Hamburg. Der neue Vorstand hat den Club vor seinem Anteilskauf durchleuchtet und Sanierungsbedarf ausgemacht. Ein Blick durchs Schlüsselloch.

Wenn es wirklich stimmt, dass der frühe Vogel den Wurm fängt, dann sollten sich alle Regenwürmer rund um den Volkspark ab sofort in Acht nehmen. Denn Neu-HSV-Vorstand Thomas Wüstefeld ist kein pünktlicher Mensch – er gilt bis auf wenige Ausnahmen als ein notorischer Zufrühkommer. So auch am Mittwochmittag, als er zu einer ersten offiziellen Vorstellrunde um Punkt 13.45 Uhr geladen hat, aber bereits um 13.43 Uhr auf seinem Stuhl auf dem Pressepodest im ersten Stock des Volksparkstadions Platz nimmt.

Die über Zoom zugeschalteten Journalisten, die Wüstefeld nur auf einem großen Flachbildschirm vor sich sehen kann, begrüßt der 53-Jährige mit einem lockeren „Moin“. Die ersten drei Wochen als Vorstand seien rum, er habe ein tolles Team, viel erlebt und sei stolz und froh. Sätze, die man eben so sagt, wenn man gerade neu als Vorstand dabei ist.

HSV News: „Die aktuelle Situation ist alles andere als gut“

Doch das freundliche Vorgeplänkel dauerte nur wenige Sekunden, bis Wüste­feld auch unerfreuliche Fragen beantworten muss. Nach den fehlenden Zuschauereinnahmen (siehe unten), der gesellschaftlichen Rolle des Fußballs, mutmaßlich fehlenden PCR-Tests und vor allem nach der prekären Finanzsituation. „Die aktuelle Situation ist alles andere als gut“, räumt der frühere Mittelfeldabräumer von Arminia Fuhrbach und vom SV Rhumspringe ehrlich ein – und wiederholt einen Satz, den Aufsichtsratschef Marcell Jansen erst vor wenigen Tagen im großen Interview mit dem Abendblatt gesagt hat: „Es ist nicht fünf vor 12 Uhr, es ist fünf nach 12 Uhr.“

Diese angespannte Lage sei für ihn auch die Hauptmotivation gewesen, so Wüstefeld, den Durchmarsch durch die HSV-Gremien in nur wenigen Wochen zu wagen. Wer den Werdegang Wüstefelds beim HSV etwas genauer betrachtet, der muss zwangsläufig an einen früheren Vorstandschef beim HSV denken. Vom Anteilseigner über den Aufsichtsrat zum Chef-Kontrolleur bis hin zum Vorstand – das traute man bislang nur Bernd Hoffmann zu. Doch einen Hoffmann 2.0 dementierte Chef-Kon­trolleur Jansen unlängst im Abendblatt energisch: „Man kann Äpfel auch nicht mit Birnen vergleichen.“

Beförderung Wüstefelds war nicht geplant

Tatsächlich ist die Beförderung Wüstefelds (anders als bei Hoffmann) nicht das Produkt eines lang geplanten Strategieplans. Im Gegenteil. „Das war nicht so im Vorfeld geplant“, sagt am Mittwoch auch Wüstefeld. Nach Abendblatt-Informationen muss es ziemlich wild zugegangen sein in den Tagen rund um Weihnachten zwischen der ersten Sitzung des neuen Aufsichtsrats (am 18. Dezember) und einem zweiten Zusammenkommen (am 28. Dezember). Zwischen diesen beiden Sitzungen reifte die Überlegung, dass man den damaligen Finanzvorstand Frank Wettstein sofort beurlauben wolle. Nur die Frage, wie man die Vakanz im Vorstand schließen wolle, blieb bis zur zweiten Sitzung ungeklärt.

Mehrere Quellen berichteten, dass bis zur entscheidenden Sitzung der Kontrolleure sogar Klaus-Michael-Kühne-Vertreter Markus Frömming als Abgesandter des Aufsichtsrats als Vorstand im Gespräch war. Ein Gedankenspiel, das nicht neu ist, das von Mitgliedern des Aufsichtsrats allerdings hart dementiert wird.

Wüstefeld: „Ich möchte alles verstehen"

Fakt ist jedenfalls, dass sich erst auf der letzten Sitzung des Jahres die Dinge überschlugen und sich der gerade erst gewählte Aufsichtsratschef Wüstefeld schließlich bereit erklärte, nach einer Beurlaubung Wettsteins pro bono in den Vorstand zu gehen. Wettstein selbst wusste zu diesem Zeitpunkt nichts von seinem „Glück“, das eine Woche später offiziell verkündet wurde.

Und Wüstefeld verlor keine Zeit. „Ich möchte alles verstehen – vom Greenkeeping bis zu den einzelnen Positionen im Sport“, erklärt der Neu-Chef am Mittwoch. Nur zwei Tage nach seiner Beförderung flog er nach Spanien ins Trainingslager der Profis, traf dort seinen neuen Vorstandskollegen Jonas Boldt. Wüstefeld war auch beim ersten Auswärtsspiel des Jahres in Dresden und feierte mit der Mannschaft den Pokalsieg gegen Köln vor Ort auf dem Rasen. Das alles darf man als Kür bezeichnen.

Philipp Mokrohs wurde umgehend freigestellt

Die eigentliche Arbeit wartet aber auf der eigenen Geschäftsstelle, wo Wüstefeld fast täglich vor Ort ist. Er ist ab sofort für die Bereiche Finanzen, Marke, Organisation, Infrastruktur, Sponsoring, Digitales, IT und Marketing verantwortlich. Viel Neuland für einen Neuling, der bis vor wenigen Wochen lediglich Fan war. Eine seiner ersten Amtshandlungen: die Freistellung von Marketingdirektor Philipp Mokrohs nicht einmal eine Woche nach dem Wechsel in den Vorstand.

Dass Wüstefeld nicht lange fackelt, überrascht auf der Geschäftsstelle niemanden. Im Gegenteil. Obwohl der Tausendsassa, der nebenbei noch geschäftsführender Gesellschafter des weltweit agierenden Unternehmens sanaGroup, der sanPharma GmbH, der MEDsan GmbH, der neuraMED GmbH und der CaLeJo GmbH ist, erst seit dem 4. Januar das alte Vorstandsbüro Wettsteins bezogen hat, verfügt er bereits seit Monaten über ein detailliertes Wissen über die aktuellen HSV-Finanzen und -Strukturen.

Wüstefeld ließ HSV AG durchleuchten

Nach der Mitgliederversammlung im August, als bei ihm der Plan reifte, eigene Anteile zu kaufen, hat er die HSV AG von A bis Z durchleuchten lassen. Wüstefeld unterzeichnete eine Absichtserklärung zum Kauf von Anteilen und eine Vertraulichkeitserklärung, um anschließend die wichtigsten Abläufe der AG-Organisation zu überprüfen. Und der Status quo, den Wüstefeld vorfand, soll den Unternehmer beunruhigt haben. Einerseits. Andererseits entschied sich der dreifache Papa mit seiner gesamten Familie trotzdem, 5,11 Prozent der Anteile der HSV AG von Mit-Anteilseigner Kühne zu erwerben. Der angebliche Kaufpreis soll sich nach Abendblatt-Informationen bei rund 14 Millionen Euro bewegen.

Dass er nun als Anteilseigner im Vorstand operative Verantwortung übernimmt, hat im Sinne des eigenen Investments seiner Meinung nach nur Vorteile. In der Wirtschaft sei es gängige Praxis, dass man als geschäftsführender Gesellschafter aktiv sei, sagte er. Man würde einen anderen Blick auf die Dinge haben, wenn das eigene Geld betroffen sei.

HSV News: Wüstenfeld will über neue Kredite sprechen

Sein Blick auf den HSV ist jedenfalls ein sorgenvoller. Durch die verschärfte Corona-Situation und die ausbleibenden Zuschauereinnahmen soll die Liquidität aktuell noch bis zum Sommer gesichert sein. „Wir versuchen unter diesen Bedingungen, die außergewöhnlich in der Pandemiezeit sind, das Beste für das Unternehmen noch rauszuholen“, sagt Wüstenfeld, der in den kommenden Monaten – wie zuvor unter Wettstein üblich – mit Banken über mögliche, neue Kredite sprechen will und auf einen neuen, zahlungskräftigen Hauptsponsor oder die Verlängerung mit Orthomol hofft.

„Alle Vereine haben leider mit massiven Einnahmerückgängen zu kämpfen“, sagt der frühe Vogel. „Ich drücke allen Vereinen und Kollegen der Bundesliga und der Zweiten Liga die Daumen, dass sie auch im Sommer noch alle mit an Bord sind.“