Hamburg. Sportmediziner Michael Ehnert warnt vor einer zu frühen Rückkehr in den Wettkampf und appelliert an die Eigenverantwortung.
Das Thema „Umgang mit Virusinfektionen“ ist Michael Ehnert so wichtig, dass er sich für das Abendblatt-Interview während seines fünftägigen Familienurlaubs in Kitzbühel 90 Minuten Zeit nimmt. Der 58 Jahre alte Leiter des Instituts für Sportmedizin am Asklepios-Klinikum St. Georg kennt als Vertrauensarzt des Olympiastützpunkts die Eigenheiten vieler Sportarten – und schon weit vor Corona kämpfte er um mehr Aufmerksamkeit für die Folgen verschleppter Infekte.
Hamburger Abendblatt: Herr Ehnert, der HSV hatte vor einer Woche acht Corona-Fälle unter den Profis gemeldet. Sieben sind bereits wieder im Training und könnten an diesem Sonnabend bei Fortuna Düsseldorf, wo es ebenfalls 14 Corona-Fälle gab, auflaufen. Wie bewerten Sie das?
Michael Ehnert: Das muss man je nach Art und Schwere der Symptome differenzieren. Es macht einen Unterschied, ob jemand eine Woche mit Fieber im Bett liegt oder einen asymptomatischen Verlauf hat. Zumindest sollte jeder seine Herzwerte und Lungenfunktion untersuchen lassen. Es bleibt ein unbestimmtes Risiko für weitere Komplikationen durch einen zu frühen Wiedereinstieg in den Sport, denn Training ist etwas anderes als Ausbelastung im Wettkampf.
Diese kardiologischen Untersuchungen fanden beim HSV am Abend vor dem jeweiligen Trainingseinstieg statt. Die Krankheitsverläufe sollen zudem mild gewesen sein.
Ehnert: Es gibt aus ärztlicher Sicht kein zwangsläufiges Veto gegen einen Pflichtspieleinsatz. Es muss aber abgewogen werden, wie wichtig das Spiel ist und ob eine Freigabe unverantwortlich sein könnte, also eine akute Gefahr besteht, auch in Bezug auf Langzeitfolgen.
Corona-Risiko beim HSV wegen Aufstieg?
Eine Aufstiegschance darf doch nicht wichtiger sein als die Gesundheit eines Spielers.
Ehnert: Nein, ganz klar. Es besteht aber nach intensiver Beratung durch den Arzt eine Eigenverantwortung der Spieler, die erwachsene Menschen sind. Wenn ein Spieler der Meinung ist, in diesem Wettkampf eine für seine Zukunft relevante Auswirkung, wie zum Beispiel einen Aufstieg, zu sehen, ist das seine Entscheidung. Für diese Abwägung ist Augenmaß vonnöten, kein ärztliches Machtwort.
Dennoch helfen jedem Team nur fitte Spieler. Wann erreicht ein Leistungssportler nach einer Infektion wieder sein Topniveau?
Ehnert: Wenn Symptome wie Fieber vorlagen und sieben Tage in Quarantäne nicht trainiert werden konnte, kann ein Erkrankter derart zurückfallen, dass er für mehrere Wochen nicht einsatzfähig ist – sowohl aus medizinischer Sicht als auch vom sportlichen Mehrwert. Wer zu früh mit intensivem Training anfängt, braucht eventuell länger, um seine Leistungsfähigkeit zu erreichen. Manche erreichen diese nie wieder.
Hobbysportlern wird empfohlen, nach einer Infektion zwei Wochen zu pausieren. Warum gibt es eine solche Empfehlung nicht für Leistungssportler?
Ehnert: Die gibt es, allerdings bezieht sie sich auf ein Konsenspapier von vor zwei Jahren. Die Empfehlungen werden vor dem Hintergrund der weitgehenden Impfungen und milderer Omikron-Verläufe aktuell überarbeitet. Dennoch bleibt es eine individuelle Abwägung, die vor allem vom Krankheitsverlauf abhängig ist.
Werden Sportler zum Wiedereinstieg gedrängt?
Auch wenn über die Varianten der positiven Corona-Tests beim HSV nichts bekannt ist, ist es naheliegend, dass es sich größtenteils um Omikron handelt, da in Hamburg mittlerweile bis zu 85 Prozent aller Fälle auf die neue Omikron-Variante BA.2 zurückzuführen sind. Gehen solche Infektionen auch für Leistungssportler glimpflicher aus als die früherer Mutanten?
Ehnert: Davon gehen wir aus, die Verläufe von Delta waren deutlich schwerer. Die Ausgangslage ist auch günstiger, da sich durch die Corona-Impfung die Risiken der Krankheitsausprägung minimiert haben. Vor einem Jahr hätte ich noch viel drastischer gewarnt.
Sind Fälle bekannt, in denen Sportler zu früh zum Wiedereinstieg gedrängt wurden?
Ehnert: Es gibt bisweilen Druck von außen, und natürlich appellieren wir an Trainer oder Funktionäre, Erkrankten die notwendige Zeit zu geben. Es braucht ein sehr starkes Vertrauensverhältnis zwischen den Athleten, dem medizinischen Team, den Trainern und den Physiotherapeuten.
Gibt es Datenmaterial, wie die Corona-Infektionen bei Athleten in Hamburg verlaufen sind und wie viele schwere Fälle es gab?
Ehnert: Eine solche Auswertung erfolgt bundesweit, braucht aber noch Zeit. Ich kann aber sagen, dass ich keine akuten schweren Verläufe bei jungen Athleten gesehen habe. Unter Omikron beobachten wir bislang weniger Fälle mit Long Covid.
Corona-Ausbruch beim HSV: Kommt es zu Folgeschäden?
Stichwort Long Covid: Es soll auch in Hamburg Fälle von Athleten geben, die einige Monate nach einer leicht verlaufenen Erkrankung schwere Symptome entwickelt haben und in ihrer Leistungsfähigkeit stark eingeschränkt sind. Wie äußert sich das und wie oft kommt so etwas vor?
Ehnert: Das Long-Covid-Syndrom ist ein buntes Krankheitsbild. Die Betroffenen haben oft ein Brust-Engegefühl, wodurch die Atmung erschwert ist. Dominierend in der Zeit nach einer Infektion sind oftmals Angst und Depressionen. Ein Gefühl der kompletten Erschöpfung, als Fatigue-Syndrom definiert, sowie Bauch-, Kopf- und Gelenkschmerzen, aber auch Muskelschwächen sehen wir bisweilen.
Riskiert HSV zu frühe Rückkehr nach Corona?
Erhöht sich das Risiko von Long Covid durch einen zu frühen Trainingseinstieg?
Das ist mein Gefühl, aber noch haben wir dafür keine Evidenz. Um das seriös beurteilen zu können, brauchen wir deutlich mehr Daten über einen Zeitraum von Jahren.
Junge Männer zwischen 18 und 29 Jahren gelten als gefährdeter, durch Corona eine Herzmuskelentzündung zu erleiden. Gilt das auch für fitte Athleten?
Ehnert: Ich denke schon. Einige Leistungssportler sind dank ihrer hohen Regenerationsfähigkeit weniger gefährdet und im Krankheitsfall schneller genesend. Das trifft jedoch längst nicht auf alle zu.
Man hört von manchen Athleten, dass die Leistungsfähigkeit der Lunge durch Corona um zwei bis drei Prozent abgenommen hat. Welchen Einfluss hat das für einen Profi?
Ehnert: Solche Beeinträchtigungen können gravierende Auswirkungen auf die Leistung der Betroffenen haben. Wir wissen noch nicht genau, welche Schäden eine Corona-Infektion in der Lunge hinterlässt. Aber die Symptomatik ist behandelbar, wenn man sich die nötige Zeit nimmt.
Wenn direkt nach der Genesung die Untersuchungen, die für den Wiedereinstieg gefordert werden, unauffällig sind, so wie beim HSV: Wie lang gibt es Gefahr für Folgeschäden?
Ehnert: Long-Covid-Symptome können bis zu 180 Tage nach einer Infektion erstmalig auftreten. Langfristige Schäden lassen sich daher nicht in den ersten sieben Tagen erkennen. Deshalb sollten sich grundsätzlich alle Genesenen innerhalb der 180 Tage nach der Infektion regelmäßig sportmedizinisch untersuchen lassen und Leistungstests unterziehen. Bei der zu erwartenden Zahl der Untersuchungen sind die Kapazitäten derzeit aber nicht ausreichend. Für Athleten sind solche Untersuchungen aber essenziell.
Corona-Ausbruch beim HSV: Wann gilt Eigenverantwortung?
Wie lange wird Covid noch anders behandelt werden als ein grippaler Infekt?
Ehnert: Uns wird das Thema noch länger beschäftigen. Vielleicht, so meine Hoffnung, haben wir durch Corona gelernt, den präventiven Aspekt von sportmedizinischen Untersuchungen stärker in den Fokus zu rücken und darüber Sporttreibende an ihre Eigenverantwortung erinnern zu können.
Werden die Menschen bald in Eigenverantwortung über eine Isolation entscheiden?
Ehnert: Grundsätzlich halte ich das für erstrebenswert, noch sehe ich aber keine Lernkurve. Gerade im Sport ist der Egoismus beim Umgang mit Infektionen extrem groß, und das beziehe ich ausdrücklich auf alle Viruserkrankungen. Allen muss klar sein: Wer nach einer Virusinfektion zu früh wieder in die anaerobe Ausbelastung einsteigt, riskiert schwere Schäden für seine Gesundheit.