Hamburg. Früher putzte der 30-Jährige Häuser. Jetzt soll der Spielmacher die Hamburg Towers in der Bundesliga stabilisieren.

So langsam kommt Jorge Gutiérrez in Weihnachtsstimmung. Im Schrank seiner Wohnung in Wilhelmsburg hat der Spielmacher der Hamburg Towers einen Plastik-Weihnachtsbaum gefunden, den Vormieter Beau Beech hinterlassen hatte. „Er sorgt dafür, dass ich einen Christbaum habe. Ist er nicht ein toller Kapitän?“, scherzt der Mexikaner, der das Fest der Liebe in diesem Jahr ohne seine Familie feiern wird. „Aber allein die Lichter und den Schmuck am Baum zu sehen gibt mir ein besinnliches Gefühl. Ich werde Heiligabend etwas mit den anderen Spielern machen, deren Familien auch nicht in Hamburg sind“, sagt der 30-Jährige.

Gutiérrez macht eben aus jeder Situation das Beste. Ein Credo, das den Basketballer, der mit seinem Team am Sonntag (18 Uhr, edel-optics.de Arena, magentasport.de live) auf Alba Berlin trifft, durch seine Karriere begleitet. „Ich führe ein wundervolles Leben. Ich spiele jeden Tag Basketball und gehe dann nach Hause. Andere Arbeitnehmer arbeiten von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends“, sagt der Mexikaner, der die Vorweihnachtstage nutzt, um auch einmal zurückzuschauen auf einen Weg, der wahrlich nicht immer einfach war.

Auf Feldern gearbeitet und Häuser geputzt

Gutiérrez ist mit seinen beiden Brüdern Fernando und Julian in Chihuahua, einer gut 800.000 Einwohner großen Stadt im Norden Mexikos, aufgewachsen. Kinogänge? Essen gehen? Das war in seiner Kindheit nicht möglich. „Wir hatten nie Probleme, etwas zu essen auf dem Tisch zu haben, haben aber auch kein glamouröses Leben geführt. Es war ein normales Familienleben. Von meinen Eltern habe ich meine Arbeitseinstellung geerbt“, sagt der Towers-Profi, dessen Vater Fernando als Mathe- und Physiklehrer und dessen Mutter Bertha als Krankenschwester schwer arbeiteten, um den drei Kindern ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen.

Um sich selbst später ein solches Leben zu sichern, verließ Gutiérrez nach der Schule seine Heimat und seine Familie, um seinem Traum, Basketballprofi zu werden, näher zu kommen. Auf der Lincoln Highschool in Denver fiel das Talent des 1,91 Meter großen Profis schnell auf. Er führte seine Schule zur Bundesstaatsmeisterschaft und wurde zum wertvollsten Spieler gewählt. „In den USA hatte ich kaum Geld für Essen oder irgendetwas. Also habe ich in der Landwirtschaft auf den Feldern gearbeitet und Häuser geputzt, um irgendwie über die Runden zu kommen“, erinnert sich Gutiérrez, dem zwischenzeitlich immer wieder Zweifel kamen, ob es richtig war, nach Amerika zu gehen und alles auf die Karte Basketball zu setzen.

College war die schönste Zeit seines Lebens

Gutiérrez spielte mit dem Gedanken, alles hinzuwerfen und sich mit Minijobs in der Berufswelt fernab der Glamourwelt NBA durchzuschlagen. „Nur auf Basketball zu setzen war ein naiver und dämlicher Plan, aber das war nun einmal mein Plan. Es hätte die schlechteste Entscheidung meines Lebens sein können“, gesteht Gutiérrez offen ein. War sie aber nicht. Im Gegenteil: 2008 wurde der angesehene College-Trainer Mike Montgomery auf Gutiérrez aufmerksam und verschaffte ihm ein Stipendium an der University of California in Berkeley. „Coach Montgomerey hat mein Leben verändert. Das College war die schönste Zeit meines Lebens, ich musste mir keine Gedanken mehr machen, wie ich an etwas zu essen komme, und durfte einfach nur Basketball spielen“, sagt Gutiérrez. Es sollte der Beginn einer Cinderella-Story werden.

Am 9. März 2014 feierte der Towers-Profi sein NBA-Debüt für die Brooklyn Nets gegen die Sacramento Kings. „Mein Trainer war die Legende Jason Kidd, ich saß plötzlich neben Superstars wie Kevin Garnett und Paul Pierce. Ich habe meinen Traum gelebt“, schwärmt Gutiérrez, der endlich in der Lage war, mit seiner Leidenschaft gutes Geld zu verdienen – obgleich er seinen ersten Gehaltscheck an die Liga zurückgeben musste. „Ich bin wegen eines sehr harten Fouls vom Platz geflogen und musste 15.000 US-Dollar Geldstrafe zahlen“, sagt der Nationalspieler und lacht: „Aber es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass ich das Geld hatte, um die Strafe zahlen zu können.“

Stationen in der Türkei, in Spanien und Italien

Seit seiner NBA-Karriere muss sich Gutiérrez keine finanziellen Sorgen mehr machen. Nach seiner Zeit in den USA spielte der Profi in der Türkei, in Spanien, Italien und Mexiko, ehe es ihn im November im zweiten Anlauf zu den Towers zog. Bereits im Sommer wollte der Bundesliga-Aufsteiger Gutiérrez verpflichten, doch der Stratege war damals nicht auf dem Markt. Nun ist der Mexikaner Hoffnungsträger im Abstiegskampf. Innerhalb kürzester Zeit stieg der Routinier zum Leistungsträger auf, der pro Partie 27 Minuten und 38 Sekunden auf dem Court steht – und zum Wortführer in der Kabine.

Als der mittlerweile entlassene Profi Marshawn Powell nicht mitzog, hat ihn sich Gutiérrez in der Kabine verbal zur Brust genommen. „Wenn ich etwas zu sagen habe, sage ich es, und normalerweise hört man mir auch zu. Aber ich sehe mich eher als Leader, der auf dem Platz vorangeht“, sagt der Guard. Das will er auch gegen Alba Berlin – gewohnt temperamentvoll – beweisen. Zeit für Besinnlichkeit ist danach noch genug.