Den HSV-Handballern droht nach der 31:32-Pleite gegen Lübbecke jetzt eine Saison ohne Titelgewinn. Am Sonntag geht es nun zum THW Kiel.

Hamburg. Als Erster hatte Michael Kraus seine Fassung zurückgewonnen. "In unserer Kabine herrscht immer noch Totenstille. Jeder ist mit sich selbst, mit seinen Fehlern beschäftigt", berichtete er. "Aber: Sechs Punkte Differenz zum THW Kiel tun nichts zur Sache. Am Sonntag wollen wir ohnehin in Kiel gewinnen, das bleibt ein Highlight-Spiel", meinte der Nationalmannschafts-Regisseur, der nach seinem Muskelfaserriss in der Wade auch in Lübbecke nur zuschauen durfte.

31:32 hatte der deutsche Handballmeister in der engen Merkur-Arena verloren, das erste Mal nach zuvor 19 Siegen in Meisterschaft, Pokal und Champions League. "Jetzt wird es wirklich schwer für uns", ahnt HSV-Trainer Per Carlén, "ich sehe nicht, wo die Kieler in dieser Saison noch sieben Punkte abgeben sollen." Die Titelverteidigung, das ist für die Hamburger die bittere Erkenntnis nach der dritten Auswärtspleite, dürfte sich schon nach dem 14. Spieltag erledigt haben, zu souverän beherrscht dafür der THW Kiel derzeit die Bundesliga. Der Rekordmeister führt mit 30:0 Punkten die Tabelle an.

Ende der Serie - Ende des Traums?

Nun gehört der HSV mit 22:6 Punkten als Tabellendritter weiter zum erlesenen Spitzenkreis der Bundesliga, unbestritten auch in Europa, und die hohe Qualität des Kaders voller Weltstars bleibt über jeden Zweifel erhaben. Im Vorstand und Aufsichtsrat mehren sich jedoch jene Stimmen, die Niederlagen wie in Lübbecke nicht als Ausrutscher abhaken wollen, die darin vielmehr ein grundsätzliches Problem, ein Symptom sehen. Das Ensemble sei zu alt, das älteste der Bundesliga, heißt es dann, nicht mehr dreimal in der Woche physisch und psychisch zur Höchstform fähig. Zu viele Spieler jenseits der 30 Jahre hätten den Zenit ihres Leistungsvermögens überschritten und seien durch die jahrelangen Dauerbelastungen des nationalen wie internationalen Handballbetriebs verletzungsanfällig geworden - wie die Gille-Brüder Bertrand, 33, und Guillaume, 35, Marcin Lijewski, 34, oder Torsten Jansen, 34, alles Eckpfeiler der umjubelten Meistermannschaft 2011, alles aber auch wiederholt Ausfälle in dieser Saison aufgrund von Blessuren. Die Chance, rechtzeitig und leistungsverträglich einen Umbruch einzuleiten, ist aber vertan worden. Die meisten Profis haben Verträge bis Mitte 2013 oder darüber hinaus, Kapitän Pascal Hens, 31, bis 2015, Rechtsaußen Hans Lindberg, 30, bis ins Jahr 2017.

Dabei war alles einmal ganz anders geplant. 10+4 hieß die Formel, die Andreas Rudolph, damals HSV-Präsident, heute noch Mehrheitseigner der Spielbetriebsgesellschaft, vor drei Jahren entwerfen ließ, um Geld zu sparen und dem Nachwuchs eine Perspektive zu geben. Neben zehn Weltklassespielern sollten bis zu vier Talente mit Erstligapotenzial den Kader ergänzen. Nach und nach sollten sie an die Bundesliga herangeführt werden, den etablierten Stars erst Druck machen und sie schließlich ablösen. Der Schwede Per Carlén ist für die Umsetzung genau dieses Konzeptes im Sommer 2010 als Nachfolger des damaligen Trainers und heutigen Präsidenten Martin Schwalb vom HSV verpflichtet worden.

Das alles galt bis zum 28. August 2010. An diesem Tag hat Rudolph 10+4 wieder zu den Akten gelegt. Der 28. August 2010 war ein Sonnabend, der erste Spieltag der vergangenen Saison. Der HSV verlor 30:32 in Göppingen, und Rudolph sah seinen Traum, den Verein zum ersten deutschen Meistertitel zu führen, erneut gefährdet. Die Möglichkeit, es in dieser Spielzeit zu schaffen, schien für ihn größer als jemals zuvor und wahrscheinlich auch danach. Es war wohl die richtige Einschätzung. Um das Ziel nicht zu gefährden, änderte Rudolph seine Strategie. Nichts sollte im Verein mehr unternommen werden, um die Spieler zu verunsichern, keinen sollten Zukunftsängste plagen, jeder sollte sich auf den Gewinn der Meisterschaft konzentrieren können. Der Preis dafür war die Verlängerung zahlreicher Verträge, zum Teil gegen Widerstände im Verein - und gegen wirtschaftliche wie sportliche Vernunft. Der HSV gewann die folgenden 21 Spiele, bis zum 30:30 in Lübbecke im vergangenen Februar.

Den Preis der Meisterschaft 2011 droht der HSV nun in den nächsten Jahren zu zahlen. Rudolph wehrt sich gegen diese Kritik: "Spieler sind das Kapital jedes Klubs. Sie langfristig an sich zu binden ist ein wirtschaftliches Gebot, letztlich kann der HSV bei entsprechender Vertragsdauer Ablösesummen erhalten. Darüber hinaus wollten wir unserem neuen Trainer ein bestelltes Feld übergeben. Wir wollten die Problematik eines Trainerwechsels nicht zusätzlich dadurch belasten, dass Per Carlén auch noch eine Vielzahl neuer Spieler hätte integrieren müssen." Jetzt machen dem Coach die alten zu schaffen. "Ab etwa 30 Jahren sinkt die Belastbarkeit, und die Verletzungen nehmen zu", sagt Carlén, "unsere Mannschaft ist ohne Frage eine alte."

Und dann kam auch noch Pech dazu. Kraus verletzte sich bei einem Autounfall vor dem Saisonstart derart schwer, dass er es bisher nur zu zwei Kurzeinsätzen brachte. Trainersohn Oscar Carlén, 23, der die Verjüngung des Teams einleiten sollte, riss sich zum dritten Mal das Kreuzband. Er fällt ein Jahr aus. "Dennoch", sagt Kiels Trainer Alfred Gislason, "ist diese Topmannschaft weiter zu allem fähig. Der HSV bleibt unser größter Rivale."