Hamburg. Bei der Volkspark-Premiere mit Fans brilliert der HSV gegen Dresden nur eine Halbzeit. Reis trifft erstmals, Seeler schaut zu.

Als Sonny Kittel auf dem Schoß von Tim Walters Ehefrau Katrin Platz nahm, war die Welt am frühen Sonntagnachmittag im Volkspark noch in Ordnung. Kittel wedelte neben Bakery Jatta begeistert mit einer HSV-Flagge, als Schiedsrichter Martin Petersen die Mannschaften des HSV und von Dynamo Dresden in die Kabine bat. Ein Satz, der gleich drei Haken hatte.

  • Haken Nummer eins: Kittel war in Wahrheit nicht Kittel, sondern Walters Sohn Lennart, der sich ein Mini-Trikot des Edeltechnikers zur Feier des ersten HSV-Heimspiels von Papa Tim angezogen hatte.
  • Nummer zwei: Jatta war eine von Walters zwei Töchtern mit einem HSV-Jersey und der Jatta-Nummer 18.
  • Und Haken Nummer drei: Der Pfiff, der die ganze Familie Walter in Block 4A der Osttribüne begeisterte, war dummerweise nur der Halbzeitpfiff. 1:0 stand es nach 45 mitreißenden Minuten, die allerdings ebenfalls einen fetten Haken hatten: Es hätte mindestens 2:0 oder 3:0 stehen müssen.

Walter beklagt fehlende HSV-Gier

Weil aber bis zum finalen Pfiff von Herrn Petersen aus Stuttgart weder der echte Jatta noch der echte Kittel oder sonst ein echter HSV-Profi ein weiteres Tor erzielen konnten und all die echten Hamburger auf dem Platz sogar einen Treffer kassierten, war der Jubel im HSV-Familienblock nach dem Abpfiff nur mäßig. 1:1 hieß das Endergebnis, das trotz vier Punkten aus zwei Spielen aus HSV-Sicht durchaus als Ärgernis bewertet werden durfte.

„Gerade in der ersten Halbzeit hatten wir extrem viele Torchancen, für die wir uns leider nicht belohnt haben. Mir hat danach die letzte Gier und ein wenig Mut gefehlt. Das ist extrem bitter“, sagte Walter Senior, der trotzdem ein versöhnliches Fazit zog: „Ich kann der Mannschaft keinen Vorwurf machen, weil sie bis zum Ende daran geglaubt hat, das Spiel zu gewinnen.“

Doch weil ihr genau dies nicht gelingen sollte, traten die 17.100 Zuschauer, darunter auch Uwe Seeler, Harry Bähre, Frank Pagelsdorf, Ronny Wulff und der kurz vor dem Anpfiff offiziell verabschiedete Aaron Hunt, mit gemischten Gefühlen die Heimreise an. Einerseits war den Anhängern, die erstmals seit 16 Monaten wieder in einer Größenordnung von mehr als 1000 ins Stadion durften, die Freude über die Rückkehr in den Volkspark von der ersten bis zur letzten Minute lautstark anzumerken. Andererseits schien auch die Enttäuschung über die verpasste Chance, mit sechs Punkten in die Saison zu starten, groß.

HSV beklagt Chancenverwertung

„Die Fans waren immer voll dabei. Es macht einfach Spaß und Lust auf mehr“, sagte Walter, nachdem er seiner HSV-begeisterten Familie kurz nach dem Schlusspfiff noch ein paar Küsschen auf die Tribüne zugeworfen hatte. Und nicht nur die bekam Lust auf mehr Tim-Walter-Fußball, wie er vor allem in der ersten Halbzeit geboten wurde.

„Es hat einfach das zweite Tor gefehlt. Die Möglichkeiten waren da. Da müssen wir ansetzen, diese Chancen auch besser zu verwerten“, sagte Torhüter Daniel Heuer Fernandes, der sich in der ersten Halbzeit auch auf die Haupttribüne zur Familie Walter hätte gesellen können. Nachdem seine Mannschaft bereits nach nicht einmal 300 Sekunden durch Neuzugang Ludovit Reis in Führung gegangen war, konnte sich der Keeper in Ruhe von hinten aus ansehen, wie sich seine Kollegen vorne Chance um Chance erspielten.

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Alleine in der 18. Minute hätten Stürmer Robert Glatzel, Tim Leibold und erneut Glatzel mit einer hochklassigen Triple-Chance das ersehnte 2:0 nachlegen können oder gar müssen. Doch die beiden Hamburger vergaben ihre Möglichkeiten genauso fahrlässig wie ihre Kollegen (Jonas David/24., Glatzel/35., Manuel Wintzheimer/35., und David Kinsombi/38.). „Wir hätten den Sack zumachen müssen“, monierte Kapitän Sebastian Schonlau. „Uns hat das zweite Tor gefehlt, denn dann gewinnen wir das Spiel.“

Hat der HSV ein Standard-Problem?

Und so kam es, wie es kommen musste. In Halbzeit zwei feierte die alte Fußballfloskel „Wenn du vorne die Tore nicht machst, kassierst du hinten eins“ ein fulminantes Comeback, als Dresdens 1,90-Meter-Hüne Tim Knipping Schonlau (1,85 Meter groß) und sogar Maximilan Rohr (1,95 Meter) nach einer Ecke überflügelte und zum 1:1 einköpfte (68.).

Auf die Frage, was er mit seiner Mannschaft in der Halbzeitpause gemacht hätte, antwortete Trainer Walter mit einer gehörigen Portion Sarkasmus: „Ich habe ihr Baldrian in den Pausentee geschüttet.“ Ganz im Ernst bemängelte der Coach aber vor allem die Schläfrigkeit bei Standards: „Das Spiel besteht auch aus Ecken. Wir wissen, dass man mit Standards erfolgreich sein kann.“

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Doch weil man bekanntlich die Feste so feiern muss, wie sie fallen, ließ sich die HSV-Familie nach 95 unterhaltsamen Minuten die Partylaune trotz des Unentschiedens nicht so ganz verderben. Sportdirektor Michael Mutzel herzte direkt nach dem Abpfiff auch seine Liebsten in Block 4A, und der eingewechselte Sonny Kittel (der echte) ließ sich sogar sein ein Jahr altes Töchterchen in den Stadioninnenraum geben.

Dort lief die junge Frau Kittel ein paar Schritte auf den Rasen, ehe sie sich ehrfürchtig vor Wintzheimer auf den Hosenboden setzte. Schnell wieder aufgestanden – und die nächsten Schritte. Genau so also, wie es auch Papa Sonny und seine Kollegen vorhaben. Die nächste Chance hierzu in der Liga: in zwei Wochen am Millerntor.

Die Statistik:

  • HSV: Heuer Fernandes – Gyamerah, David, Schonlau, Leibold – Meffert (60. Rohr) – Kinsombi, Reis (69. Heyer) – Wintzheimer (69. Kittel) – Jatta (79. Kaufmann), Glatzel.
  • Dresden: Broll – Schröter (74. Aidonis), Sollbauer, Knipping, Löwe (60. Akoto) – Stark, Herrmann, Kade (46. Mörschel) – Königsdörffer (71. Hosiner), Daferner, Borello (46. Vlachodimos).
  • Schiedsrichter: Martin Petersen (Stuttgart)
  • Tore: 1:0 Reis (5.), 1:1 Knipping (68.).
  • Gelbe Karten: Wintzheimer, Rohr, Leibold, Kaufmann – Daferner, Herrmann
  • Zuschauer: 17.100 (ausverkauft)
  • Torschüsse: 18:7
  • Ecken: 8:3
  • Ballbesitz: 61:39 %
  • Zweikämpfe: 117:99