Hamburg. Der Basketballer Travis Warech sucht während der Zeit bei den Hamburg Towers nach Spuren seiner jüdischen Vorfahren in der Hansestadt.

An einem nasskalten Nachmittag steht Travis Warech mit schwarzen Ohrenwärmern vor dem früheren Wohnhaus seiner Ururgroßeltern im Grindelviertel. Sein Blick wandert die rotklinker-weiße Hausfassade an der Rutschbahn 11 hinunter zu den zwei prachtvollen Eingangssäulen. Und schließlich auf den Gehweg zum Stolperstein seines Ururgroßvaters: „Hier wohnte Gerson Stoppelman. JG. 1879. Flucht Holland 1938. Deportiert 1942. Auschwitz ermordet.“ Stichworte für ein ganzes Leben. Die Witterung hat das Messingquadrat verschmutzt. Der 1,91 Meter große Basketballer hält inne, geht auf die Knie, streichelt den kleinen Stein. Über der Eingangstür steht geschrieben „Friede sei mit euch“.

Er hat sich nie wie ein Deutscher gefühlt, bis zu diesem Tag

Sechs Wochen spielt der 24-Jährige in Wilhelmsburg bei den Towers in der Zweiten Bundesliga, bis er am 9. Dezember zu Ligakonkurrent Vechta wechselt. Doch an die kurze Karrierestation Hamburg wird sich der Deutschamerikaner lange erinnern. Hier liegen die jüdischen Wurzeln seiner Familie. Hier unternimmt er einen aufwühlenden Spaziergang. „Ich bin nicht mit dem Gefühl aufgewachsen, deutsch zu sein“, sagt Warech auf Englisch. In seinem Elternhaus in New Jersey war die deutsche Sprache verloren gegangen. „Aber am heutigen Tag fühle ich mich deutscher als je zuvor.“

Seine Urgroßeltern waren 1938 mit seiner zehn Monate alten Großmutter Alice per Schiff nach New York geflüchtet. Der Ururgroßvater Gerson Stoppelman besaß im Grindel eine koschere Metzgerei. „Fleischerrrei“, sagt Warech auf Deutsch. Die Adresse hat er sich notiert: „Dill Street 16”, Dillstraße 16. Zwei Schwarzweißfotos hat er im iPhone gespeichert. Eines zeigt die Ladenfront einer Metzgerei. Davor stolz Grete und Gustav Kaiser – Warechs Urgroßeltern. Auf Bild zwei stehen die beiden vor einem schwarzen Oldtimer mit HH-Kennzeichen. Auf der Kühlerhaube sitzt Travis´ Grandma mit weißem Häkelmützchen. Einmal kehrte Alice, heute 78, in den 80er-Jahren zurück in ihre verlorene Heimat, „mit gemischten Gefühlen“, wie ihr Enkel sagt.

Im alten Hamburg war die Stoppelman-Familie fest am Grindel verwurzelt. Das Buch „Eine verschwundene Welt: Jüdisches Leben am Grindel“ widmet der Fleischerdynastie drei Seiten. Im Hamburger Staatsarchiv lagern die Wiedergutmachungsakten mehrerer Familienmitglieder. Die Akten von Grete und Gustav Kaiser lassen sich kurzfristig einsehen. „Gretchen“ ist eines von fünf Kindern Gerson Stop­pelmans. Max (nach Palästina) und Hedwig (in die USA) – geflohen. Ilse und Alfred – ermordet.

Warech blickt auf die Kopien aus dem Staatsarchiv mit der Handschrift und der US-Adresse seiner Urgroßmutter. „I can’t believe this.“ Die Akte belegt, wie Grete in den 60ern einen verzweifelten bürokratischen Kampf mit der Bundesrepublik führte, um eine Wiedergutmachung für gesundheitliche Schäden zu erhalten. Atteste amerikanischer Ärzte belegen Angststörungen, Schlaflosigkeit und eine Fehlgeburt. Antrag abgelehnt. Zudem macht sie eine Entschädigung für Einschränkungen im beruflichen Fortkommen geltend. Antrag abgelehnt. Gustav bekommt schließlich 8856 Mark.

Der Profi wusste nichts von den Gedenktafeln für seine Angehörigen

Ortswechsel. Beim Schlump arbeitet die Historikerin Beate Meyer am Institut für die Geschichte der deutschen Juden. Sie betreibt Biografieforschung zu den Stolpersteinen. „Es ist immer eine tolle Erfahrung, wenn das, was wir machen, um die Erinnerung in der Stadt wachzuhalten, auch für die Angehörigen bedeutsam ist”, sagt sie. Es ist selten, dass sie jemanden aus der Urenkelgeneration trifft. Und einen Profibasketballer hatte sie sowieso noch nie an ihrem Bürotisch sitzen. Sie bittet die Studentin Kim Aileen Jessen dazu. Jessen erarbeitete in einem ihrer Seminare die Biografie der in Sobibor ermordeten Ilse Dotsch, der jüngsten Schwester von Warechs Urgroßmutter Grete. Warech sieht erstmals ein Foto von Ilse: das schwarze Haar in Wellen gelegt, das runde Gesicht mit gütigem Lächeln. „Ich erkenne meine Großmutter wieder.”

Auch für Ilse ist ein Stein verlegt, gleich neben dem ihres Vaters Gerson Stoppelman. Warech wusste nichts von den Gedenktafeln seiner Angehörigen. Er ist gerührt. Das europaweite Projekt an sich kannte er aber. „Stumbling blocks”, sagt er. „Ich finde sie gut. Der Holocaust kann niemals wiedergutgemacht werden. Aber die Steine sind zumindest ...”, Warech überlegt kurz, „etwas. Eine Erinnerung”.

250 Meter entfernt von der Rutschbahn 11 befindet sich die Dillstraße 16. Dort im Souterrain hat heute das Modelabel „Miss Goodlife” seinen Sitz. Hier muss die Fleischerei gewesen sein. Warech hat einmal gehört, dass seine Vorfahren nach dem Schächtverbot und massiven Behinderungen illegal per Schiff Fleisch geschmuggelt hätten, in Gepäck und Kleidung versteckt.

Warech könnte sich sogar vorstellen für Deutschland zu spielen

Der Modelabel-Gründer Stefan Naber sagt über die bewegte Historie seines Ladens: „Ich hatte keine Ahnung, aber ich finde das spannend.” Die hellblauen, rissigen Bodenfliesen sehen aus wie Zeitzeugen. Warech will vor die verglaste Ladenfront und ein Foto machen. Vielleicht steht er nun an derselben Stelle wie seine Urgroßeltern vor 80 Jahren auf jenem Bild.

Travis‘ Vater Gary ist über WhatsApp in Echtzeit bei der Spurensuche dabei. Er antwortet: „Crazy.” Auch „Uncle Mike“, der Ahnenforscher der Familie, ist online. Er machte die Verwandten in Israel ausfindig – via Facebook.

Der Spaziergang endet zum Aufwärmen in dem jüdischen Café Leonar. Warech sinkt in die rot gestreifte Couch mit dunkler Holzfassung und bestellt den koscheren Apfelkuchen. „Bei meinen Großeltern gibt es nur koscheres Essen”, erzählt er. Als Kind ging Travis auf eine hebräische Schule. Er bezeichnet sich aber nicht sehr religiös. 2009 nahm er mit dem US-Team in Israel an der Makkabiade teil, den jüdischen Weltsportspielen. In diesem Sommer war er bei der europäischen Variante des Events in Berlin dabei.

Gemeinsam mit Oma Alice hatte er nach dem College den deutschen Pass beantragt. „Der hilft meiner Basketballkarriere.” So fällt Warech in den Bundesligen nicht unter die Ausländerbeschränkung und könnte theoretisch sogar für Deutschland spielen. „Wenn sich die Gelegenheit ergibt – natürlich.” Das sieht er ganz professionell. Zum Abschied sagt Warech: „What a day!“

Einige Tage später. Noch eine Nachfrage bei Warech: Wie seine Familie in Montville, New Jersey, auf seinen Spaziergang reagiert habe? „Die meisten mochten es sehr, von unserer Familiengeschichte zu hören. Ich konnte sogar alles meiner Grandma über FaceTime erzählen.“ Welche Gefühle das alles ausgelöst habe, sei sehr persönlich. „Es bleibt in der Familie.”