Hamburg. Der HSV-Techniker hat in dieser Saison einen Reife- und Entwicklungsprozess vollzogen – und mit ihm die gesamte Mannschaft.
Es hatte schon etwas von Kindergarten, was sich nach dem Schlusspfiff auf dem Rasen des Volksparkstadions abspielte. Der HSV hatte gerade mit 2:0 (0:0) gegen den 1. FC Heidenheim gewonnen, als bei der Ehrenrunde gleich ein halbes Dutzend Kinder ihre Väter begleiteten. Torwarttrainer Sven Höh holte seine Kids auf den Rasen, Co-Trainer Julian Hübner nahm seine Tochter an die Hand. Und auch die beiden Protagonisten genossen den Jubel der 10.000 Fans zusammen mit ihren Töchtern: Sonny Kittel und Robert Glatzel.
Papa Kittel hatte den HSV mit einem Doppelpack (63./78.) in der zweiten Halbzeit zum Sieg geschossen, Doppelpapa Glatzel traf nach seinem Viererpack in Darmstadt gegen seinen Ex-Club Heidenheim zwar nicht, stellte seinen Wert als unermüdlicher Bälle-Festmacher und mit einem maßgeschneiderten Pass vor dem 1:0 aber erneut unter Beweis. Das hatte auch Trainer und Dreifachvater Tim Walter erkannt. Und für Elea und Alicia Glatzel ist ihr Papa Robert ohnehin der Größte.
HSV hat einen Reifeprozess durchschritten
Während der HSV nach dem Spiel den Kinderspaß genoss, hatte er zuvor gegen Heidenheim demonstriert, dass er erwachsen geworden ist. Der jüngste Kader der Zweiten Liga hat einen Reifeprozess durchschritten. Gegen die lauf- und zweikampfstarken Schwaben ließ sich der HSV über die gesamte Spielzeit nicht aus der Ruhe bringen. „Wir sind jederzeit geduldig geblieben“, sagte Daniel Heuer Fernandes, der seine Mannschaft zwischenzeitlich vor einem Rückstand und später vor dem Ausgleich bewahrte.
Der Torhüter (29) hat zwar genau wie Kapitän Sebastian Schonlau (26) noch keine Kinder, zusammen übernehmen sie aber in der Defensive die Verantwortung. Genau wie Glatzel und Kittel in der Offensive. „Wir haben über die gesamte Spielzeit dagegengehalten, hatten das eine oder andere Mal aber auch etwas Glück“, sagte Matchwinner Kittel, der beim 1:0 zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort stand und nach dem schnellen Angriff über Glatzel (Pass), Bakery Jatta (Weiterleitung) und Faride Alidou (abgewehrter Schuss) nur noch einschieben musste (63.).
Wenig später übernahm der 28-Jährige dann beim Elfmeter die Verantwortung, nachdem Jatta im Strafraum gefoult worden war. Zum dritten Mal in dieser Saison verwandelte Kittel sicher (78.). Sein sechstes Saisontor war zugleich sein 26. Zweitligator für den Club. Damit ist er alleiniger Rekordtorschütze der HSV-Zweitligahistorie vor Simon Terodde (24). Für Kittel aber nicht mehr als ein „schöner Nebeneffekt“.
Der frühere Frankfurter ist in dieser Saison die prägende Figur des HSV. Seit Trainer Walter dem Techniker mehr Verantwortung übertragen hat, spielt dieser noch stärker als zuvor. Das hat auch mit Kittels Tochter zu tun, die im Sommer 2020 zur Welt kam. „Bestimmt hat sie auch einen gewissen Anteil“, sagte Kittel kürzlich in einem Interview mit hsv.de. Sie sei aber nicht der einzige Grund. „Ich musste auch in der Jugend schon früh Verantwortung für meinen jüngeren Bruder übernehmen, von daher ist das jetzt keine ungewohnte Situation für mich. Dieser Anführer hat schon immer in mir gesteckt“, sagte Kittel.
Ballsichere HSV-Spieler sind kaum zu stoppen
Nicht nur der in seinen ersten zwei Jahren oft sensibel wirkende Spielmacher ist erwachsener geworden. Die ganze Mannschaft hat im Vergleich zum ersten Saisondrittel einen Reife- und Entwicklungsprozess vollzogen. Spielten die Hamburger vor allem in den Heimspielen der Hinrunde nach Führungen oftmals naiv weiter nach vorne und vergaßen die Absicherung, steht das Team mittlerweile deutlich stabiler. Noch immer spielt der HSV riskant hinten heraus und konnte auch gegen Heidenheim glücklich sein, dass der daraus resultierende Fehler zu Beginn von Dzenis Burnic nicht bestraft wurde (6.).
Und während man sich oft fragt, warum sich der HSV durch dieses Risiko immer wieder in Bedrängnis bringt, zeigt die Mannschaft immer wieder schnell die Vorzüge dieser Spielweise. Wenn die Hamburger die erste Pressinglinie überspielen, ergeben sich große Räume, in denen die schnellen und ballsicheren HSV-Spieler kaum zu stoppen sind.
Das Gerede um den Aufstieg ist Kinderkram
Dass die Hamburger die womöglich spielstärkste Mannschaft der Liga sind, zeigten sie nach dem 2:0, als Kittel, Glatzel, Neuzugang Giorgi Chakvetadze (siehe unten) und der Rest der Rasselbande den Fans einen sehenswerten Kombinationsfußball boten. Der HSV – das wurde in dieser Phase deutlich – strotzt vor Selbstbewusstsein. Und das lässt sich mittlerweile auch in der Tabelle ablesen.
Tabellenspitze 2. Bundesliga:
1. FC St. Pauli 22 Sp. / 42:29 / 41 Pkt.
2. Werder Bremen 22 / 43:30 Tore / 41
3. HSV 22 / 41:20 / 40
4. Darmstadt 98 22 / 47:29 / 40
5. FC Schalke 04 22 / 43:27 / 37
6. 1. FC Heidenheim 22 / 28:28 / 37
7. 1. FC Nürnberg 22 / 30:32 / 33
8. SC Paderborn 22 / 38:28 / 32
9. Jahn Regensburg 22 / 42:35 / 31
Tim Walters Team hat die wenigsten Niederlagen (2), die wenigsten Gegentore (20) und die beste Tordifferenz (+21). Als neuer Dritter liegt der HSV nur jeweils einen Punkt hinter Tabellenführer St. Pauli und Verfolger Werder Bremen. Kinder, Kinder, wird sich manch ein HSV-Fan fragen, wird das dieses Jahr tatsächlich etwas mit dem Aufstieg?
Walter hätte diese Frage nach dem Spiel kaum besser ignorieren können. „Entwicklung hört nie auf. Die Jungs können jeden Tag etwas Neues dazulernen. Wenn wir weiter beharrlich bleiben und die Bereitschaft mitbringen, besser zu werden, dann schauen wir mal, wie es nächste Woche in Sandhausen aussieht.“ Walter hätte auch sagen können: Das Gerede um den Aufstieg ist Kinderkram.
HSV: Heuer Fernandes – Heyer, Vuskovic, Schonlau, Muheim – Meffert – Reis (90. David), Kittel (82. Kinsombi) – Jatta (90. Wintzheimer), Glatzel (90.+1 Kaufmann), Alidou (66. Chakvetadze).
Heidenheim: Müller – Busch, Mainka, Hüsing, Föhrenbach – Theuerkauf (80. Schimmer) – Schöppner, Burnic (72. Sessa) – Leipertz (72. Malone), Kleindienst (90. Kerschbaumer), Mohr (72. Kühlwetter).
Schiedsrichter: Dingert (Lebecksmühle).
Tore: 1:0 Kittel (63.), 2:0 Kittel (78., FE).
Zuschauende: 10.000 (ausverkauft).
Gelbe Karten: Muheim (3) – Föhrenbach (3), Kleindienst (5).
Statistik: Torschüsse: 13:10, Ecken: 3:3, Zweikämpfe: 53:47 Prozent, angekommene Pässe: 469:252, Ballbesitz: 59:41 Prozent.