Hamburg. Der Youngster spricht über die HSV-Rasselbande, das erste Bier, die erste Freundin und die Corona-Ausschreitungen in seiner Heimat.

Als die Sonne hinter dem Volkspark bereits untergegangen ist, ist beim HSV noch mal Spektakel angesagt. Die Aufgabe: Ein Spieler muss den Ball durch ein quergestelltes Trampolin über eine Plastik-Freistoßmauer befördern, danach folgt eine dreifache Kopfballstafette, und der letzte Akteur muss den Ball in eine Tonne köpfen.

Das größte Gejohle gibt es im letzten Durchgang, als der 1,78 Meter große Ludovit Reis (21) den Ball mit dem letzten Kopfball nur in die Tonne bugsieren kann, weil er ihn in Ulf-Kirsten-Manier vor der Grasnarbe erwischt. Kurz darauf sitzt der Niederländer frisch geduscht auf der Geschäftsstelle des HSV und will mit dem Abendblatt weniger über Kopfbälle in die Tonne als über das Jungsein sprechen.

Hamburger Abendblatt: Herr Reis, Sie verstehen sehr gut Deutsch, sprechen aber noch nicht fließend. Wissen Sie trotzdem schon, was cringe bedeutet?

Ludovit Reis: Cringe? Puh. Nie gehört, glaube ich jedenfalls.

„Cringe“ ist das deutsche Jugendwort dieses Jahres und bedeutet so viel wie „fremdschämen“. Wann hatten Sie das Gefühl zuletzt?

Reis: Ach, cringe! Doch, dieses englische Wort kenne ich natürlich. Aber obwohl wir eine sehr junge Mannschaft sind, benutzt diesen Ausdruck eigentlich niemand. Vielleicht ja auch deswegen nicht, weil sich zuletzt keiner cringe bei uns gefühlt hat. (lacht)

HSV hat das jüngste Team in der Liga

Mit einem Schnitt von 24,2 Jahren aller eingesetzten Spieler hat der HSV beim 4:1 gegen Regensburg sogar Werder (24,5) als jüngstes Team der Liga abgelöst. Spielt man anders mit einer extrem jungen Truppe als mit einer erfahrenen Mannschaft?

Reis: Gute Frage. Wir sind ein sehr junges Team, aber gleichzeitig haben wir viele Spieler, die trotzdem schon erfahren sind und viele Spiele absolviert haben. In der Kabine reden die Jungen natürlich über andere Dinge als die etwas Älteren. Aber auf dem Feld merkt man das meiner Meinung nach nicht so sehr.

Neben dem 28 Jahre alten „Oldie“ Sonny Kittel haben am Sonnabend aber vor allem die ganz Jungen überzeugt: Sie und die 20 Jahre alten Faride Alidou, Mario Vuskovic oder auch Anssi Suhonen. Wird Erfahrung im Profibusiness überbewertet?

Reis: Die Performance auf dem Feld ist entscheidend – unabhängig vom Alter. Aber es scheint schon so zu sein, dass junge Spieler mental und physisch weiter sind als möglicherweise vor zehn Jahren. Vielleicht werden junge Spieler durch die Nachwuchsleistungszentren heutzutage besser auf die Anforderungen des Profiseins vorbereitet.

Reis zog mit 15 Jahren von zu Hause aus

Sie sind mit 15 Jahren von zu Hause ausgezogen, nach Groningen gewechselt und haben in einer Gastfamilie gewohnt. Haben Sie Ihre Familie nicht wahnsinnig vermisst?

Reis: Und wie. Besonders das erste Jahr war sehr schwierig für mich. Für mich war alles neu: neuer Verein, neue Gastfamilie, neue Mannschaft, neue Freunde, neue Schule. So etwas dürfte für jeden 15-Jährigen schwierig sein. Meine Familie war 200 Kilometer von mir entfernt, und natürlich hatte ich Heimweh. Aber nach einem Jahr wurde es dann besser.

Ihr erster Vereinswechsel mit 15, Ihr erstes Profispiel mit 17, Ihr erster Auslandswechsel mit 19. Wissen Sie denn auch noch, wann Sie Ihr erstes Bier getrunken haben, erstmals auf einer Party waren und Ihre erste Freundin hatten?

Reis: Bier trinke ich auch mit 21 Jahren noch nicht, weil ich keinen Alkohol trinke. (schmunzelt) Und meine erste Freundin hatte ich mit 16 – und ich habe sie noch immer. Aber ich weiß schon, worauf Sie hinaus wollen. Ich habe ja zwei Brüder und konnte genau sehen, wie sie am Wochenende auf Partys gegangen sind und eben ganz normale Teenagersachen gemacht haben, während ich mich auf das nächste Spiel vorbereitet habe. Aber wenn man Profi werden will, dann muss man eben ein paar Entbehrungen in Kauf nehmen.

Wechsel zu Barcelona war die richtige Entscheidung

Und? Haben sich die Entbehrungen ausgezahlt?

Reis: Absolut. Mein großer Traum war es immer, Fußballprofi zu werden. Diesen Traum lebe ich jetzt.

Mit 19 Jahren sind Sie zum Weltclub FC Barcelona gewechselt. Waren Sie zu jung?

Reis: Die Frage wird mir häufiger gestellt. Aber ganz ehrlich: Welcher 19-Jährige sagt denn Nein zu Barcelona? Mein Berater rief mich an und sagte: „Ey, Barcelona will dich!“ Diesen Moment werde ich nicht vergessen. Erst wollte ich ihm gar nicht glauben. Ich sagte: „Du lügst doch!“ Doch er log nicht. Und ich würde es auch immer wieder so machen. Ich habe ja auch viel in Barcelona gelernt.

Groningen war „nur“ eine zweistündige Autofahrt, Barcelona einen zweistündigen Flug von Ihrer Heimat entfernt. Wie ist das, wenn man als 19-Jähriger von einem auf den anderen Tag in einem anderen Land lebt, dessen Sprache man noch gar nicht versteht und spricht?

Reis: Nicht einfach natürlich. Aber eigentlich war mein Wechsel nach Groningen für mich schwieriger als der Wechsel nach Barcelona. Ich hatte mich an das Wegsein schon ein wenig gewöhnt – und meine Familie und meine Freundin kamen mich ja trotzdem immer wieder besuchen. Außerdem wechselte Frenkie de Jong im gleichen Sommer von Ajax Amsterdam nach Barcelona. Auch das hat mir die Eingewöhnung ein wenig erleichtert.

Suhonen machte ähnliche Erfahrungen

Ihr HSV-Kollege Anssi Suhonen ist diesen Schritt ins Ausland sogar mit 16 Jahren gegangen. Haben Sie mit Ihm mal über all diese Dinge gesprochen?

Reis: Klar. Er hat ähnliche Erfahrungen wie ich in Groningen gemacht. Er vermisste sein Zuhause, aber er hat sich auch irgendwie durchgeschlagen. Der HSV hat ihm sehr geholfen, wie der FC Groningen damals mir geholfen hat. Er bekam schnell Deutschunterricht und kann jetzt ziemlich gut deutsch sprechen.

Gilt denn beim HSV noch die alte Kreisligaregel, dass die Jungen die Bälle nach dem Training aufsammeln, die Tore wegtragen?

Reis: Das wird wohl immer im Fußball so oder so ähnlich sein. Wobei ich auch da ab und an Glück habe. Denn bei uns müssen oft auch die Verlierer eines Trainingsspielchens für die Woche diese kleineren Arbeiten erledigen. Und dann ist es ganz egal, wie alt man ist.

In den vergangenen zwei Jahren litten vor allem Jugendliche und Kinder unter der Corona-Krise. In der Nähe Ihrer Heimat, in Rotterdam, haben jetzt vor allem Jugendliche gewalttätig gegen Corona-Beschränkungen demonstriert. Haben Sie mit Freunden in der Heimat darüber gesprochen?

Reis: Natürlich. Man macht sich ja so seine Gedanken, wenn man die Bilder sieht und in der Nähe Familie und Freunde hat. Doch Corona ist nun mal gefährlich – auch für junge Menschen. Deswegen hoffe ich auch, dass die Leute, auch die jungen, sich benehmen und keine blödsinnigen Sachen machen.

Reis: "Wir sprechen über alles"

Als Fußballer sind Sie privilegiert. Sprechen Sie in der Kabine über die aktuellen Diskussionen, über den Fall Kimmich, den Fall Anfang und wie es weitergehen soll?

Reis: Wir sprechen über alles, aber wir haben in den vergangenen zwei Jahren auch eine gewisse Routine entwickelt, mit Corona umzugehen. Unser Glück und Privileg ist es ja, dass wir in der ganzen Zeit Wochenende für Wochenende beschäftigt waren und sind. Und irgendwann geht das Leben hoffentlich auch wieder normal weiter.

Haben Sie Verständnis für Fußballkollegen, die sich trotz der Lage noch immer nicht haben impfen lassen?

Reis: Weg vom Fußball: Wir wissen, dass das Coronavirus sehr gefährlich ist, und wir müssen in dieser Pandemie alle vorsichtig sein und aufpassen.