Hamburg. Nach seinen ersten 100 Tagen als Cheftrainer spricht Markus Kauczinski über die Eigenarten des Kiezclubs, Jobträume und den HSV.
An diesem Freitag hat Markus Kauczinski (48) seinen 100. Arbeitstag als Cheftrainer des FC St. Pauli. Aus diesem Anlass nahm sich der gebürtige Gelsenkirchener Zeit, im Interview mit dem Abendblatt über seine Einstellung zu seinem Beruf zu sprechen und interessante Einblicke in sein Seelenleben zu gewähren.
Herr Kauczinski, für Politiker ist die 100-Tage-Marke etwas Besonders, wie schaut es bei Trainern aus?
Markus Kauczinski: Dann endet meine Probezeit, oder? (lacht)
Gefühlt ist die Zeit wie Flug vergangen. Konnten Sie für sich schon eine Zwischenbilanz ziehen?
Das stimmt, die Zeit verging wahnsinnig schnell. Langeweile kam bei mir wirklich nicht auf. Das ging alles Schlag auf Schlag. Ich habe Spiele, das Trainingslager, die Partien vorbereitet, anschließend nachbereitet. Zeit zum Durchschnaufen gab es noch gar nicht. So etwas wie Alltag ist bei mir erst aufgekommen, als ich in meine Wohnung gezogen bin.
Sind Sie nach dem Hotelleben nun so richtig in Hamburg angekommen?
Also morgens hat es schon Vorteile, im Hotel zu leben. So ein schönes Rührei zum Frühstück wusste ich schon zu schätzen. (lacht) Aber nein, Spaß beiseite. Es ist schön, jetzt in der Wohnung zu sein, nach Hause zu kommen, Musik zu hören, beim Fernsehen durchzuzappen, wobei ich im Moment lieber Serien über Netflix schaue.
Welche Rolle spielt Musik in Ihrem Alltag?
Also singen kann ich nicht, aber ich stehe morgens auf und mache sofort Musik an. Ich habe in allen Räumen Boxen verteilt und höre durch die Bank alles. Ich bin ein absoluter Musik-Freak.
Welches Bild hatten Sie vorher von Hamburg und welches jetzt nach 100 Tagen?
Es ist ja nicht so, dass ich Hamburg vorher nicht kannte. Wir hatten schon vorher hier Freunde. Ich war in Deutschland schon im Westen, im Süden und bin jetzt im Norden. Alles hat seinen Reiz. Ich kann nicht mal eine Reihenfolge erstellen. Hamburg war aber schon immer eine Stadt, bei der wir als Familie gesagt haben, dass wir uns gut vorstellen können, hier mal zu leben. Meine Frau ist öfter hier, mein Sohn seltener, der ist 19 Jahre alt und studiert in Karlsruhe.
Also hatten und haben Sie kein Hamburg-Trauma, nachdem sie 2015 mit dem Karlsruher SC die Relegation gegen den HSV verloren haben?
Das habe ich nie als Trauma empfunden. Es war schon ein Riesenerfolg, mit dem KSC und den Mitteln, die wir damals hatten, überhaupt bis in die Relegation gekommen zu sein. Die Enttäuschung war natürlich da, aber ich hatte das Gefühl: wo gibt es ein Spiel, an das sich die Leute auch zehn Jahre später noch alle erinnern? Wie viele Spiele geraten irgendwie in Vergessenheit, aber bei diesem Spiel werden die Leute immer sagen: Weißt du noch damals? Dieses Duell wird mich mein Leben lang begleiten. Es war ein großes Spiel, aber ich sehe es nicht negativ. Gut, den Aufstieg hätte ich schon gerne mitgenommen, aber diese Partie gegen den HSV bleibt für die Ewigkeit.
Hat sich das Bild, das sie vom FC St. Pauli hatten, bestätigt?
Du hast vorher natürlich eine Außenansicht. Man sieht die Fans, das Spiel, den Wettkampf. Jetzt sehe ich das Innenleben mit den engagierten Mitarbeitern der Geschäftsstelle mit der Infrastruktur, die hier vorhanden ist. Die Geschichte des Vereins finde ich sehr interessant, wo man herkommt, was der Club bedeutet. Hier ist alles überschaubar, von den Abläufen, den Strukturen, der Geschäftsstelle. Alles ist hier klein, aber fein. Ich mag das, wenn es nicht so aufgeblasen ist. Es gibt aber auch noch Potenzial, Dinge zu verbessern. Das sieht Sportchef Uwe Stöver genauso.
Wie bewerten Sie die Infrastruktur? Sie mussten zuletzt drei Wochen auf Kunstrasen trainieren, weil die Plätze ob des strengen Winters nicht bespielbar waren.
Man kann damit leben, aber es ist natürlich ausbaufähig. Wir messen uns nicht mit Bayern München, aber es gibt auch in der Zweiten Liga Clubs, die dahingehend eine bessere Infrastruktur haben. Das erkennen auch hier alle und jetzt gehen wir es an.
Angehen ist ein gutes Stichwort. Inwieweit haben wir schon Markus-Kauczinski-Fußball beim FC St. Pauli gesehen?
Es ist schwer, weil die Spieler den Rahmen vorgeben und es nicht darum geht, was ich will. Wenn ich mir Bayern München oder Spiele in der Champions League anschaue, denkt man sich: Oh, so kann also auch Fußball sein und du weißt, dass du es nicht eins zu eins hier umsetzen kannst. Du siehst in den Spielen Ideen und Philosophien, aber stößt natürlich auch an Grenzen. Ich habe immer eine individuelle Ausrichtung, an dem was die Leute können. Vom Einsatz her und wie wir miteinander umgehen, sehe ich schon sehr viel von dem, was ich mir vorstelle. Das kriegt man vielleicht nach außen nicht immer so mit. Wir wechseln bei einigen Spielern die Position, und ich sehe, wie die Jungs das mittragen, sich unterstützen. Keiner zieht sich zurück. Ich sehe, wie die Spieler mit Niederlagen umgehen, wie sie wieder aufstehen. Es ist nicht alles perfekt, da passieren Fehler, aber die Jungs machen weiter. Wir haben noch viel Potenzial im spielerischen Bereich, ich weiß aber auch, dass das jetzt nicht die Zeit ist, das herauszukehren. Die Böden, das Wetter. Das ist keine Feinspielzeit. Jetzt ist die Zeit, in der man kämpft, die Ärmel hochkrempelt. Es wird auch die Zeit kommen, in der wir besser Fußball spielen werden. Es ist noch nicht komplett so, wie ich mir das vorstelle, aber so ist es immer. Es ist immer im Fluss, mal entwickelt sich was, dann bleibt man stehen oder entwickelt sich auch mal zurück. Fußball ist wie das wahre Leben. Es ist immer ein Auf und Ab.
Mit Widrigkeiten kennen Sie sich hier ja aus. So viele Verletzte, wie Sie zu beklagen haben.
Wir können auf Ausfälle reagieren. Plötzlich ist ein Waldemar Sobota weg, dafür ist Richard Neudecker da, den wir stark gemacht haben. Luca Zander fällt drei Wochen aus und plötzlich ist Yiyoung Park da. Noch vor vier Wochen hätten wir hier einen Herzinfarkt bekommen bei den vielen Ausfällen und gedacht: Oh Gott, was machen wir jetzt? Wir haben eine starke zweite Reihe aufgebaut.
Wie würden Sie ihren Führungsstil beschreiben? Trainer werden ja gerne in Schubladen gesteckt. Verraten Sie uns, in welche Sie passen?
Es passt einfach nicht, dass man mich in eine Schublade steckt. Jeder hat so viele Facetten und Dinge, die andere Leute gar nicht sehen. Ich bin emotional, wenn es angebracht ist, rational, wenn es nötig ist. Im NDR Sportclub haben mich meine Spieler als autoritär beschrieben und ich dachte mir: Sehe ich mich überhaupt so? Finde ich mich dort wieder? Das war interessant, die Sicht der Spieler zu bekommen, die sich von der eigenen unterscheidet.
Also sind Sie gar nicht autoritär?
Na ja, eigentlich trifft es das schon. Ich bin autoritär, weiß aber auch, wann ich mal die Zügel schleifen lassen und wann ich wegschauen muss. Für mich ist es so, dass die Extreme irgendwann nicht mehr greifen. Wenn man immer nachlässig ist, ist es nicht gut, wenn man immer streng, hart und unnachgiebig ist, ist es auch nicht gut. Für mich macht die Dosis das Gift. Ich versuche hart zu sein, wenn es nötig ist und menschlich und nachgiebig, wenn es angebracht ist. Ich versuche das immer nach einer Alltagsethik zu händeln, wie ich es für richtig halte, wie ich behandelt werden will, so versuche ich auch die anderen zu behandeln. Da steckt auch meine Lebensphilosophie dahinter.
Erklären Sie uns bitte ihre Lebensphilosophie.
Für mich ist es wichtig, dass jeder gerne zur Arbeit kommt. Nur dann kann man seine Leistung bringen und sich weiterentwickeln. Ich versuche ein Klima zu schaffen, bei dem ich einerseits eingreife, wenn mir etwas nicht gefällt, den Jungs aber auch genügend Freiraum lasse, um sich zu entwickeln. Es ist manchmal ein schmaler Grat: Wann musst du eingreifen und Planken setzen und wann ist es wichtig, dass sich der Einzelne entwickeln und seine eigenen Dinge machen kann? Das versuche ich umzusetzen, sodass die Jungs gerne hierherkommen. Ich jedenfalls komme immer gern zur Arbeit.
Wie äußert sich das?
Ein Indikator dafür ist immer die Fahrt von Karlsruhe nach Hamburg. Das sind 630 Kilometer, sechs Stunden Fahrt und ich hatte nicht einmal das Gefühl: Man, ist das aber eine lange Strecke. Ich stehe morgens um vier Uhr auf, damit ich um zehn Uhr an der Kollaustraße bin, wenn wir nachmittags trainieren. Während der ganzen Fahrt denke ich: Geil, dass es wieder weitergeht. Das ist ein Zeichen, dass alles gut ist.
Gefühlt wird der Fußball immer wissenschaftlicher. Können Sie etwas mit dem Begriff Konzepttrainer oder Laptoptrainer anfangen? Oder machen wir den Sport komplizierter als er ist?
Ich mag es nicht, den Fußball so aufzublasen. Natürlich stecken Taktiken und Techniken dahinter, aber manchmal läuft man Gefahr, mehr daraus zu machen, als es ist. Ich versuche es für die Spieler einfach zu halten. Ich habe eine heterogene Gruppe. Vom 18-Jährigen bis zum 30-Jährigen. Derjenige, der gerade Deutsch lernt, muss es verstehen, genauso dürfen sich andere nicht unterfordert fühlen. Ich muss mein Training und meine Ansprache so halten, dass es jeder versteht. Ich sage auch ganz ehrlich, dass die Jungs nicht alles wissen müssen, was ich weiß. Manchmal hilft Hintergrundwissen – aber eben auch nicht immer. Ich versuche einen Mix zu finden aus Anweisen und Verstehen und Sehen und Verstehen. Das, was sie verstehen müssen, versuche ich auf dem Platz zu zeigen, dass man es selber erfahren kann. Da ist nicht viel Gerede. Ich möchte meine Spieler auch nicht mit zu vielen Details aus dem Fußballlehrer-Lehrgang überfordern – das ist eine ganz andere Sprache. Ich muss die gelernte Struktur und Ordnung so übertragen, dass meine Jungs das zügig umsetzen können. Fußball ist schnell und einfach. Da kannst du nicht groß schwadronieren, da kommt schon der nächste Moment. Manchmal muss ich die Struktur schaffen, aber wenn sie da ist, geht es schnell und einfach.
Apropos einfach. Wenn man sich die Zweite Liga anschaut, könnte man meinen, es wäre so einfach wie nie, in die Bundesliga aufzusteigen. Ärgert es Sie sehr, dass Sie es verpasst haben, den Anschluss nach oben zu halten?
Es ist immer gleich schwer, aufzusteigen. Wenn du die Teams oben fragen würdest, würden sie sicher nicht sagen, dass es einfach ist. Man hat die Vermutung, dass diese Saison keine Topteams mit Riesen-Etats dabei sind und es deshalb leichter ist. Letztes Jahr war Stuttgart mit einem Etat von 35 Millionen Euro in der Liga, und der Rest hatte vielleicht zehn Millionen. Man vermutet dann, dass es schwerer ist. Es ist wirklich krass, dass es so ein großes Tabellenmittelfeld gibt. So extrem habe ich das noch nie erlebt. Ob das ein Zeichen von Stärke oder Schwäche der Liga ist, kann ich gar nicht sagen. Es gibt Argumente für beide Seiten, eine abschließende Beurteilung zu finden ist trotzdem schwer. Die Zweitliga-Aufsteiger sind wirklich stark, aber das hat sich in den letzten Jahren schon herauskristallisiert, dass du mit einer eingespielten Mannschaft eine gute Rolle spielen kannst. Automatismen sind vorhanden, dazu die Euphorie. Du hast kaum schwache Teams. Duisburg, Regensburg und Kiel bereiten den Etablierten Probleme, die dann vielleicht einen Umbruch haben, Trainerwechsel, neue Ideen. Dann ist es für diese Teams schwer. Das Niveau ist so gut geworden, dass jeder jeden schlagen kann. Ich habe der Mannschaft gesagt, dass in beide Richtungen alles möglich ist. Wo ist die Überfliegermannschaft, die fünf Mal hintereinander gewinnt? Genauso kann es jeden treffen, dass er dreimal in Folge verliert, und es ist noch alles drin. Das macht es so interessant.
Wie viele Punkte braucht man, um sicher in der Liga zu bleiben?
Das wäre Spekulation. Ich habe gelesen, dass 40 Punkte immer reichen, aber wenn ich sehe, dass Aue bereits 30 Zähler hat und noch acht Spiele zu spielen sind, glaube ich, dass man mindestens 40 oder sogar mehr Punkte braucht. Statistisch haben in den letzten Jahren 36,5 Punkte gereicht, aber dieses Jahr wirst du mehr benötigen.
Glauben Sie, dass die Mannschaft befreiter aufspielen kann, wenn diese Marke erreicht ist?
Das denke ich schon. Ich glaube, dass würde dem Team einen Ruck geben und die Köpfe befreien. Jeder hat die Marke im Hinterkopf, und deshalb ist jeder Punkt wichtig. Man darf das nie unterschätzen. Das spielt eine Rolle.
Wie nehmen Sie die vielen Trainerwechsel im bezahlten Fußball wahr? Inwieweit ist der Trainerjob noch ein Traumberuf?
Ich habe eine Statistik gelesen, dass nahezu alle Bundesligisten und Zweitligaclubs in den letzten 18 Monaten den Trainer gewechselt haben. Das gehört anscheinend dazu. Für mich ist es immer noch das Einzige, was ich richtig kann. Wenn man sich dazu entscheidet, das zu machen, dann muss man auch mit den Konsequenzen leben. Mit dem Weggang aus Karlsruhe und der Entscheidung, meinen Vertrag nicht zu verlängern, haben wir eine Familienentscheidung getroffen, wohl wissend, dass das unser Leben verändert. Auch der Wechsel von Gelsenkirchen zum KSC hat mich mit 31 Jahren damals menschlich und in Sachen Erwachsenwerden weitergebracht. Neue Leute kennenlernen, sich im neuen Umfeld beweisen zu müssen, mit Frau und Kind im neuen Umfeld klarkommen. Das hat uns alle weitergebracht. Auch jetzt hat der Wechsel nach Hamburg neue Energie freigesetzt – da steckt unheimlich viel drin in diesen Jobs, selbst wenn es beendet wird. Ich schätze und liebe diesen Job, auch wenn er manchmal wehtut. Es gibt in diesem Beruf extreme Freude, aber eben auch extremen Stress. In dem Jahr, als ich ohne Job war, habe ich gemerkt, dass mir etwas fehlt. Es ist gut, mal drei Monate oder ein halbes Jahr nichts zu machen, aber dann merkt man, dass dieser Kick fehlt, dieses gewinnen wollen, besser sein als der Gegner. Das ist ein Antrieb. Ich kann mir aktuell nicht vorstellen, einen anderen Job zu machen.
Gab es nie den Moment, in dem Sie sich einen anderen Beruf hätten vorstellen können?
Doch, den gab es schon. Ich habe mich gefragt: Ist es wirklich das, was du machen willst? Aber die Frage habe ich klar für mich mit ja beantwortet.
Hatten Sie einen Plan B in der Tasche?
Man spinnt so vor sich hin. Fast jeder will irgendwo mal ein Café aufmachen. So eine Träumerei ist auch nie ganz vom Tisch, das hängt sicher auch mit dem Alter zusammen, ob man noch mal umsatteln möchte. Aber in meinem Job gibt es noch viel zu erleben, so viele Abenteuer und Herausforderungen die auf einen warten. So richtig was anderes habe ich auch nie gelernt. Ich bin Diplomsportlehrer mit Abschluss. Als ich fertig war mit dem Sportstudium, war es schwer, an einer Schule mit nur einem Fach anzufangen. Die Schulen haben dich ohne zweites Fach aus Kostengründen nicht genommen. Heute wäre das wohl anders. Das könnte ich mir vorstellen. Ich arbeite gerne mit Kindern und Jugendlichen. Das hat mir immer Spaß gebracht. Ich empfinde meinen Job als Fußballtrainer aber als Herausforderung. Solange es familiär passt und alle glücklich sind, gibt es doch nichts Schöneres.
Wünschen Sie sich grundsätzlich eine größere Wertschätzung des Trainerberufes durch die Vereinsführungen?
Das kann ich so nicht unterschreiben. Jeder, auch die Vereinsführungen, haben ihre Verantwortung. Da kommt es dann eben mal zu dem Punkt, dass man sagt, es passt nicht mehr, oder wir haben es uns anders vorgestellt. Das Gleiche tue ich ja mit Spielern auch. Es ist letztlich eine Verantwortung, die jeder Arbeitgeber hat, nämlich zu hinterfragen, ob der richtige Mann an der richtigen Stelle arbeitet. Im Profifußball geht es halt manchmal etwas schneller als in anderen Branchen. Es ist eine große Herausforderung für einen Trainer, auf längere Zeit und unter ständigem Erfolgsdruck mit seiner Mannschaft menschlich und harmonisch umzugehen. Da kann man schon mal an seine Grenzen stoßen. Der Trainerjob ist wie ein Managerposten. Man wird an Ergebnissen gemessen und nicht daran, dass man vielleicht ein lieber Kerl ist. Es sind die gleichen Regeln. Ich habe damit meinen Frieden gemacht.
Wie gehen Sie mit Erfolgsdruck um? Das Thema ist ja seit dem bemerkenswerten Interview von Per Mertesacker wieder sehr aktuell.
Den Druck empfindet jeder anders. Dazu gehört eine Lebensphilosophie und eine Entscheidung, wie ich damit umgehe, wenn es nicht so läuft. Für mich kann ich sagen, dass ich alles nach bestem Wissen und Gewissen tue. Mit meinem Fleiß, Einsatz und Ehrgeiz tue ich alles, dass ich in den Spiegel schauen kann. Trotzdem kommt es dazu, dass es nicht so läuft, dass der Gegner vielleicht besser ist, oder es Unwägbarkeiten gibt. Dann fragt man sich, was hast du getan und was hast du nicht getan. Manche Niederlagen waren auch verdient und unausweichlich. Ich analysiere anschließend, wo die Mannschaft steht, was sie hätte besser machen können und was ich hätte verändern können. Dann hake ich das ab. Das ist eine rationale Geschichte. Die emotionale Seite gehe ich so an, dass ich sage, es gehört einfach zu dem Job dazu. Wenn ich damit nicht klarkomme, kann ich den Job nicht ausführen. Wenn ich vor Druck und Angst nicht in den Schlaf komme, bin ich für diesen Job nicht gemacht. Wenn die eigene Gesundheit oder auch die Familie darunter leidet, ist der Punkt gekommen, dass ich etwas Anderes machen muss. Beim Spiel stecke ich auch nicht in jeder Aktion drin. Ich bin nicht für alles, was die Spieler auf dem Platz machen, verantwortlich – aber ich trage dafür die Verantwortung. Damit muss ich leben und klarkommen. Ich habe gelernt, die Dinge zu Hause abzustreifen und kann auch abschalten.Ich empfinde es als meine absolute Stärke, mit Niederlagen umzugehen, dabei die Ruhe zu bewahren und zu analysieren, was trotzdem gut war. Umgekehrt ist auch bei Siegen nicht immer alles gut. Oftmals entscheidet ja nur ein Moment ein Spiel.
Wie sieht Ihr Alltag abseits der Trainingsanlage aus?
Ich führe ein ganz normales Leben. Ich gehe einkaufen und koche zu Hause. Das ist mir auch wichtig. Manche Leute können sich das gar nicht vorstellen. Ich bin schon angesprochen worden, dass ich selbst einkaufe. Ich habe dann im Scherz gesagt, dass meine Bediensteten heute frei haben (lacht). Dieser Alltag abseits des Fußballs ist mir auch ganz wichtig.
Sie haben als eine Art Streetworker Ihre Trainertätigkeit angefangen. Hilft das heute, einzuordnen, was wirklich wichtig ist?
Ich habe damals Dinge gelernt, von denen ich heute immer noch zehre. Der Begriff Streetworker ist aber etwas übertrieben. Es war in Gelsenkirchen-Ückendorf eben ein kleiner Verein mit einer sehr gemischten gesellschaftlichen Struktur. Um die Jungs hatte man sich damals nicht so gekümmert, wie das oft bei solchen Vereinen ist. Mir hat die Aufgabe Spaß gemacht. Ich habe dabei gelernt, dass in jedem etwas Gutes steckt. Viele dieser Jungs waren auf sich allein gestellt, die mussten in ihrem sozialen Umfeld kämpfen, um überhaupt in ihrem Leben zurechtzukommen. Das hat mir geholfen, das Leben zu verstehen. Die Jungs brauchten Unterstützung, manchmal reichte es auch schon, einfach nur da zu sein. Es hat Spaß gemacht, auch etwas zurückzubekommen. Ich habe gelernt, dass es sich lohnt, sich mit jedem zu beschäftigen. Das ist bis heute geblieben, das hat mich geprägt.
Wie waren Sie als aktiver Fußballer?
Ich war klein und dünn und ein Techniker. Klein bin ich immer noch (lacht). Von Fortuna Gelsenkirchen, also einem kleinen Verein, bin ich zu den Amateuren des VfL Bochum gewechselt. Das war schon das Sprungbrett, um vielleicht Profi zu werden. Aber nach einem halben Jahr habe ich gemerkt, dass der Weg weit ist. Ich habe nicht gedacht, dass ich es von der Athletik her schaffe. Daraufhin musste ich mich entscheiden. Ich habe Sport studiert und arbeitete dazu bei einer Bank und einer Marketingfirma und bin nebenher auch noch als Trainer tätig gewesen, um über die Runden zu kommen. Ich bin morgens um sieben Uhr aus dem Haus gegangen und abends um neun nach dem eigenen Training zurückgekommen.
Das klingt sehr klar strukturiert. Gibt es auch den wilden Markus Kauczinski?
Ich bin eigentlich gar nicht so durchgeplant und strukturiert. Im Grunde bin ich ein absoluter Gefühls- und Bauchmensch. Ich habe aber lernen müssen, dass mich Struktur weiterbringt. Ich war immer sehr selbstkritisch, habe auf Trainer geschaut, die erfolgreich waren, und mich dann gefragt, was hat der, das ich nicht habe. Ich habe mir viel angeschaut und angelesen. So habe ich angefangen, meine Schwächen zu bekämpfen. In der Jugend konnte ich auch viel ausprobieren, wie etwa verschiedene Systeme. Ich habe alle möglichen Theorien ausprobiert und mich so selbst entwickelt. Grundsätzlich bin ich nicht der Ordnungsfreak. Zu Hause ist das meine Frau und hier beim FC St. Pauli unser Co-Trainer Markus Gellhaus.
Haben Sie das Gefühl, sich als Trainer im Laufe der Zeit verändert zu haben?
Ja, anfangs war ich immer so mittendrin,also mehr der Kumpeltyp als der Autoritäre. Ich habe dann aber gemerkt, dass ich meine Spieler damit nicht weiterbringe und es der Sache nicht hilft. Daraufhin habe ich eine Grenze gezogen und mir gesagt, dass ich anders sein muss, damit die Jungs besser lernen können. Daher gab es eine Wesensveränderung bei mir, allerdings nur beruflich. Meine Frau erkennt mich noch immer.