Zum Wiederbeginn der Zweiten Liga spricht St. Paulis Sportchef Rachid Azzouzi im Abendblatt-Interview über seine aktuellen Erwartungen und seine mittelfristigen Pläne mit dem Kiezclub

Hamburg Entspannt und doch gedanklich scheinbar nur auf den Wiederbeginn der Punktspiele in der Zweiten Liga fokussiert, nimmt sich Rachid Azzouzi Zeit für das Interview mit dem Abendblatt. Dabei wird aber schnell deutlich, dass der Sportchef des FC St. Pauli weit über das Spiel am Sonntag (13.30 Uhr/Sky live) in Bielefeld und auch die aktuelle Saison hinaus denkt und eine recht genaue Vorstellung davon hat, in welche Richtung er den Kiezclub in den kommenden Jahren entwickeln will.

Hamburger Abendblatt: Seit dem letzten Spiel sind sieben Wochen vergangen. Wie empfinden Sie persönlich diese Wartezeit auf das nächste Punktspiel, gerade nach einer ärgerlichen Niederlage gegen den KSC?

Rachid Azzouzi: Auf der einen Seite war es schon ganz gut, einmal herunter zu kommen nach einer Zeit, die zwar insgesamt sehr positiv verlaufen ist, aber auch sehr anstrengend war. Aber mit der Zeit ist das Kribbeln auch wieder da. Man will endlich umsetzen, was man in der Vorbereitung erarbeitet hat. Der Reiz am Fußball ist der Wettbewerb am Wochenende.

Was erwarten Sie vom ersten Spiel nach der Winterpause von Ihrer Mannschaft?

Azzouzi: Ich erwarte, dass wir als Mannschaft noch einmal einen Schritt nach vorn gemacht haben. Wir haben die Konkurrenzsituation erhöht, indem wir einen Spieler (Tom Trybull, die Red.) zusätzlich verpflichtet haben. Dazu sind einige Spieler von Verletzungen zurückgekommen. Aber ich bin lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass die beste Vorbereitung letztlich nur Makulatur ist, wenn die ersten Spiele nicht erfolgreich sind. Wir haben alle Voraussetzungen geschaffen, um einen guten Start hinzulegen, aber das behaupten unser erster Gegner Bielefeld und alle anderen Zweitliga-Mannschaften von sich auch. Ich hoffe natürlich, dass wir den insgesamt positiven Trend des letzten Halbjahres fortsetzen. Dazu haben wir vier von den letzten sechs Spielen vor der Winterpause unter unserem Trainer Roland Vrabec gewonnen. Das ist eine gute Quote, das sollte aber auch unser Anspruch sein.

Und was erwarten Sie von den gesamten 15 Spielen bis Saisonende? Was können Sie den Fans versprechen?

Azzouzi: Mit Versprechen bin ich ganz vorsichtig. Das ist auch nicht das richtige Signal. Wir sind aber dabei, eine Mannschaft zu entwickeln, mit der sich die Fans identifizieren können und die eine andere Art von Fußball zeigt als die, die vorher am Millerntor zu sehen war. Wir dürfen aber nie das Herzblut und die Leidenschaft verlieren, die am Millerntor gefordert werden. Gleichzeitig wollen wir uns so entwickeln, dass wir für eine Art Fußball stehen, zu der bedingungsloser Einsatz und Kampf gehören, aber auch ein gutes Passspiel, viele Offensivaktionen und am liebsten auch viele Tore. Da haben wir ja noch ein bisschen was aufzuholen.

Welche Teams werden am Ende der Saison ganz oben stehen?

Azzouzi: Ich bin überzeugt, dass das der 1. FC Köln sein wird. Dazu spielt Greuther Fürth eine sehr stabile Runde und hat sich nach einer kurzen Schwäche zuletzt auch wieder gefangen. Dazu kommen von den Rahmenbedingungen her auch der 1. FC Kaiserslautern, Union Berlin und 1860 München dazu, die um die direkten Aufstiegsplätze und den Relegationsplatz ein Wort mitreden. Wir wollen dranbleiben und die genannten Mannschaften ärgern und dann sehen, was dabei herauskommt.

Sie haben in der Winterpause einige personelle Entscheidungen getroffen und Verträge verlängert. Eine Entscheidung, nämlich Fin Bartels, der zu Werder Bremen geht, ist Ihnen abgenommen worden. Es sind jetzt noch sechs Vertrags-Entscheidungen offen.

Azzouzi: Mit den betreffenden Spielern ist gesprochen worden. Sie wissen, woran sie sind. Wir wollen noch ein Stück weit die Entwicklung bei ihnen abwarten. Wir haben jetzt schon 17 Spieler für die kommende Saison unter Vertrag, dazu kommen mit Lennart Thy und Michael Gregoritsch zwei Spieler, bei denen wir dank einer Option die Hand drauf haben.

Kapitän Fabian Boll fehlt jetzt seit Ende September mit einer Knieverletzung. Wie sehr vermissen sie ihn im Team?

Azzouzi: Es ist sehr, sehr schade für „Boller“. Nachdem er schon in der vergangenen Saison viele gesundheitliche Probleme hatte, hatten wir gedacht, dass es in dieser Saison besser wird. Er hat ja auch ganz gut angefangen. Wir haben schon viele Gespräche geführt und sind überein gekommen, dass wir uns zu gegebener Zeit zusammensetzen und über die Zukunft sprechen.

Es scheint sich bei ihm ein trauriges Ende anzubahnen.

Azzouzi: So weit bin ich noch gar nicht. Er soll jetzt erst einmal gesund werden, und dann wird er uns in dem einen oder anderen Spiel auch noch mal helfen. Man darf nie jemanden abschreiben, auch wenn es jetzt schon eine lange Leidenszeit ist.

Wie bewerten Sie die bisherige Arbeit von Trainer Roland Vrabec?

Azzouzi: Ich bin zufrieden, wie es im Trainerteam insgesamt läuft, wie Roland mit der Mannschaft arbeitet und wie er nach außen hin auftritt. Er arbeitet sehr akribisch und kann den Spielern Inhalte sehr gut vermitteln. Man kann schon jetzt einiges davon erkennen, wie er Fußball spielen lassen will. Aber am Ende sind gute Ergebnisse immer das beste Argument.

War es letztlich ein Glücksfall für St. Pauli, dass Michael Frontzeck seine Beurlaubung durch sein Ultimatum provoziert hat?

Azzouzi: Das ist hypothetisch, und im Grunde ist das Thema für mich abgeschlossen. Wir haben mit Michael in der vergangenen Saison am Ende unser Ziel erreicht. Jetzt bin ich froh, dass wir im Sommer Roland mit dazu genommen haben in der Hoffnung, dass wir mit dem gesamten Team die gewünschte Entwicklung nehmen. Umso schöner ist es jetzt, dass es mit ihm an der Spitze so gut funktioniert.

Hatten Sie bei der Verpflichtung schon im Hinterkopf, dass er das Zeug zum Cheftrainer hat?

Azzouzi: Nein, dafür kannte ich ihn auch gar nicht gut genug. Mir war nur seine Vita bekannt. Unser Anforderungsprofil passte auf ihn. Wir wollten nicht unbedingt einen Ex-Profi haben, sondern jemanden, der schon lange im Trainergeschäft ist. Er hatte lange im Nachwuchsbereich gearbeitet. Das war auch wichtig, weil unsere Philosophie dahin geht, junge Spieler weiterzuentwickeln. Und es kam darauf an, dass er die Spieler, die im Nachwuchsbereich für uns interessant sind, auch kennt. Das traf bei ihm auf Grund seiner Tätigkeit als Co-Trainer der U19-Nationalmannschaft zu. Aber es gab nicht den Hintergedanken, er könne auch bald unser Cheftrainer werden. Dennoch ist es unser Ziel, nicht nur Spieler sondern auch unsere Trainer weiterzuentwickeln.

Eines Ihrer Ziele ist es, in Ruhe ein Team aufzubauen, das nicht nur zu Besuch in der Ersten Liga ist sondern sich dort auch etablieren kann, ähnlich wie Mainz oder jetzt offenbar auch Augsburg. Ist das aber überhaupt möglich?

Azzouzi: Ich denke, dass in unserem Verein die meisten, bei allem Ehrgeiz, es schon sehr gut einschätzen können, was möglich ist. Unser Ansatz ist eben nicht, schnell viel Geld auszugeben, um damit den kurzfristigen Erfolg zu erreichen, aber damit den Verein auch in Schwierigkeiten zu bringen. Wir arbeiten weitsichtiger, stecken das Geld nicht nur in die aktuelle Profimannschaft sondern auch in die Infrastruktur und versuchen, ich betone versuchen, eine Mannschaft mittelfristig aufzubauen, die auch aufsteigt. Und dann ist die Hoffnung, dass sich diese Mannschaft auch in der Ersten Liga weiterentwickelt. Deshalb haben wir vielen Spielern auch vergleichsweise langfristige Verträge gegeben und einige Verträge auch vorzeitig verlängert. Den sicheren Nicht-Abstieg aus der Ersten Liga wird sich St. Pauli nie erkaufen können.

Das gilt ja auch für Mainz und Augsburg. Und dennoch sind sie jetzt schon ein paar Jahre erstklassig.

Azzouzi: Diese Vereine müssen für uns das Vorbild sein. Man muss sich dazu sehr genau anschauen, wie sich diese Vereine entwickelt haben. Mainz hatte und hat mit Jürgen Klopp und Thomas Tuchel sehr gute Trainer, dazu kam das neue, eigene Stadion und die eigenständige Vermarktung. Und mittlerweile kann Mainz auch einen Spieler für fünf Millionen Euro Ablöse holen, wie Ja- Cheol Koo vom VfL Wolfsburg. Das haben sich die Mainzer durch eine langfristig angelegte Philosophie erarbeitet. Augsburg hat auch keine verrückten Dinge gemacht, hat die Mannschaft aber sukzessive verstärkt und spielt jetzt eine gute Runde. Deren größte Aufgabe wird es jetzt sein zu verhindern, dass die besten Spieler weggekauft werden. So ist es ja Freiburg nach der vergangenen Saison ergangen. Die Gefahr besteht aber immer. Das kann aber auch kein Grund sein, bewusst schlecht zu spielen.

Sie sind jetzt mehr als eineinhalb Jahre Sportchef beim FC St. Pauli. Wie fällt Ihre Zwischenbilanz aus?

Azzouzi: Ich würde die Zeit in zwei Abschnitte unterteilen. Die erste Phase war aus bekannten Gründen schwierig. Wir hatten einen großen Umbruch mit 17 Abgängen und nur wenig Zeit, um den neuen Kader zusammenzustellen. Mir hat in der schwierigen Phase gefallen, dass die Fans zu uns gestanden haben. Das sucht ja ohnehin seinesgleichen in Deutschland. Dazu kam, dass das Präsidium und der Aufsichtsrat immer Ruhe bewahrt haben. Die Zusammenarbeit mit diesen beiden Gremien war bisher sehr gut. Und ich bin mir sicher, dass es jetzt auch so weiter geht, nachdem im Aufsichtsrat Marcus Schulz Nachfolger des bisherigen Vorsitzenden Christoph Kröger geworden ist. Im zweiten Abschnitt konnte ich in dieser Saison meine Ideen umsetzen. Ein erster Anfang ist gemacht, wobei dies nicht dazu führen darf und auch nicht wird, dass ich und alle anderen sich zurücklehnen. Wir konnten einen weiteren Umbruch einleiten, aber dafür mit mehr Struktur, durchdachter und langfristiger angelegt. Es macht total Spaß, in dieser Stadt und für diesen Verein und zusammen mit diesen Menschen hier zu arbeiten. Wir haben einen sehr hohen Anspruch, denn keiner, auch kein Spieler, hat schon irgendetwas erreicht. Alle machen eine gute Entwicklung, aber wir alle wollen immer besser werden. Dementsprechend wird die Messlatte auch immer höher gelegt.

Wir wissen bis heute gar nicht so genau, wie Sie eigentlich zum FC St. Pauli gekommen sind. Wer hatte die Idee, Sie anzusprechen, obwohl sie doch gerade mit Greuther Fürth endlich den Bundesliga-Aufstieg geschafft hatten?

Azzouzi: Der erste Kontakt ist durch Vizepräsident Bernd-Georg Spies erfolgt. Wir hatten uns irgendwann im Millerntor-Stadion kennengelernt, als ich zu einer Spielbeobachtung dort war. St. Pauli gewann gegen Hansa Rostock 4:0. Das war damals ein zufälliges Treffen. Als hier ein neuer Sportdirektor gesucht wurde, gab es im Präsidium wohl die Idee, mich zu kontaktieren. Da war es Bernd-Georg Spies, der mich anrief. Mit ihm habe ich mich auch getroffen. Danach gab es noch weitere Gespräche mit Präsident Stefan Orth und Vizepräsident Jens Duve. Das war alles sehr positiv.

Haben Sie jetzt also ihr erfolgreiches Konzept von Fürth einfach auf St. Pauli übertragen?

Azzouzi: Es geht nicht um eine Kopie von Fürth. Aber ich bin von einer Philosophie überzeugt. Das hat schlussendlich dazu geführt, dass der Verein mich kontaktiert hat. Nach den schweren Zeiten, die der FC St. Pauli hatte, legt man hier jetzt Wert darauf, kaufmännisch seriös zu wirtschaften und nicht über seine Verhältnisse zu leben. Ich selbst kenne das auch gar nicht anders. Tatsache ist, dass ich mich hier auch in der Zusammenarbeit mit den Gremien, mit dem Trainer- und Funktionsteam und den Verantwortlichen des Nachwuchsleistungszentrums verwirklichen kann.

Fühlen Sie sich in Ihrer Arbeit eigentlich durch das Präsidiums genügend gewürdigt?

Azzouzi: Die Würdigung erhalte ich dadurch, dass sie meine Vorschläge mittragen und ich durch sie Gestaltungsmöglichkeiten bekomme. Ich habe ein gutes Verhältnis zum Präsidium und zum Aufsichtsrat. Das heißt nicht nur, dass wir uns persönlich gut verstehen, sondern auch gut und erfolgreich miteinander arbeiten können. Ich bin überzeugt, von dem Weg, den der Verein eingeschlagen hat, und halte ihn für alternativlos.

Der Konkurrenzkampf im Team ist voll entbrannt. Das war auch so gewünscht. Aber jetzt in Bielefeld werden mehrere gesunde und fitte Spieler nicht einmal auf der Ersatzbank sitzen. Wie groß ist die Gefahr, dass Frust und schlechte Stimmung aufkommt. Wie können Sie hier gegensteuern?

Azzouzi: Es gibt für die Mannschaft ganz klare Regeln, die essenziell und wichtig sind. Jeder hat den Anspruch zu spielen, und wird auch enttäuscht und gefrustet sein, wenn er auf der Bank oder Tribüne sitzen muss. Aber dies darf nicht zu schlechter Stimmung führen, oder dazu, dass sich ein Spieler hängen lässt. Da würden wir dann Konsequenzen ziehen müssen. Aber ich bin davon überzeugt, dass das nicht notwendig sein wird. Jeder unserer Spieler kann sich selbst ganz gut einschätzen und wir werden in dieser Saison auch jeden noch gebrauchen können. Die Leistungsstärke der einzelnen Spieler liegt nicht weit auseinander. Aber die Entscheidung des Trainers muss jeder akzeptieren und dann gegebenenfalls aus der Enttäuschung so viel Energie ziehen, dass man es dem Trainer zeigen will, in die Mannschaft zu gehören.

Ihre Spieler erwecken allesamt den Eindruck, dass sie ihren Beruf als Fußballer sehr seriös ausüben. Fehlt dem Team vielleicht ein „verrückter Hund“? Oder ist so ein Spielertyp gar nicht mehr zeitgemäß?

Azzouzi: Heute werden die Spieler schon als Jugendliche in den Nachwuchsleistungszentren dazu erzogen, sich sehr professionell zu verhalten. Die Spieler sind heute sehr viel aufgeschlossener als früher und hinterfragen vieles. Aber ein „verrückter Spieler“ geht immer. Diese Typen gibt es nur nicht mehr so oft. Es darf auch nicht dazu kommen, dass ein „Verrückter“ die ganze Mannschaft durcheinander bringt. Vielmehr muss er sportlich so außergewöhnlich gut sein, dass er der ganzen Mannschaft hilft. Es ist bei uns keineswegs so, dass wir nur nach lieben, netten Schwiegersöhnen suchen. Wir erwarten von den Jungs auch in dieser Hinsicht eine Entwicklung. Sie sollen auf dem Platz eine Persönlichkeit entwickeln, zu Männern werden und für die Mannschaft in den vollen 90 oder 95 Minuten alles herausholen und nicht schon in der Halbzeitpause Trikots tauschen. Man kann auf dem Platz nicht mit den Gegenspielern gut Freund sein. Wir müssen Siegermentalität entwickeln und auf den Platz bringen.

Haben Sie eine Vision für den FC St. Pauli?

Azzouzi: Wir möchten hier gemeinsam etwas wirklich Nachhaltiges aufbauen. Mir geht es nicht um den schnellen, kurzfristigen Erfolg. Dann würde ich mich nur auf die Profimannschaft konzentrieren und würde dafür kämpfen, dass das ganze Geld nur hier hinein gesteckt wird. Für meine Vita wäre es ja toll, mit Fürth und St. Pauli den Aufstieg geschafft zu haben. Aber mir ist wichtig, dass der Verein für etwas steht. Von der Profimannschaft bis zum Nachwuchsbereich sollen alle nach derselben Philosophie agieren. Und es gibt auch infrastrukturell noch einige Projekte, die sehr wichtig für den Verein werden. Wenn diese Basis steht, wollen wir natürlich auch in der Ersten Bundesliga spielen. Aber das ist noch ein weiter Weg dahin. Wenn das Haus auf einem guten Fundament gebaut ist, wird es auch länger halten.

Wie bewerten Sie die Entwicklung und aktuelle Lage beim Lokalrivalen HSV?

Azzouzi: Ich bin nicht nah genug dran, um hier Ratschläge zu geben. Der Verein hat in Deutschland eine große Historie und Tradition. Er ist jetzt in einer schwierigen Situation, so wie wir vor einem Jahr. Da geht es in erster Linie immer darum, zusammenzuhalten und sich darauf zu fokussieren, die Liga zu halten.