Hamburg. Abendblatt-Gespräch und Testspiel mit den St.- Pauli-Torjägern Aziz Bouhaddouz und Blindenfußballer Jonathan Tönsing.
Aziz Bouhaddouz war fertig. Nach dreieinhalb Minuten. Vorgeführt wurde er, nass gemacht, ausgespielt. 0:3 – der Toptorschütze des FC St. Pauli hatte in dem kleinen Testspiel keine Chance – gegen den Toptorschützen des FC St. Pauli. Jonathan Tönsing, 17 Jahre alt, spielt in der Blindenfußballmannschaft der Hamburger, die vergangene Saison Platz drei in der Bundesliga belegten. Er ist der „Lewandowski“ der Blindenliga, Torschützenkönig, mit 15 Treffern, so viele wie auch Bouhaddouz bislang erzielte.
Seit viereinhalb Jahren kickt Tönsing den Klingelball, sicher führt er die Kugel zwischen den Füßen, kaum vorstellbar, dass er überhaupt nichts sieht. Von Geburt an ist er vollständig blind, dennoch besucht er die 10. Klasse der Heinrich-Hertz-Stadtteilschule gemeinsam mit Sehenden.
Das Abendblatt bat die beiden St.- Pauli-Torjäger zu einem Gespräch über das Toreschießen und einem kleinen Testspiel auf den Sportplatz des Bildungszentrums für Blinde und Sehbehinderte am Borgweg. Verdunklungsbrille auf, Tönsing nahm seinen sehenden Kollegen an die Hand, völlig ohne Berührungsängste, auf Augenhöhe von Stürmer zu Stürmer. Dann ging’s los.
Wie war’s?
Aziz Bouhaddouz : Puh. Ich wusste ja vorher, dass es nicht einfach wird. Es war sehr anstrengend. Ich hatte komplett keine Orientierung. Als ich den Ball hatte, wollte ich einfach an ihm vorbei. Aber er macht das ja schon ein paar Jahre. Da hatte ich keine Chance. Aber es hat wirklich super Spaß gemacht.
Jonathan Tönsing: Er hat das super gemacht. Wir hatten schon Anfänger, die das nicht so gut hingekriegt haben. Er war gut. Man merkt auch, dass er das Gefühl für den Ball hat.
Herr Bouhaddouz, wussten Sie, dass es Blindenfußball beim FC St. Pauli gibt?
Bouhaddouz: Ja, das habe ich schon vorher mal mitbekommen. Ich finde es großartig, wenn man auch nie aufgibt. Ich bin deshalb auch gerne hierhergekommen, um mir das mal anzusehen.
Jonathan, wissen Sie immer ganz genau, wo das Tor steht?
Tönsing: Ja, der Guide ruft hinter dem Tor, aber ich habe mittlerweile eine gute Orientierung, weiß meist schon, wie weit ich noch vom Tor weg bin.
Bouhaddouz: Manchmal haue ich einfach drauf und gucke nicht, wo das Tor ist. Aber grundsätzlich muss ich schon eine Orientierung haben, auch wenn ich manchmal vergesse, wo das Tor ist.
Tönsing: Ha, ich auch.
Bouhaddouz: Ich denke, dass die Jungs es noch viel schwieriger haben.
Bei der Abschlusssituation vor dem Torschuss, ist da viel Instinkt dabei?
Bouhaddouz: Ja, glaube ich. Ich denke nicht viel über den Torschuss nach.
Tönsing: Wenn ich zu viel nachdenke, haue ich ihn noch viel schlechter drauf.
Bouhaddouz: So sieht’s aus.
Tönsing: Man muss schon instinktiv handeln. Das ist dann auch für alle überraschender, auch für den Torhüter.
Sind die Nerven vor dem Tor für Sie noch ein Faktor?
Tönsing: Das kommt bei mir wie bei vielen Stürmern immer mal vor, dass man aus Nervosität einen danebenhaut.
Bouhaddouz: Es ist tatsächlich so: Wenn man denkt, die Chance ist einfach, dass man genau in dem Moment etwas an der nötigen Konzentration verliert. Das geht nicht; sieht man aber auch bei Topstürmern in ganz Europa. Deshalb sind manchmal die leichten Chancen eher die schwierigen.
Jonathan, Sie haben seit Jahren eine Dauerkarte und sind oft live im Stadion. Wie verfolgen Sie die Spiele?
Tönsing: Wenn ich Zeit habe, bin ich auf den Hörplätzen auf der Gegengeraden, wo wir von den Audiosprechern über Kopfhörer erklärt bekommen, was auf dem Spielfeld passiert.
Was hatten Sie für eine Vorstellung, was Aziz für ein Typ ist?
Tönsing: Ich wusste, dass er deutlich größer ist als ich – aber das ist keine Kunst. Im Spiel merkt man schon, dass er ein durchsetzungsstarker Spieler ist. Das kann man sich durch die geschilderte Situation erschließen.
Wann haben Sie beide gemerkt, dass Ihre Stärke das Toreschießen ist?
Tönsing: Ich war immer einer, der die Ballkontrolle mochte und bin da auch ganz gut drin. Mit dem Ball agieren ist immer noch meine Stärke. Mir war immer klar, dass aus mir nicht so der richtig gute Verteidiger wird.
Bouhaddouz: Ich habe es mal als Torwart versucht, in der Kreisliga. Da habe ich zehn Buden bekommen, deshalb habe ich das aufgegeben. Ich wollte dann gern den Zehner spielen. Aber ehrlich: Ich bin nicht so begabt als großer Techniker. Dann habe ich gedacht: Okay, schieß ich lieber die Tore.
Man sagt, Stürmer müssen hingehen, wo es wehtut. Haben Sie Angst vor harten Zweikämpfen? Gerade im Blindenfußball kann doch viel passieren, oder?
Tönsing: Ich versuche den Gedanken daran abzustellen. Aber wir haben in der Liga auch große Kolosse, so 110-Kilo-Männer. Da war am Anfang schon Respekt vor den Zweikämpfen da.
Bouhaddouz: Man muss aggressiv in die Zweikämpfe gehen, aber auch wissen, dass man fair dabei sein muss. Ellenbogen raus oder gestrecktes Bein sollte man lassen. Aber sonst gehe ich gerne in die Zweikämpfe, das ist mein Spiel.
Wie fühlt es sich an, wenn der Ball drin ist?
Tönsing: Ich mache meine Tore ja nicht für mich, sondern dafür, dass wir als Team erfolgreich sind. Aber natürlich ist es ein schönes Gefühl zu wissen, dass man die meisten Tore in der Liga geschossen hat. Aber man macht das wirklich für die Mannschaft.
Bouhaddouz: Ich glaube, Jonathan hat schon alles gesagt.
Sie sind beide dieses Jahr in die Nationalelf berufen worden. Ein Traum?
Tönsing: Das ist was ganz Besonderes. Jetzt hoffe ich, dass ich es in den Kader für die EM im August schaffe. Auch das erste Tor für Deutschland war ein spezieller Moment. Das war übrigens gegen Marokko
Bouhaddouz: Ha, das wird ja immer besser. Als ich das erste Mal im endgültigen Kader stand, konnte ich es kaum aushalten. Das ist für jeden Spieler ein Traum für das eigene Land zu spielen, deshalb war ich natürlich sehr stolz. Und ich hoffe sehr, dass wir es schaffen, uns für die WM 2018 zu qualifizieren.
Shakehands, eine sportliche Umarmung. Aziz Bouhaddouz war beeindruckt und lud Tönsing mit seiner Familie zum nächsten Heimspiel ein. „Ich habe echt was gelernt – und ich glaube, ich möchte mal wiederkommen, wenn die Jungs in der Bundesliga spielen.“