Hamburg/Kiel. Lewis Holtby spricht vor dem Duell von Holstein Kiel gegen den Tabellenführer über die Lage an der Spitze und seine Ziele im Norden.

Mit dem typisch norddeutschen „Moin“ meldet sich Lew­is Holtby (31) per Telefon beim Abendblatt. Nach zwei Jahren in England bei den Blackburn Rovers ist der ehemalige Publikumsliebling der HSV-Anhänger seit August zurück im deutschen Norden und trifft mit Holstein Kiel auf den FC St. Pauli (18.30 Uhr, Sky).

Herr Holtby, seit vier Monaten spielen Sie für Holstein Kiel. Wie gefällt es Ihnen im hohen Norden, haben Sie sich gut eingelebt?

Lewis Holtby: Ich fühle mich sehr wohl, bin hier in einem wirklich guten, famili­ären Club gelandet. Der Teamgeist ist super. Da ich viele Spieler bereits kannte, fiel es mir wirklich leicht, schnell Fuß zu fassen. Also von daher ist alles bestens. Wenn wir jetzt noch mehr Punkte holen und Siege einfahren, ist alles super.

Wie sehr hat sich Ihr Leben durch den Wechsel verändert? In Hamburg haben Sie in Harvestehude gelebt, wie sieht Ihre Wohnsituation in Kiel aus?

Lewis Holtby: Ich wohne tatsächlich immer noch in Harvestehude und pendele. Zwei-, dreimal die Woche bleibe ich aber auch über Nacht in Kiel. Aber das ist ja ein Katzensprung. Auch in England habe ich nicht in Blackburn, sondern in Manchester gewohnt. In Hamburg ist einfach die Basis meiner Familie, und mir ist wichtig, dass es denen gut geht. Da machen mir 50 Minuten Fahrt nichts aus.

Sie sprechen Blackburn an. Nach Vertragsende waren Sie vor Ihrem Wechsel für einige Zeit vereinslos. Wie war diese Zeit für Sie? Beschlich Sie mitten in der Corona-Pandemie auch die Angst, womöglich erst mal keinen neuen Verein mehr zu finden?

Lewis Holtby: Angst? Nein. Mit einem Fitnesstrainer und einem persönlichen Trainer auf dem Platz habe ich mich fitgehalten mit dem klaren Ziel vor Augen, wieder nach Deutschland zu kommen, um bei einem Verein ein neues Projekt zu starten. Bei einem Club, wo es sportlich super passt, vor allem vom Spielstil her, und das Gesamtpaket stimmt.

Das Ausland hätte Sie nicht gereizt?

Lewis Holtby: Mir lagen durchaus andere Angebote vor, auch aus dem Ausland, und natürlich reizt einen das grundsätzlich immer. Allerdings war, bei allem Respekt, nichts dabei, wo es bei mir Klick gemacht hat. Also entschied ich mich, lieber noch zu warten. Und dann hat sich mit Kiel dann Gott sei Dank die Ideallösung aufgetan. Holstein hat es Jahr für Jahr geschafft, erfolgreichen, attraktiven Fußball zu präsentieren und oben mitzumischen. Dadurch hat der Verein es erreicht, Kiel als Fußballstadt in Deutschland bekannter zu machen. Heute wird im Zusammenhang mit Kiel nicht mehr nur über Handball geredet.

Nach einigen Kurzeinsätzen standen Sie unter dem neuen Trainer Marcel Rapp zuletzt sechsmal in Folge in der Startelf und haben sich zum Stammspieler entwickelt. Wie sehen Sie Ihre Rolle in der Mannschaft?

Lewis Holtby: Klar, trotz aller Bemühungen war meine Saisonvorbereitung natürlich nicht optimal, später behinderte mich eine Muskelverletzung, die klein anfing, dann aber immer gravierender wurde, wodurch ich ärgerlicherweise ein paar Wochen ausgefallen bin. Dann ist viel passiert ...

...Trainer Ole Werner trat schon nach dem siebten Spieltag im September zurück ...

Lewis Holtby: ...da muss man sich schnell zurückkämpfen. Und das habe ich getan. Ich gehöre zu den erfahreneren Spielern bei uns, diese Erfahrung will ich mit meinen Kollegen teilen und gemeinsam mit meinen fußballerischen Qualitäten dafür sorgen, dass wir häufiger drei Punkte holen und die Tabelle hochklettern und die positive Entwicklung der vergangenen Jahre weiter vorantreiben.

Als ehemaliger HSV-Spieler haben Sie gelernt, den FC St. Pauli weniger zu mögen als andere Vereine. Neben Ihnen könnten mit Finn Porath und Fiete Arp zwei weitere Ex-HSVer auf dem Platz stehen. Mit wie viel Extra-Motivation gehen Sie und Ihre Kollegen in die Partie gegen die Millerntor-Elf?

Lewis Holtby: Eigentlich habe ich gegen keine Mannschaft der Welt ein riesiges Problem. Aber logisch, wenn man so lange für den HSV gespielt hat und sich mit dem Verein in jedem Spiel voll identifiziert hat, entwickelst du natürlich eine gewisse Rivalität und lebst dieses Derby, wenn du auf dem Platz dabei bist. Deshalb ist es immer schön und brisant, gegen St. Pauli zu spielen. Und deshalb wäre der Sieg am Freitag, genauso wie der gegen Bremen, natürlich doppelt so schön. Obwohl hier eher der VfB Lübeck der wahre Derbygegner ist.

Wie sehr hat Sie denn die starke Hinrunde des FC St. Pauli überrascht?

Lewis Holtby: Die hat mich überhaupt nicht überrascht. Sie verfügen über sehr viel Qualität im Kader, vor allem in der Offensive. Zudem strahlen sie einen großen Zusammenhalt aus. In der Rückrunde der vergangenen Saison haben sie bereits ihr Potenzial angedeutet, weshalb für mich ihr momentaner Erfolg kein Zufall ist. Der FC St. Pauli hat Stand jetzt die besten Karten, in die Bundesliga aufzusteigen.

Der Zufall will es, dass einen Tag nach Ihrer Partie gegen St. Pauli mit dem HSV und Schalke zwei Ihrer ehemaligen Vereine aufeinandertreffen. Eigentlich ein echter Bundesliga-Klassiker. Was ist aus Ihrer Sicht schiefgelaufen, dass ein solches Spiel nun eine Etage tiefer stattfindet?

Lewis Holtby: Na ja, also für die Zweite Liga ist es natürlich sehr attraktiv, wenn solche Giganten aufeinandertreffen, vor allem für die Vermarktung (lacht). Für das Fanherz ist das natürlich mehr als schade. Aber so ist die Realität. Wenn du kontinuierlich keinen Erfolg hast und in so einen Strudel gerätst, dann passiert so etwas. Deshalb ist der Zusammenhalt im Verein so entscheidend, das spiegelt sich dann auf dem Platz wider. Verfolgen alle gemeinsame Ziele, stimmt die Harmonie, kann sich die Wucht, die von solchen Vereinen ausgeht, entfalten. Mittlerweile stehen der HSV und auch Schalke ganz gut da und haben auch eine gewisse Ruhe reinbekommen.

Wagen Sie eine Prognose für das Duell?

Lewis Holtby: Ich bin selbst gespannt. Beide hatten ein sehr gutes Wochenende. Der HSV hat die beste Verteidigung der Liga und schießt momentan auch viele Tore, vor allem zu Hause. Es ist sehr unangenehm, gegen sie zu spielen. Schalke hingegen ist derzeit verletzungsgeplagt, hat aber gegen Nürnberg trotzdem ein starkes Spiel geliefert. Auf dem Papier würde ich sagen, es wird ein Unentschieden. Aber ich tippe, dass der HSV gewinnen wird.

Stichwort Aufstieg: Was glauben Sie, welche zwei oder drei Mannschaften werden am Saisonende in die Bundes­liga aufsteigen?

Lewis Holtby: Ich glaube an einen Vierkampf zwischen dem FC St. Pauli, dem HSV, Schalke 04 und Werder Bremen. Am Ende wird sich die Qualität durchsetzen. Auch wenn Verletzungen von Stammspielern eine wichtige Rolle spielen können, gehe ich davon aus, dass St. Pauli Erster wird und dahinter auch der HSV direkt aufsteigt, vorausgesetzt, die Mannschaft bleibt stabil. Um Relegationsplatz drei streiten sich Schalke und Werder. Das wird sehr eng.

Gerade diese Traditionsclubs stehen stark im Fokus der Öffentlichkeit, in Kiel ist das Medieninteresse deutlich geringer. Sehen Sie das als Vor- oder als Nachteil an?

Lewis Holtby: Mal so und mal so. Natürlich musst du es schaffen, weiter stabil Fußball zu spielen, wenn viel Medientrubel um dich und deine Mannschaft herrscht. Es gehört zum Job eines Fußballprofis dazu, gestaltet sich aber für viele Fußballer oft als größte Prüfung, diesem Mediendruck standzuhalten. Das ist beim HSV oder Schalke aber deutlich intensiver als hier in Kiel, wo selbst bei großen Dingen nur kurz darüber gesprochen wird.

Fehlen Ihnen auf der anderen Seite die Fanmassen, die Sie bei früheren Stationen erlebt haben, auch beim HSV?

Lewis Holtby: Natürlich ist es schön, wenn ein Verein eine riesengroße Fanbasis hat. In Hamburg habe ich eine große Nähe gespürt zu den Anhängern, die sich unglaublich loyal verhalten haben. Hier in Kiel ist natürlich alles einen Tick kleiner. Aber wissen Sie was: Im Endeffekt macht es für einen Fußballer keinen allzu großen Unterschied, ob dich 50.000 oder 15.000 anfeuern. Hauptsache, die Fans stehen hinter der Mannschaft und dem Club. Und das tun die Fans auch hier in Kiel.

FC St. Pauli: Vasilj – Zander, Ziereis, Lawrence, Paqarada – Smith – Irvine, Hartel – Kyereh – Burgstaller, Matanovic