Kiel. Zum ersten Mal konnten die Hamburger gegen Kiel gewinnen. Glatzel, Heyer und Reis treffen. Irre Schlussphase im Holstein-Stadion.
Zum schönsten Tänzchen des Abends bat Ludovit Reis, als die Stadionuhr noch immer fünf Minuten anzeigte. 2:0 führte sein HSV bereits bei Holstein Kiel, als der Niederländer etwas machte, was man in einem Fußballerleben nicht allzu oft macht, sofern man nicht Jay Jay Okocha heißt. Ballannahme, Haken eins, Haken zwei und druff. Oben rechts schlug der Ball zum 3:0 ein – und Reis bog zum Jubeln nach hinten links ab.
Dass es am Ende des Abends nach zwei Kieler Toren in der Nachspielzeit sogar noch einmal für ein paar Sekunden spannend wurde, spielte letztendlich beim 3:2-Sieg nur noch eine untergeordnete Rolle. So war es jedenfalls ein Abend, den vor allem die enttäuschten Kieler so schnell nicht vergessen werden. "Kiel ist besser in die Partie gekommen. Wenn wir von Anfang an nicht konsequent sind, wird es schwer für uns. Danach haben wir die Partie in den Griff bekommen", sagte HSV-Trainer Tim Walter.
Der Coach war an der Seitenlinie extrem emotional und sichtlich unzufrieden. Mit den ersten 20 Minuten, vor allem aber mit der Schlussphase. Beider Pressekonferenz hatte sich der 46-Jährige aber schon wieder beruhigt. "Sobald wir in Führung gehen, ist es sehr schwer gegen uns zu spielen. In der zweiten Hälfte haben wir es dann, bis auf die Schlussphase, gut gemacht und den Sieg nach Hause gebracht."
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Dabei ging für Kiel die Welt bereits vor dem Anpfiff unter. In Schleswig-Holstein regnete es nicht, es stürmte. Wegen eines heftigen Gewitters an der Förde hatte der Stadionsprecher sogar angekündigt, dass die Partie möglicherweise später losgehen würde. Als Schiedsrichter Daniel Siebert dann aber doch pünktlich um 18.30 Uhr anpfiff, war zunächst einmal das komplette Spielfeld vernebelt. Das hatte allerdings weniger mit Petrus‘ Launen als viel mehr mit einem opulenten Pyro-Feuerwerk der Kieler Fans zu tun.
Holstein Kiel scheiterte an sich selbst und am HSV-Torwart
Es dauerte rund drei Minuten, ehe der Nebel verschwand – und das nächste Unwetter aufzog. Glücklicherweise aber ein rein sportlicher Sturm – allerdings aus Hamburger Sicht unglücklicherweise ein echtes Holstein-Donnerwetter. Der KSV bot den 15.034 Zuschauern im natürlich ausverkauften Holstein-Stadion in den ersten 20 Minuten ein Chancen-Feuerwerk, das der Pyro-Show auf der Westtribüne in Nichts nachstand. Einziges Manko aus Holstein-Sicht: Steven Skrzybski (3.), Patrick Erras (4. und 10.), Fabian Reese (8., 11. und 18.) und der Ex-Hamburger Fiete Arp (17.) scheiterten entweder an sich selbst oder an der einzigen wirklichen Naturgewalt an diesem dauerregnerischen Abend: an HSV-Torhüter Daniel Heuer Fernandes. Den ohnehin formstarken Keeper würde derzeit wohl nicht einmal Donnergott Thor niederringen.
Es dauerte etwas mehr als 20 Minuten, ehe sich auch der HSV an das waschechte Schmuddelwetter gewöhnte und Linksverteidiger Miro Muheim den ersten Hamburger Schuss abgab – und es dauerte noch einmal weitere 20 Minuten, ehe die Statistiker auf der pickepackevollen Tribüne HSV-Torschuss Nummer zwei zählten. Der Vollständigkeitshalber sei erwähnt, dass dieser nach einer herrlichen Flanke durch Jan-Luc Dompé durch Robert Glatzel Kopf erfolgte – und ganz nebenbei sogar drin war. Saisontor Nummer fünf im 50. Spiel für den HSV – viel mehr geht nicht.
HSV stellte Spielverlauf komplett auf den Kopf
TV-Kommentatoren sagen an dieser Stelle gerne: Das Spiel wurde komplett auf den Kopf gestellt. Nach unterhaltsamen, aber sehr einseitigen ersten 45 Minuten lautete das Torschussverhältnis 7:2 für Holstein Kiel. Auf den beiden Anzeigentafeln flimmerte aber nach der ersten Halbzeit, als dann auch das Unwetter endlich eine Pause einlegte und sogar die Abendsonne kurz mal rauskam, ein anderes Zwischenergebnis auf: 0:1 für den HSV.
60 Jahre war es her, dass der HSV zuletzt ein Ligaspiel gegen Holstein Kiel gewinnen konnte. 1962 war das, die Bundesliga gab es noch gar nicht, Queen Elisabeth im fernen England war noch blutjung – und sollte vier Jahre später den Torschützen zum zwischenzeitlichen 2:0 kennenlernen: Uwe Seeler. Am Ende gewann der HSV seinerzeit vor 14.000 Zuschauern 3:2 am Rothenbaum in der Oberliga Nord – und konnte seitdem bei acht Versuchen kein Ligaspiel mehr gegen Holstein gewinnen. Bis zu diesem Freitagabend.
Sechs Dekaden später, im Hier und Jetzt, konnten die Kieler in der zweiten Halbzeit nach dem Gewitter plötzlich einen traumhaft schönen Abendhimmel genießen, dem auch die Partie im Nichts nachstand. Dafür sorgte auch der frühere Kieler Tim Walter in seinem 50. Spiel als HSV-Trainer, der den zuletzt gesperrten Randsford Königsdörffer für Bakery Jatta (58.) und Laszlo Benes für Sonny Kittel (65.) brachte. Letztgenannter zirkelte einen Eckball nur fünf Minuten nach seiner Einwechslung so gefühlvoll auf Moritz Heyers Köpfchen, dass dieser sich fast gar nicht gegen sein erstes Saisontor wehren konnte (70.). Es muss an dieser Stelle wahrscheinlich nicht erwähnt werden, dass Heyers Kopfball der erste HSV-Torschuss in der zweiten Halbzeit war.
HSV bleibt auswärts eine Macht in der Zweiten Liga
Es folgte Reis‘ Traumtor kurz vor Schluss – und eine der spektakulärsten Nachspielzeiten dieser Saison. Erst traf Heyer ein zweites Mal – diesmal ins eigene Tor. Dann verkürzte Finn Bartels sogar auf 3:2. Doch wenig später endete dann doch eines der ungewöhnlichsten HSV-Spiele dieser Saison wie all die gewöhnlichen letzten acht Auswärtsspiele zuvor: mit einem Sieg. "Das Ende war natürlich viel zu wild und darf so nicht passieren. Es war eine schwierige Partie, aber am Ende gewinnen wir trotz allem. Darauf sollte unser Fokus liegen", bilanzierte HSV-Kapitän Sebastian Schonlau.
Neun Auswärtssiege in Folge – das schaffte im deutschen Profifußball zuletzt nur ein ganz anderes Kaliber: Bayern München siegte in der Triple-Saison 2019/20 sogar zwölfmal in Folge. Oder wie würde es Udo Jürgens an dieser sagen? „Und immer, immer wieder geht die Sonne auf…“