Hamburg. Oke Göttlich, Präsident des FC St. Pauli, über das Worst-Case-Szenario und eine Umfrage unter den eigenen Fans.

Die Ungewissheit, wie es im deutschen Profifußball weitergeht, ist groß – kurz- und mittelfristig. Angesichts der aktuellen Entwicklung der Corona-Pandemie ist fraglich, ob die aktuellen Pläne, zum Teil wieder Zuschauer zu den Spielen der 1. und 2. Bundesliga zuzulassen, überhaupt realistisch sind. Oke Göttlich (44), Präsident des FC St. Pauli und Präsidiumsmitglied der Deutschen Fußball Liga (DFL) nimmt im Abendblatt-Interview Stellung zu den derzeit brennenden Fragen rund um den Profifußball in Deutschland und seinen eigenen Verein.

Hamburger Abendblatt: Herr Göttlich, wie groß ist Ihre Sorge, dass die aktuell wieder steigenden täglichen Neuinfektionen mit dem Coronavirus alle Überlegungen, Zuschauer teilweise wieder zu Spielen zuzulassen, obsolet werden lassen und die wirtschaftliche Situation sich weiter verschärft?

Oke Göttlich: Die Situation der steigenden Infektionszahlen ist für die gesamte Branche und auch den FC St. Pauli eine riesige Herausforderung. Wir wissen gar nicht, wohin die Reise bis Mitte September geht. Auf der anderen Seite nehmen wir den gesundheitlichen Schutz sehr ernst. Wir werden keine wilden Werke veranstalten und auf Teufel komm raus etwas versuchen, was andere gesundheitlich gefährdet. Wir besprechen in der eigens eingerichteten AG, der die betroffenen Geschäftsleiter, aber auch Vertreter der betroffenen Fans angehören, wie eine Rückkehr aussehen kann. Danach besprechen wir mit den lokalen Behörden, was realistisch möglich ist.

Welches Signal erwarten Sie von der Tagung der Gesundheitsminister am Montag?

Göttlich: Es ist ein beständiger Abwägungsprozess aller Beteiligter. Am Ende sind die lokalen Gesundheitsämter die wichtigsten Ratgeber bei der Datenanalyse und Nachverfolgung möglicher Infektionen.

Wie planen Sie überhaupt in dieser ungewissen Situation wirtschaftlich?

Göttlich: Seit März planen wir mit dem Worst-Case-Szenario, dass zumindest bis zum Ende der nächsten Hinserie keine Zuschauer zugelassen sein werden. Das ist eine sehr realistische Herangehensweise. Wir müssen, und das gilt nicht nur für den FC St. Pauli, bei sämtlichen Einnahmen einen deutlichen Minusfaktor einrechnen. Das ist für kaufmännische Betrachtungsweise einfach geboten. Wir planen definitiv mit Defiziten bei den Zuschauer- und TV-Einnahmen.

Wo liegt die kritische Grenze, bei der sich eine kostenintensive Öffnung des Stadions unter dem Strich nicht mehr rechnet?

Göttlich: Das hängt von so vielen Faktoren ab. Wir denken hier wirklich in alle Richtungen. Wenn aber nur eine Handvoll Leute ins Stadion kommen können und wollen, muss man die Frage ehrlich beantworten, ob wir und alle Beteiligten dies überhaupt wollen.

Wie wollen Sie in diesem Punkt eine Mehrheitsmeinung ermitteln?

Göttlich: Wir wollen unter unseren rund 15.500 Dauerkarteninhabern eine Umfrage platzieren, um festzustellen, wer überhaupt interessiert ist, ins Stadion zurückzukehren. Da haben wir dann eine Größenordnung, mit der wir inklusive des Hygienekonzepts zur Behörde gehen können. Das Wesentliche sind aber auch Punkte wie Sanitäreinrichtungen sowie die Ein- und Auslass-Situationen.

Apropos Fans: Wie viele haben auf Rückzahlungen bei den Tickets verzichtet?

Göttlich: Wir haben uns über die Resonanz und die Unterstützung gefreut.

Der Verein hat seit 2010/11 nur Gewinne in seiner Bilanz ausgewiesen. Wie sehr wird sich die Pandemie in der Saison 2019/20 niederschlagen?

Göttlich: Wir werden in diesem Jahr wahrscheinlich keinen Gewinn, aber auch keinen großen Verlust machen. Die kommende Saison wird richtig schwierig, das ist klar.

Ist das, finanziell gesehen, die schwierigste Situation ihrer Amtszeit?

Göttlich: Schlechte Zahlen sind immer sehr schwierig.

Sie haben sich ja in dem Positionspapier zu möglichen Reformen des deutschen Profifußballs intensiv auch über die künftige Verteilung der Einnahmen Gedanken gemacht. Wie geht es jetzt weiter?

Göttlich: Ich glaube, dass alle erkannt haben, dass wir, um es einmal maritim zu umschreiben, mit unserer Bundesliga-Fregatte richtig Leck geschlagen sind und es so nicht weitergeht.

Sehen Sie denn die Chance, dass in den kommenden Monaten etwas von Ihrem Positionspapier umgesetzt wird?

Göttlich: Eindeutig ja. Die Aussagen von der DFL-Spitze bis hin zu Vereinen wie auch Leipzig zeugen von der Bereitschaft, Veränderungen vorzunehmen.

Worum geht es Ihnen vor allem?

Göttlich: Wer in der Lage ist, ein Hygienekonzept für den Restart zu entwickeln, der muss auch in der Lage sein, für ein wirtschaftliches nachhaltiges Denken ein Vorreiter in Europa zu sein. Dem Fußball täte es sehr, sehr gut, über Regeln nachzudenken. Nehmen sie die USA: Dort findet sich das kapitalintensivste, kapitalistischste Sportsystem der Welt. Es verfügt aber auch über die strengsten Regeln. Wir hier in Deutschland generieren immer mehr Kapital durch neue Geschäftsideen und Finanzierungsmodelle, verweigern uns aber gewissen Regeln. Und die einzige Regel, die 50+1-Regel, versuchen wir zu verwässern, um noch mehr Kapital zu ermöglichen.

In den USA gibt es in den Ligen keine Auf- oder Absteiger...

Göttlich:...und was passiert bei uns in Deutschland? Hier sind wir auf dem Weg zu einem „closed shop“, einem geschlossenen System, durch die kalte Küche. Den Tabellenersten trennen vom Letzten auf der Einnahmeseite 1000 Prozent, in den USA sind es nur 23 Prozent. In der Bundesliga haben wir jetzt schon 14 Teams, die etabliert sind in der Bundesliga, dazu vier Auf- und Absteiger. Es kann nicht sein, dass es in der Regel unmöglich ist, sich als Zweitligist länger als zwei Jahre in der Bundesliga zu halten. Sie können gar nicht so viel Fremdkapital permanent nachschütten, um die finanzielle Lücke zu schließen. Und es ist wissenschaftlich belegbar, dass Geld am Ende doch Tore schießt. Das sage ich wohlwissend, dass der FC St. Pauli zu wenig aus seinen Möglichkeiten gemacht hat in den vergangenen Jahren.

Sehen Sie die Gefahr, dass die Attraktivität der deutschen Profiligen leidet?

Göttlich: Das ist sogar wissenschaftlich belegbar. Wir stehen in der Pflicht, etwas Neues zu entwickeln, was Begeisterung entfacht. Nur so können Sie etwas anbieten, was die Leute interessiert und für das sie bereit sind, dieses System mit ihrer Zeit und ihrem Geld auch weiterhin zu unterstützen.