Hamburg. Geschäftsführer gibt Posten des Sportchefs auf – und zieht eine trotz des Klassenerhalts ernüchternde Bilanz. Sahin-Poker vor dem Ende.
Es ist der erste Frühlingsmorgen seit Wochen in Hamburg, die Cafés rund um das Millerntor-Stadion sind gut besucht. Andreas Rettig genießt die Sonnenstrahlen durch die großen Panoramafenster seines Büros im ersten Stock der Südtribüne. An Arbeit mangelt es dem Sportdirektor des FC St. Pauli in einer Saison voller Höhen und Tiefen nicht. Der 54-Jährige macht keinen Hehl daraus, dass er froh ist, dass der Klassenerhalt zwei Spieltage vor Ende der Fußball-Zweitligasaison geglückt ist; in die allgemeine Jubel-Trubel-Heiterkeits-Stimmung rund um den Kiezclub will er aber nicht einstimmen. „Ich bin nicht zufrieden“, sagt Rettig mit Nachdruck in der Stimme. „Wir haben in der Geschichte des Vereins den höchsten Etat im sportlichen Bereich zur Verfügung gestellt bekommen, und da muss das Ziel ein anderes sein als nur der Klassenerhalt“, sagt der gebürtige Rheinländer.
„Wir haben Schadensbegrenzung betrieben“
Zu sehr ärgert ihn nach wie vor die erschreckend schwache Hinrunde, als der Klassenerhalt mehr ein frommer Wunsch als ein realistisches Ziel war. „Wir haben Schadensbegrenzung betrieben. Das verdient besonderen Respekt, weil das eine fast ausweglose Situation war. Unser Hinrundengesicht habe ich jedoch nicht vergessen. Da können wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.“ Nach dem letzten Spiel beim VfL Bochum in zehn Tagen soll die große Analyse folgen. Alles wird auf den Tisch kommen, die Defizite in aller Deutlichkeit angesprochen werden. So eine Saison möchte niemand auf St. Pauli ein weiteres Mal erleben.
„Präsidium, Geschäftsführung und Trainerteam sind verabredet, Bilanz zu ziehen. Dann werden wir schauen, was wir besser und anders machen können. Da wird alles auf den Prüfstein gestellt. Aber bevor es zu Spekulationen kommt: Eine Entlassung von Ewald Lienen ist in unseren Gedankenspielen nicht vorgesehen“, sagt Rettig.
Lienen Frühstücksdirektor? Rettig dementiert
Nicht auszuschließen ist aber, dass sich im sportlichen Bereich neue Konstellationen ergeben. Erhält Lienen einen neuen Posten, oder bleibt er Cheftrainer? St. Paulis Sportchef huldigt die Verdienste von Lienen und des im November 2016 verpflichtete Co-Trainers Olaf Janßen. Das gute Zusammenspiel der beiden, sagt Rettig, hatte maßgeblichen Anteil am Klassenerhalt. Auch weil es kein internes Kompetenzgerangel gab.
„Es darf nicht der Eindruck entstehen, der Cheftrainer sei nur noch der Frühstücksdirektor. Dann kann man den Laden dicht machen“, betont Rettig: „Dass Ewald sich am Ende nicht im Jahrmarkt der Eitelkeiten befindet, sondern vielmehr sagt: ,Zu Janßen konnte ich sofort ein Vertrauensverhältnis entwickeln’, spricht für ihn. Das zeigt Lienens Größe.“ Ob das neue Erfolgsduo auch in der neuen Saison weiter zusammen an der Seitenlinie agiert? Abwarten!
Göttlich und Pawlik suchen Sportchef
Sicher ist hingegen, dass Rettig, wie bei seiner Inthronisierung im vergangenen Winter angekündigt, seinen Posten als Sportchef wieder räumen wird. Präsident Oke Göttlich und Aufsichtsrat Joachim Pawlik führen derzeit Gespräche mit Kandidaten. Einen Schnellschuss wird es nicht geben. Die bevorstehende Transferperiode wickeln Rettig, das Trainerteam und die Scoutingabteilung noch gemeinsam ab.
„Es ist klar, dass wir die Hände nicht in den Schoß legen. Der Markt ist in Bewegung, da müssen wir handlungsfähig sein“, sagt Rettig, der zwar durchaus Spaß an dem Job hatte, jedoch froh ist, die Mehrfachbelastung künftig nicht mehr bewältigen zu müssen. „Ich habe mich manchmal schon erschrocken, wenn ich Bilder von mir gesehen habe. Da dachte ich mir: Dieser alte Mann gehört nicht neben die Spielerbank, sondern auf die Tribüne.“
Sahin soll fest verpflichtet werden
Rettig mag es eben lieber, im Hintergrund zu agieren und heimlich still und leise die Baustellen zu bearbeiten. Erste personelle Entscheidungen sind bereits vor dem Saisonfinale gefallen. Vor dem letzten Heimspiel am Sonntag (15.30 Uhr/Sky) gegen Greuther Fürth werden die beiden Leihspieler Lennart Thy (Werder Bremen) und Mats Möller Daehli (SC Freiburg) offiziell verabschiedet.
Anders hält sich die Situation bei Cenk Sahin. Der von Basaksehir Istanbul ausgeliehene Türke steht unmittelbar vor einem dauerhaften Engagement bei St. Pauli. In Kürze wird Rettig dem Aufsichtsrat das Transferpaket vorgelegen. Die Ablösesumme beträgt rund eine Million Euro. „Wir wollen Cenk gerne behalten, wir sind sehr zufrieden mit ihm.“ Die Verhandlungen mit Daniel Buballa und Sören Gonther, deren Verträge am 30. Juni auslaufen, gehen unterdessen weiter. „Der Ausgang ist offen“, bestätigt Rettig.
Nicht mehr offen ist die Personalie des an Holstein Kiel verliehenen Stürmers Marvin Ducksch. „Wir sind im ständigen Kontakt mit ihm und haben uns sehr gefreut, dass er in Kiel zur alten Stärke zurückgefunden hat. Er wird uns nächste Saison wieder viel Freude bereiten“, hofft Rettig.
Es geht noch immer ums Fernsehgeld
Zu alter Stärke will St. Pauli in der neuen Saison auch tabellarisch finden. Das Fundament der Mannschaft steht, das Gebilde ist in sich stabil. Rettig lobt vor allem, wie sich die Spieler mit der schwierigen Aufgabe identifiziert haben. Bester Beleg dafür: Als St. Pauli im Winter tief in der Krise steckte, bekannte sich der von vielen Clubs umworbene Jeremy Dudziak zum Club. Der Linksverteidiger wäre mit in die Dritte Liga gegangen, obwohl er bei einem Abstieg ablösefrei gewesen wäre. Auch Torwart Philipp Heerwagen ließ keine Zweifel an seiner Loyalität.
Im Saisonendspurt kann für St. Pauli im Idealfall sogar noch Platz fünf herausspringen. Das wäre für die Fernsehgeldtabelle Gold wert, mindestens eine halbe Million Euro, maximal zwei Millionen. „Wenn wir am Ende in der Region sechs, sieben, acht landen, dann ist das eine zufriedenstellende Bilanz“, sagt Rettig. Aber eben keine, die rundum glücklich macht.