Matthias Flohr spricht über sein Doppelleben als Profisportler und Student und über fehlende Anerkennung von Pflichtsiegen.

Hamburg. Beim Interviewtermin ist Matthias Flohr schon da und wartet. Von der akademischen Viertelstunde macht er allenfalls an der Universität Hamburg Gebrauch, in der er seit 2004 als Lehramtsstudent eingeschrieben ist. Diszipliniert zu sein, das lerne man als Profihandballer, sagt Flohr, 29. Ein letztes Mal in diesem Jahr sind seine Qualitäten heute im Punktspiel des HSV gegen Göppingen in der ausverkauften O2 World (19 Uhr/Sport1) gefragt - umso mehr, als Torsten Jansen, der andere Linksaußen, ausfällt.

Hamburger Abendblatt: Herr Flohr, ist Handball berechenbar?

Matthias Flohr: Ich habe mich gerade heute Morgen mit Mathematik und mit meiner Sportklausur beschäftigt und muss gestehen: Ich konnte keinen Zusammenhang herstellen.

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Dabei hat man den Eindruck, dass gerade in der Bundesliga der Handball nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten abläuft. Zum Beispiel, dass die Großen immer gegen die Kleinen gewinnen. Ist der Handball nicht doch zu vorhersehbar?

Flohr: Unsere Niederlage in Lübbecke ist leider ein aktueller Gegenbeweis. Sicher muss man einräumen, dass der THW Kiel und wir in den vergangenen Jahren die Liga dominiert haben. Aber dahin mussten wir erst einmal kommen. Und die Dominanz drückt auch die Qualität des Handballsports aus. Beim Fußball gewinnt nicht zwingend die bessere Mannschaft. Vielleicht macht das ja seine Faszination aus. Beim Handball setzt sich der Stärkere in 90 bis 95 Prozent der Fälle durch. Bei manchen knappen Siegen wäre vielleicht ein Unentschieden gerechter.

Sie haben alle drei bis vier Tage ein Spiel. Wie stressig ist der Job des Handballers?

Flohr: Es kommt immer darauf an, wie man es auffasst. Man muss lernen, diesen Rhythmus anzunehmen. Was Verletzungen betrifft, bin ich im Großen und Ganzen verschont geblieben. Glück gehört sicher dazu, aber ich mache auch viel präventiv: Beweglichkeits- und Kraftübungen, die mir an meinen neuralgischen Stellen helfen.

Wie viel Zeit können Sie in solchen Wochen Ihrem Studium widmen?

Flohr: Ich bin tatsächlich direkt aus der Bibliothek zu diesem Interview gekommen. Kürzlich habe ich meine Examensarbeit abgegeben, dafür habe ich mich schon reingehängt. Im Januar und Februar kommen dann die Klausuren. Man hat schon so seine drei, vier Stunden täglich dafür zur Verfügung. Ich habe mit den Jahren ganz gut gelernt, mir die Zeit einzuteilen.

Das lockere Studentenleben haben Sie nie kennengelernt?

Flohr: Das mag es zu meiner Zeit in Münster und anfangs in Hamburg, als wir noch nicht in der Champions League spielten, gewesen sein. Da konnte ich drauflosstudieren und mir in Ruhe aussuchen, welche Kurse ich belege - natürlich in Abstimmung mit dem Trainingsplan. Aber irgendwann brauchst du dann bestimmte Scheine, die, wenn es schlecht läuft, auf die Trainingszeit fallen. Dann bleibt einem nur, ein Semester zu warten. Gerade im Lehramtsstudium ist Anwesenheit bei vielen Pflichtveranstaltungen vorgeschrieben.

Nimmt die Universität Hamburg auf Leistungssportler zu wenig Rücksicht?

Flohr: Es gibt einen Kooperationsvertrag zwischen Hochschulsport, Uni, Olympiastützpunkt und anderen über die Unterstützung von Leistungssportlern. Darin sind aber nur ganz vage Formulierungen. Letztlich muss jeder versuchen, in Absprache mit dem Dozenten eine Lösung zu finden. Ich konnte leider nicht jeden überzeugen.

Wird es irgendwann den Lehrer Matthias Flohr geben?

Flohr: Vielleicht. Es ist jedenfalls eine Option. Für mich war immer klar, dass ich studieren will und es neben dem Handball durchziehe. Es hat mir auch sehr viel Spaß gemacht, auch wenn es am Ende ein bisschen anstrengend wurde, als der Aufwand beim HSV immer größer wurde und noch die Nationalmannschaft hinzukam. Sie hat mich bestimmt ein, zwei Semester gekostet.

Haben Sie nie erwogen, ob es besser wäre, sich auf den Handball zu konzentrieren?

Flohr: Nie. Denn der Handball hatte immer höchste Priorität. Ich habe schon wegen einer Trainingseinheit wichtige Klausuren sausen lassen. Das gehört für mich zum Profisein dazu.

Nur Profi zu sein hat Ihnen aber nicht gereicht. Gibt Ihnen das Studium denn etwas für den Handball?

Flohr: Im sportwissenschaftlichen Bereich kann ich sicher etwas mitnehmen. Das Studium gibt mir schon einen gewissen Einblick hinter die Fassade, was Trainingswissenschaft, Sporternährung, Verletzungsprophylaxe, Sportpsychologie und Ähnliches betrifft. Das hilft mir gerade beim selbstständigen Training.

Und umgekehrt?

Flohr: Wenn man etwas beim Profisport lernt, so sind es Disziplin und Hartnäckigkeit. Dass man eine Sache, die man anfängt, mit aller Kraft durchzieht. Das kommt mir an der Universität bisweilen zu kurz.

Sie sind als Einziger beim HSV diesen Weg gegangen. Wären Sie ohne die zusätzliche Belastung ein besserer Handballer geworden?

Flohr: Definitiv nicht. Ich hätte vielleicht mehr Bücher gelesen, mehr PlayStation gespielt und schon Kinder bekommen. Die Doppelbelastung eines Studiums ist nichts gegen die Doppelbelastung, drei Kinder zu haben, so wie Bertrand und Guillaume Gille. Aber auch sie wären ohne Kinder keine besseren Handballer. Die meisten Profisportler haben Kinder, und Kinder sind anstrengend. Aber würde es deswegen jemand infrage stellen? Es bleibt trotz der vielen Spiele allemal genügend Zeit, sich um ein Studium zu kümmern.

Auch auf den vielen Reisen?

Flohr: Ich kann wunderbar im Flugzeug Manuskripte lesen oder an meiner Arbeit sitzen. Und abends, wenn man vielleicht vor dem Fernseher sitzen könnte, gehe ich schon öfter mal bis elf, zwölf Uhr an den Schreibtisch. Das ist mein ganz eigener Antrieb. Es stresst mich auch kein bisschen. Vielleicht weil ich den Handball immer in den Vordergrund gestellt habe. Die anderen machen sich bei einer Examensarbeit sicher mehr Druck. Ich mache mir den beim Handball.

Wie begegnen einem die Kommilitonen?

Flohr: Bei manchen sieht man, dass sie überlegen, ob sie mich nicht schon mal gesehen haben. Als ich regelmäßig am Fachbereich war, hatte ich natürlich meine Leute, die mich kannten. Da kam schon mal ein Spruch wie: "Der Flohr ist auch mal wieder da!"

Hätten Sie bei Ihrem Wechsel aus der Zweiten Liga zum HSV 2004 für möglich gehalten, dass Sie 2011 hier als deutscher Meister sitzen?

Flohr: Sicherlich nicht. Und als nach vier Monaten erstmals kein Geld mehr kam, schon gar nicht. Das war schon ein spannender Schritt. Viele haben mir damals abgeraten und mich hinterher für meinen Mut gelobt. Dabei gehörte eigentlich gar kein Mut dazu. Was hatte ich denn zu verlieren? Ich konnte beim HSV spielen. Natürlich war mir bewusst, warum gerade ich verpflichtet wurde und nicht ein Topstar. Ich war ja günstig wie die Sau. Aber ich habe nur Chancen darin gesehen.

Inzwischen sind Sie nicht mehr wegzudenken. Nur für die große Nationalmannschaftskarriere hat es bisher nicht gereicht. Grämt Sie das?

Flohr: Nein. Man sollte sicher immer nach dem Maximalen streben, aber man sollte auch das wertschätzen, was man erreicht hat. Ich habe mit dem HSV erleben dürfen, was vielen Nationalspielern nicht vergönnt war, die nicht bei einem so tollen Verein spielen. Das macht es mehr als wett.

Sind die Olympischen Spiele 2012 in London noch ein Ziel für Sie?

Flohr: Ziel wäre übertrieben. Ein kleiner Traum ganz gewiss. Aber ich konzentriere mich auf den HSV, weil ich weiß, dass, wenn mir das gelingt, der Traum irgendwann Realität werden könnte. Ihm hinterherzurennen bringt nichts, zumal ich im Moment nicht zur Nationalmannschaft gehöre.

Für die EM im Januar in Serbien hat Bundestrainer Martin Heuberger Sie nicht nominiert. Wie sind Sie verblieben?

Flohr: Er hat mir gesagt, dass er mich weiter beobachtet, und ich habe eingeräumt, dass die Entscheidung schwierig ist, weil viele gute Leute zur Auswahl stehen. Ich bin froh, dass ich sie nicht selbst fällen muss.

Sie wurden von Heiner Brand öfter am Kreis aufgestellt, beim HSV spielen Sie linksaußen. Bei einem anderen Verein wären Sie als Kreisläufer vielleicht längst Stammkraft in der Nationalmannschaft.

Flohr: Mag sein. Aber dann wäre ich jetzt wahrscheinlich nicht deutscher Meister.

Hat der Titel irgendetwas verändert?

Flohr: Auf dem Spielfeld nicht. Ich freue mich immer noch auf jedes einzelne Spiel und gehe es voll an. Dass hinter jedem Sieg harte Arbeit steckt, wird gern vergessen.

Sie vermissen die Wertschätzung für die sogenannten Pflichtsiege?

Flohr: Manchmal schon. Deshalb habe ich auch höchsten Respekt vor der Serie des THW Kiel, weil ich weiß, was es bedeutet, Spiel für Spiel Höchstleistung zu bringen. Es ist eben nicht selbstverständlich zu gewinnen. Auch unsere Leistung der vergangenen beiden Jahre ist enorm beeindruckend. Es stehen dir ja jedes Mal hervorragende Spieler gegenüber in der stärksten Liga der Welt. Die haben nichts zu verlieren, für die ist es das Highlight des Jahres.

Was werden Sie nebenbei machen, wenn Sie mit dem Studium fertig sind?

Flohr: PlayStation spielen! Im Ernst: Ich bin ganz froh, wenn ich auch mal durchatmen kann. Morgens aufzustehen und den Tag auf sich zukommen zu lassen ist ganz schön. Einen Roman habe ich lange nicht mehr gelesen.