Verteidiger Sebastian Schachten spricht im Interview über den Traum vom Aufstieg, das St.-Pauli-Gen und warum er eine Dauerkarte bei Hagenbecks Tierpark hat. Das Spiel gegen Ingolstadt gibt es ab 13 Uhr im Liveticker.

Hamburg. Sebastian Schachten hat gute Laune. Die Sonne scheint, das Training ist erfolgreich beendet und ein Besuch im Zoo mit Sohn Eliah, 20 Monate, wartet am Nachmittag auf ihn. Lässig gekleidet mit Lederjacke und Rolling Stones T-Shirt kommt St. Paulis Außenverteidiger, den Trainer Roland Vrabec am Freitag noch mit einer Stammplatzgarantie adelte, zum Interview mitten auf dem Kunstrasenplatz an der Kollaustraße.

Hamburger Abendblatt: Herr Schachten, der Trainer lässt seine Spieler ja derzeit gerne auf fachfremden Positionen auflaufen. Wann dürfen Sie denn endlich im Sturm ran?

Sebastian Schachten (lacht): Sie müssen mal Druck machen, dass der Trainer endlich auf die Idee kommt. Ich hoffe, dass das irgendwann noch passiert. Ein bisschen bin ich ja noch hier und das wäre auf jeden Fall ein großer Wunsch von mir. Ich hoffe nur, dass sie mich danach nicht vom Hof jagen würden.

Zehn Tore und mehr, das sind Marken, die ein Stürmer erreichen muss. Trauen Sie sich das zu?

Schachten: Ich wäre schon froh, wenn ich da vorne stehen würde und eins machen würde. Dieses Gefühl, ein Tor zu schießen, ist mit wenig anderen Dingen zu vergleichen, das ist einfach geil. Dafür beneide ich die Jungs wirklich. Im nächsten Leben werde ich Stürmer, in diesem ist eine andere Aufgabe für mich vorgesehen.

Die des Außenverteidigers. Und gute Spieler sind auf dieser Position ja sehr rar. Selbst Bundestrainer Joachim Löw hat Schwierigkeiten, diese zu besetzen ...

Schachten (lacht): Ich weiß nicht, ob Herr Löw vom Tabellen-Vierten der Zweiten Liga seine Spieler für die WM rekrutiert, aber gerne. Ich fühle mich in dieser Rolle wohl, bin im Laufe meiner Karriere immer weiter nach hinten durchgereicht worden. In der Jugend habe ich auch noch offensiver gespielt, aber irgendwann hat es spielerisch dafür dann nicht mehr gereicht.

Was Sie und Ihre Mannschaft in dieser Saison besonders auszeichnet, ist Flexibilität. Verschiedene Systeme, verschiedene Positionen. Ist das der große Vorteil des FC St. Pauli?

Schachten: Roland Vrabec als Trainer hat immer mehrere Varianten im Kopf. In Düsseldorf hat er ja beispielsweise das System umgestellt und es hat richtig gut funktioniert. Es ist toll, dass wir solche Möglichkeiten haben und Spieler für alle Formationen im Team haben. Das ist sicherlich ein Vorteil von uns.

Von außen betrachtet entsteht der Eindruck, dass unter Roland Vrabec wieder der Spaß am Spiel zurückgekehrt ist ...

Schachten: Roland hat eine andere Philosophie als Michael Frontzeck, er will einfach offensiver spielen lassen. Das bringt natürlich Spaß mit sich. Frontzeck hat mehr Wert auf die Defensive gelegt. Das Trainerteam achtet sehr darauf, dass wir zwischen den harten Einheiten auch mal Spaß im Training haben. Prinzipiell hat man natürlich immer mehr davon, wenn es gut läuft und man Spiele gewinnt. Wobei ich sagen muss: Der Abstiegskampf letzte Saison war rückblickend auch besonders. Wenn man jede Woche mit dem Rücken zur Wand steht, hat das auch seinen Reiz. Das finde ich besser, als um die goldene Ananas zu spielen.

Letztes Jahr Abstiegskampf, dieses Jahr im Aufstiegsrennen dabei. Ein oft benutztes Wort im Zusammenhang mit Ihrem Team ist derzeit der Lernprozess. Sind Sie fleißige Schüler?

Schachten: Wir haben noch eine ganze Menge zu lernen. In Spielen wie gegen Karlsruhe (0:2/d.Red.) hier zuhause im Dezember sieht man das sehr gut. Da wollten wir unbedingt gewinnen, anstatt einfach mal einen Punkt mitzunehmen. Das zeichnet die Mannschaft zwar aus, aber am Ende steht man mit leeren Händen da. Da müssen wir noch cleverer werden. Mit einem jungen Team wird dieser Prozess noch einige Zeit brauchen. Deshalb sind wir gut beraten, wenn wir in der Öffentlichkeit auch die Bälle flach halten und die Ziele nicht zu hoch schrauben.

Ihr Sportchef Rachid Azzouzi hat der Mannschaft nach der Niederlage in Frankfurt vorgeworfen, man sei nicht gierig genug nach Erfolg. Haben Sie den Traum Bundesliga noch nicht vor Augen?

Schachten: Diese Spiele zeigen, dass wir halt noch nicht so weit sind. Wären wir eine Spitzenmannschaft, dann hätten wir da zumindest ein Unentschieden geholt. Wir sind eben noch kein Topteam, aber wir haben in Düsseldorf direkt wieder unser wahres Gesicht gezeigt. Jetzt gilt es, die Intervalle zwischen guten und schlechten Spielen möglichst weit hinauszuzögern, dann holen wir noch einige Siege.

Sie haben einige Jahre lang im Rheinland gelebt. Da kennen Sie doch sicher den Song „Wenn nicht jetzt, wann dann“ von den Höhnern, oder?

Schachten: Ich weiß genau, worauf Sie hinaus wollen: Das Thema Aufstieg! Es ist ja nicht so, dass wir acht Punkte Vorsprung haben und sagen müssten: ‚Wenn wir es jetzt nicht schaffen, dann sind wir doof.’ Die Teams sind sehr eng zusammen, eigentlich müsste Kaiserslautern von ihrem Etat und dem Kader her auch noch vor uns stehen, aber wir lassen sie natürlich gerne hinter uns. Und selbstverständlich wollen wir bis zum Ende oben dabei bleiben und wenn wir die Chance haben, dann wollen wir das auch nutzen. Aber wir sind nicht in der Lage zu sagen, dass wir Aufstiegsfavorit sind. Der Trainer hat uns gesagt, dass die Platzierung gar nicht entscheidend ist, sondern die Entwicklung. Wir müssen weiter unsere guten Leistungen zeigen, dann kommen die Punkte von alleine und dann werden wir sehen ...

… aber die Konkurrenz ist sehr unbeständig. Es war lange nicht mehr so einfach, aufzusteigen!

Schachten: Ich tue mich einfach schwer damit zu sagen, 'wenn nicht jetzt, wann dann'. Das impliziert, dass dieses Jahr die Chance unseres Lebens da wäre, aufzusteigen. Ein Aufstieg ist immer ein Schritt einer Entwicklung. Nehmen wir das Beispiel Braunschweig. Die haben sich von der Dritten Liga an kontinuierlich entwickelt, ihre Mannschaft zusammengehalten und es dann geschafft. Das ist auch unser Ziel. Aber klar: Wenn wir die Chance haben, dann wäre es auch gelogen, zu sagen, wir wollen noch nicht aufsteigen. Ich bin schließlich auch keine 19 mehr und will noch einmal in die Bundesliga!

2008 haben Sie es schon einmal mit Borussia Mönchengladbach geschafft. Erzählen Sie den jungen Spielern in Ihrem Team doch mal, was das für Gefühle sind.

Schachten: Ich war in der Saison damals sehr lange verletzt und konnte nicht so viel spielen. Aber dieses Gefühl, dann vor 50.000 Menschen auf dem Marktplatz zu stehen, ist unbeschreiblich. Wenn ich die Geschichten von Fabian Boll höre, was hier bei St. Pauli 2010 abgegangen ist, dann ist es natürlich mein Ziel, einmal auf dem Spielbudenplatz zu stehen und da mit den Fans zu feiern.

Erzählen die älteren Kollegen wie Boll davon ab und an in der Kabine?

Schachten: Klar, das ist beim FC St. Pauli ja sicherlich auch noch einmal ein spezielleres Gefühl als bei anderen Vereinen. Wenn man die Jungs von früher darüber sprechen hört, macht das schon Lust. Wir arbeiten dafür, aber in dieser Saison sind wir zumindest nicht der Favorit.

Einen großen Schritt dorthin könnten Sie in den kommenden sieben Tagen machen. Es stehen drei Spiele an, gegen Paderborn und Fürth Duelle gegen Teams, die vor Ihnen stehen. Sind das die Wochen der Wahrheit?

Schachten: Drei Spiele in sieben Tagen sind für uns in der Zweiten Liga natürlich ungewohnt. Da werden alle gefordert sein, denn es sind extrem wichtige Spiele, wenn man auf direkte Konkurrenten trifft. Wir haben es gegen Union Berlin erlebt, da holt man mit einem Sieg quasi sechs Punkte und kann einen Konkurrenten auch schon mal hinter sich lassen.

Mit ihrem Ausgleichstor haben Sie gegen Union das Ende des Heimspiel-Fluchs eingeleitet. Wird jetzt am Millerntor alles besser?

Schachten: Wir haben uns immer schwer getan gegen Mannschaften, die sich brutal hinten reinstellen. Da gilt es jetzt, Lösungen zu finden. Wir müssen uns spielerisch besser durchsetzen, aber wenn der Gegner so tief steht, dann fällt es allen schwer – mit Ausnahme von Bayern München vielleicht. Von außen betrachtet ist das schon komisch, gerade weil wir mit unseren Fans am Millerntor so einen riesigen Vorteil haben.

Kritiker sagen, dieses spezielle St.-Pauli-Gen, das die Zuschauer verkörpern, gäbe es im Team kaum noch. Was entgegnen Sie da?

Schachten: Das weiß ich noch nicht mal, aber klar ist, dass sich so etwas über Jahre entwickeln muss. Die Jungs, wie Boll, Pliquett oder Ebbers, die hier fünf, sechs Jahre und noch länger waren, sind natürlich Identifikationsfiguren gewesen. Es war aber an der Zeit, einen Umbruch zu machen und nun muss man den neuen Spielern Zeit geben, in diese Rollen zu schlüpfen. Das geht natürlich nicht, wenn man nur ein Jahr hier ist. Länger im Verein zu bleiben ist dafür erst einmal Grundvoraussetzung. Welcher Fan soll sich mit einem Spieler identifizieren, der vielleicht sogar nur ausgeliehen ist und schon den nächsten Verein im Kopf hat? Das funktioniert nicht.

Mit drei Jahren gehören Sie inzwischen schon zu den dienstältesten im Kader ...

Schachten: Ich verinnerliche immer mehr, was den FC St. Pauli ausmacht, was hier gefordert wird. Das kann man sicher nicht vom ersten Tag an begreifen. Da war es für mich gut, Spieler wie Boll oder Pliquett, die diesen Verein gelebt haben, dabei zu haben. Der Verein und auch ich wünschen uns, dass wir hier langfristig eine Mannschaft aufbauen können, die zusammenbleibt. Wenn man in die Vergangenheit schaut, dann sieht man, dass es den FC St. Pauli ausmacht, dass viele Spieler über einen längeren Zeitraum hier waren und nicht nach einem Jahr wieder gegangen sind.

Sehen Sie denn nicht die Gefahr, dass junge Talente aus der Bundesliga abgeworben werden könnten, wenn Sie den Aufstieg verpassen sollten?

Schachten: Davor ist man nie gefeit. Im Grund ist es ja so, dass jeder Verein einem anderen zuarbeitet. Ausnahmen sind da nur Bayern München, Real Madrid und Barcelona. Da gehen die Spieler nicht wieder weg. So ist das Geschäft und diese Gefahr besteht auch hier bei St. Pauli und solche Fälle wird es auch geben. Aber ich denke, dass viele Spieler auch wissen, was sie an diesem Verein haben.

Nämlich?

Schachten: Ich maße mir gar nicht an, das alles schon begriffen zu haben. Dafür muss ich vermutlich doppelt so lange hier spielen. Aber so langsam fange ich an, zu verstehen, dass hier alles gänzlich anders ist. Manchmal denkt man sich im Stadion: ‚Mensch, wir spielen heute so eine Grütze und die Fans feuern uns immer noch an.’ Pfiffe sind ja verpönt, aber da muss man sich nach schlechten Spielen ab und an schon bei den Fans entschuldigen. Viele junge Spieler, für die St. Pauli die erste Profistation ist, sind sich noch gar nicht bewusst, was für ein riesiges Faustpfand diese bedingungslose Unterstützung ist.

Wäre es für den Lernprozess nicht sogar besser, wenn es auch mal Pfiffe geben würde?

Schachten: Das glaube ich nicht. Jeder Fußballer ist so selbstkritisch, sich dies nach schlechten Spielen auch einzugestehen. Da wird niemand sagen, ‚0:4 verloren, aber eigentlich war ich heute doch ganz geil’. Vor zwei Jahren haben wir am Millerntor 0:2 gegen 1860 München zurückgelegen und noch 4:2 gewonnen. So etwas geht nur mit diesem Publikum. Wenn es da ein Pfeifkonzert gegeben hätte, dann wäre man in Hektik verfallen. Aber natürlich wäre es manchmal auch verständlich, wenn der ein oder andere pfeifen würde.

Im deutschen Fußball läuft wieder einmal eine Debatte, wie emotional Spieler und Trainer sein dürfen. Jürgen Klopp musste 10.000 Euro Strafe zahlen, auch Ihr Trainer ist immer sehr engagiert an der Seitenlinie zu Gange. Was halten Sie davon?

Schachten: Es wird ja immer nach Typen wie Basler oder Effenberg geschrien und prinzipiell spricht auch nichts dagegen, im Fußball emotional zu sein. Das heißt ja nicht, dass ich 90 Minuten den Schiedsrichter bepöbeln muss. Der Fußball lebt von Emotionen, sonst hätten wir Totenstimmung und könnten auch in die Oper oder ins Ballett gehen. Gerade bei St. Pauli ist es anders gar nicht möglich. Dieser ganze Verein ist emotional.

Könnten Sie sich auch vorstellen, nach der Karriere als Trainer zu arbeiten?

Schachten: Ja, das kann ich mir sehr gut vorstellen. Im zunehmenden Alter fängt man an, Entscheidungen des Trainers auch mal zu hinterfragen, oder überlegt, was er damit bezwecken will. Das Denken ist einfach ein anderes, daher habe ich schon den Wunsch, das zu machen. Aber vorher will ich dieses Gefühl, auf dem Platz zu stehen, voll auskosten und hoffe, dass der Körper es noch einige Jahre mitmacht.

Und das bis zum Schluss bei St. Pauli?

Schachten: Das wäre der Idealfall! Ich fühle mich sehr wohl hier und schon allein aufgrund meines Sohnes kommt ein Umzug gar nicht in Frage. Der steht voll auf Hagenbecks Tierpark, die Elefanten sind absolut sein Ding. Ich weiß nicht, ob es in jeder Stadt einen Zoo mit Elefanten gibt, denn ohne den geht es gerade nicht. Nach zehn Mal Einzeleintritt habe ich mir auch endlich eine Dauerkarte geholt.