fünf Wochen beziehungsweise nach mehreren Wochen, dann ist es schwierig umzuschwenken“, entgegnete Walter. Allzu viel umschwenken, das wurde sowohl am späten Sonnabend als auch am frühen Sonntag klar, will Walter ohnehin nicht. Ein „weiterer Schritt in die richtige Richtung unserer Entwicklung“ sei das gewesen, sagte der Coach.

„Es war ein sehr, sehr schönes Erlebnis.“ Nicht viermal „sehr“ wie Leibold, aber immerhin zwei mal „sehr“. Und überhaupt: Nach dem Topspiel ist ja bekanntlich vor dem Topspiel. Am Sonntag empfängt der HSV den 1. FC Nürnberg, der als einziges Team der Liga noch ungeschlagen ist. Um das zu ändern, braucht der HSV schon einen sehr, sehr guten Nachmittag. Möglicherweise sogar einen sehr, sehr, sehr, sehr guten.

Bremen: Zetterer – Weiser (66. Mbom), Mai, Veljkovic, Jung (73. Füllkrug) – Groß – Rapp, Schmidt (67. Assale) – Nankishi (38. Gruev), Schmid – Ducksch.
HSV: Heuer Fernandes – Gyamerah, David, Schonlau, Leibold – Meffert – Kinsombi (82. Vuskovic), Heyer (82. Suhonen) – Jatta (70. Kaufmann), Glatzel (58. Reis), Kittel (70. Wintzheimer).
Tore: 0:1 Glatzel (2.), 0:2 Heyer (45.+1).
Schiedsrichter: Sascha Stegemann (Niederkassel).
Zuschauer: 21.000 (ausverkauft).
Gelb-Rote Karten: Groß wegen wiederholten Foulspiels (32.) – Schonlau wegen wiederholten Foulspiels (52.).
Gelbe Karten: Schmidt, Ducksch (3), Assale, Gruev, Mbom – Heyer (2), Leibold (3).
Statistik: Torschüsse: 17:6, Laufleistung: 109,8:114,6 Kilometer, gespielte Pässe: 394:448, angekommene Pässe: 309:366, Ballbesitz: 47:53 Prozent, Zweikampfquote: 55:45 P
rozent.