Hamburg. Oliver Bierhoff spricht im 100. HSV-Podcast über seine Zeit in Hamburg und die Ziele mit der deutschen Nationalmannschaft.
100 Folgen „HSV – wir müssen reden“ seit dem Start 2019 – da durfte man sich einen ganz besonderen Gast wünschen. Und der Deutsche Fußball-Bund erfüllte dem Abendblatt den Wunsch. Eine Halbzeitlänge plauderte DFB-Direktor Oliver Bierhoff (53) über seine noch immer emotionale Verbindung zu Hamburg, vor allem aber natürlich auch über das Länderspiel gegen Rumänien (20.45 Uhr/RTL live).
Hamburger Abendblatt: Herr Bierhoff, wie eng ist die Bande zu Hamburg und zum HSV heute noch?
Oliver Bierhoff Meine Zeit in Hamburg liegt natürlich schon lange zurück, mehr als 30 Jahre. Aber die Emotion für den HSV ist immer noch da, ich verfolge, was im Verein passiert – in der 2. Bundesliga ehrlicherweise nicht mehr so eng wie in der Bundesliga. Aber ich habe einen guten und engen Kontakt zu Jonas Boldt, den ich sehr schätze. Der HSV ist ein einzigartiger Traditionsverein, dem ich natürlich wünsche, dass er bald wieder erstklassig wird. Ich habe auch noch den einen oder anderen Bekannten dort, zum Beispiel den ehemaligen Aufsichtsratschef Udo Bandow, mit dem ich alle zwei Wochen telefoniere und der mir über die Entwicklung berichtet.
Der HSV steht aktuell hinter St. Pauli. Wird einer der Clubs aufsteigen – oder beide?
Bierhoff: St. Pauli leistet wirklich sehr gute Arbeit und hat eine gute Mannschaft aufgebaut. Vielleicht ist es dort auch etwas einfacher als beim HSV, auf dem der große Druck des Traditionsvereins und die hohe Erwartungshaltung lastet. Ich bin sehr gespannt, wie sich der HSV in dieser Saison macht. Er ist inzwischen, nach drei Jahren Zweitklassigkeit, nun mal ein Zweitligaverein, der vielleicht ein paar mehr Möglichkeiten als andere Clubs hat, Spieler zu verpflichten – der aber nicht mehr mit den Mitteln ausgestattet ist, dass die Zweite Liga ein Selbstläufer sein muss, gerade bei der Konkurrenz. Ich glaube, dass eine Hamburger Mannschaft aufsteigt. Bei St. Pauli mag man es mir verzeihen, wenn ich als ehemaliger Spieler sage: hoffentlich der HSV. Der gehört einfach in die Bundesliga.
Udo Bandow hätte Sie gerne in verantwortlicher Position zum HSV geholt. Warum hat das nie geklappt?
Bierhoff: Er wollte mich mehrmals zum HSV holen, auch schon als Spieler. Damals ist es erst am Trainer oder Sportdirektor gescheitert. Später war ich schon in Italien und dort sehr glücklich. Und als die Anfrage als Sportchef kam, hatte ich meine Tätigkeit beim DFB schon begonnen. Es gab im Laufe der Jahre einige Anfragen, und wenn einer der Topvereine Deutschlands dabei ist, ist es verständlich und legitim, dass man darüber nachdenkt. Aber die Arbeit beim DFB macht mir viel Spaß, wir haben nach wie vor viel vor – deswegen kam das für mich nie infrage.
Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre kurze Spielerkarriere beim HSV?
Bierhoff: Wir hatten damals eine klasse Mannschaft, unter anderem mit Ditmar Jakobs, Sascha Jusufi, Thomas von Heesen. Ich habe neulich einem unserer Nationalspieler erzählt, dass ich mit „Banane“ Manni Kaltz auf dem Zimmer war. Der wusste leider mit dem Namen nichts anzufangen, da bin ich fast umgefallen (lacht). Es war eben eine andere Zeit. Wir hatten noch Doppelzimmer, auch im Verein, und ich war ganz am Anfang mit Manni im Zimmer. Da gab es noch keine Fernbedienungen für die Fernseher, deswegen musste ich immer vom Bett aufstehen, um für ihn umzuschalten. Es war insgesamt eine außergewöhnliche Zeit für mich. Ich war zwar U-21-Nationalspieler, aber mit diesen tollen Fußballern und Persönlichkeiten zu spielen, war schon etwas Besonderes. Und wir haben sogar im Europapokal gespielt.
Manfred Kaltz hatte beim HSV wenig charmanten Spitznamen für Bierhoff
Kaltz hatte damals den ironisch gemeinten Spitznamen Schwätzer. Hat er auch mal mit Ihnen gesprochen oder nur durch Gesten dirigiert?
Bierhoff: Ab und an hat er „Blinder“ zu mir gesagt (lacht). „Blinder, schalt um!“ Er war ein Mann der wenigen Worte, aber trotzdem klasse. Man konnte viel von ihm lernen. Wenn er sauer war, konnte er auf dem Platz richtig hinlangen. Da hat er eher mit Fouls, seinem Körper gesprochen.
Sie waren damals mit 20 noch ein junges Talent. Hatte Trainer Willi Reimann damals zu wenig Geduld mit Ihnen? Sie wurden schon im Dezember 1989 nach Gladbach verliehen.
Bierhoff: In erster Linie war ich nicht gut genug. Ich habe zwar 24 von 34 Spielen gemacht, recht viele also für einen jungen Spieler, und sechs Tore geschossen. Aber ich hatte gute Spieler vor mir, Jan Furtok und Armin Eck. Ich habe mich einfach nicht durchsetzen können, dafür war ich selbst verantwortlich. Aber man hat in dieser Zeit auch ein bisschen wenig mit den Spielern gearbeitet. Einzeltrainings, Arbeiten an Schwächen – das gab es damals nicht, auch nicht in Gladbach oder Uerdingen. Erst in Italien habe ich mit Techniktrainern und Athletiktrainern sehr viel akribischer und detaillierter gearbeitet, und auch darauf führe ich meine Entwicklung zurück.
Rückblickend: Was haben Sie in ihrer Hamburger Zeit gelernt?
Bierhoff: Eine Menge. Zunächst tut es mir natürlich weh, dass ich in diesen anderthalb Jahren die Stadt zu wenig genossen habe. Man trainiert viel, und wenn es sportlich nicht so läuft, wie gewünscht, ist man frustriert, sodass einem gar nicht bewusst wird, was die Stadt einem bietet. Aber ich habe durch die hohe Qualität meiner Mitspieler viel lernen können, auch eine gewisse internationale Härte. Ich habe im Training mal ein schönes Kopfballtor gemacht und dem Ditmar Jakobs einen Spruch gedrückt. Da hat es dann in der nächsten Situation gekracht (lacht). Aber das ist auch gut, so lernst du, dass das kein Jugendfußball mehr ist und dass du dich auf dem Niveau durchsetzen musst. Hamburg war eine ganz andere Dimension, als ich es von Uerdingen gewohnt war, dazu gehörten auch die Medienlandschaft und die Erwartungshaltung.
Das ist inzwischen lange her – wie auch Ihr Start beim DFB. Sie sind seit 17 Jahren im Amt, haben jetzt sogar Angela Merkel überlebt. Müssen Sie sich manchmal kneifen, dass es schon so lange läuft?
Bierhoff: Häufig sogar. Das Ganze ist eigentlich eher als Himmelfahrtskommando für zwei Jahre gestartet. Das war zumindest damals meine Erwartungshaltung. Und dann haben wir entschieden, es noch mal zwei Jahre zu machen, und irgendwie hat es sich immer wieder so ergeben. Es hat Spaß gemacht und war auch sehr erfolgreich. Die vergangenen drei Jahre waren ehrlicherweise zäh und schwer, aber man kann nicht immer nur die Sonnenseite mitnehmen. Und wir haben so viele interessante Projekte: die DFB-Akademie, den neuen DFB-Campus, wir haben mit Hansi Flick einen Neuanfang hingelegt, der Hoffnung macht. Insofern bin ich zwar lange dabei, aber ich spüre immer noch das Feuer vom Anfang.
Warum Bierhoff das Feuer für seinen Job nicht verloren hat
Fällt es Ihnen manchmal schwer, dieses Feuer zu bewahren?
Bierhoff: Es ist ja kein Geheimnis, dass ein Verband naturgemäß manchmal etwas langsamer ist, dass manches etwas zäher läuft als in einem Club. Wenn man zum 50. Mal das gleiche Hindernis überwinden muss, fragt man sich schon manchmal: Wieso mache ich das eigentlich? Aber ich schaue immer stark nach vorne, auch im Erfolg. Als wir Weltmeister geworden sind, hatte ich schon die nächsten Projekte im Kopf, so hole ich mir immer wieder meine Begeisterung. Auch mein Job hat sich im Laufe der Jahre entwickelt. Vor mir gab es keinen Manager für die Nationalmannschaften, und wir haben im Keller des DFB angefangen, mit anderthalb Mitarbeitern – für die wichtigste Mannschaft Deutschlands waren anderthalb von 100 DFB-Mitarbeitern zuständig. Mittlerweile haben wir 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beim DFB, und allein in meiner Direktion arbeiten 180 Menschen.
Reden wir über einen speziellen Mitarbeiter des DFB: Hansi Flick. Er erwartet unter anderem eine Gier von der Mannschaft, Gier aufs dritte und vierte Tor. Sie auch?
Bierhoff: Hansi hat schon als Co-Trainer der Nationalmannschaft und auch als Cheftrainer bei Bayern München gezeigt, dass er auf dem Platz einen positiven Geist und Hunger nach immer mehr sehen will. Ergebnisse allein reichen nicht mehr. Wir müssen leidenschaftlich auftreten, unseren Fans offensiven, attraktiven Fußball bieten – allemal, wenn wir wie zuletzt auf Gegner wie Island oder Liechtenstein treffen. Uns wurde oft vorgeworfen, dass das Spiel der Mannschaft zu leidenschaftslos war, dass Identifikation fehlte. Dies zu ändern, ist enorm wichtig, die Leidenschaft muss man im Spiel und auch bei allen Auftritten der Mannschaft außerhalb der Spiele spüren.
Der Start war mit drei Siegen erfolgreich. Welche nächsten Schritte erwarten Sie nun?
Bierhoff: Wir wollen den Trend fortsetzen. Es sind keine leichten Spiele, aber wir wollen sechs Punkte holen und gegen Nordmazedonien die Niederlage aus dem März wettmachen. Wir müssen mutig spielen. Man hat gegen Liechtenstein gesehen, dass die Mannschaft Selbstvertrauen braucht. Sie hat sich schwergetan, weil die Tore nicht sofort fielen. In den anderen Spielen hat es die Mannschaft besser gemacht. Dieses Selbstverständnis wollen wir jetzt weiterentwickeln.
Hansi Flick ist nach außen ein sehr sichtbarer Bundestrainer, besucht viele Spiele. Wie wirkt er nach innen?
Bierhoff: So wie Hansi nach außen ist, ist er auch nach innen: sehr authentisch. Es war immer seine Stärke, dass er sehr natürlich und klar ist. Er hat klare Vorstellungen, was er will, er gibt die Richtung vor. Aber er nimmt alle mit. Er schafft es mit seiner positiven charmanten Art immer wieder, seine Gedanken Leuten zu vermitteln, um sie in seine Richtung zu stoßen – ohne dass sie das Gefühl haben, sie werden dorthin geprügelt.
In welchem Bereich der neue Bundestrainer Hansi Flick anders arbeitet als Joachim Löw
Bringt er sich auch stärker in Themen wie der Nachwuchsförderung ein?
Bierhoff: Auf jeden Fall. Hansi geht es natürlich am Anfang erst mal vornehmlich darum, dass die A-Nationalmannschaft in Fahrt kommt. Aber ich habe bei den Vertragsgesprächen schon angesprochen, dass ich einen aktiven Bundestrainer will. Als ehemaliger DFB-Sportdirektor hat er unsere Konzepte teilweise mit entworfen und entwickelt. Er kennt sich in den Themen aus und ist dazu sehr innovationsfreudig. Er greift vieles auf, er fragt nach, er arbeitet viel mit Daten. Er hat sich schon einige Male mit unseren Ausbildern und U-Nationaltrainern getroffen, um seine Wünsche und Gedanken einzubringen und wird das weiter tun.
War es dann ein Versäumnis, dass diese Verzahnung unter Löw nicht so da war?
Bierhoff: Es war eine andere Interpretation der Rolle. Jogi ist ein anderer Mensch. Wir haben immer wieder auch beim DFB diskutiert: Inwieweit ist ein Bundestrainer ein Projektleiter, und inwieweit ist er so, wie man es aus der Historie von Sepp Herberger kennt, der Bücher geschrieben, die Ausbildung gemacht und die Mannschaft trainiert hat. Seitdem ist aber alles komplexer und vielfältiger geworden. Jogi war nie so dominant, er hat gesagt: Ich sage doch einem Ausbilder nicht, was er zu tun hat, ich kümmere mich um die A-Nationalmannschaft.
Apropos Jogi: Erst hörte man, er werde in Hamburg verabschiedet.
Bierhoff: Wir wollten lieber noch etwas Zeit verstreichen lassen. Jetzt wird er im November in Wolfsburg verabschiedet – gemeinsam mit Andreas Köpke, Thomas Schneider, Urs Siegenthaler und Sepp Schmitt, der über Jahrzehnte unser Orthopäde war. Man merkt allen an, dass die Zeit beim DFB lang und intensiv war und dass man ihnen Zeit lassen muss, um etwas Abstand zu gewinnen.
Haben Sie noch Kontakt zu Jogi Löw?
Bierhoff: Natürlich. Nicht täglich oder wöchentlich, aber wir sprechen hin und wieder. Ich lasse ihm etwas Luft, Dinge sacken zu lassen. Diese Woche erst habe ich mit Andreas Köpke und Thomas Schneider gesprochen. Mir ist wichtig, ihnen zu zeigen, dass sie auch in der Zeit unseres Neuanfangs nicht vergessen sind. Aber man merkt, dass alle damit beschäftigt sind, ihren neuen Weg zu finden.
Flick hat nun zum zweiten Mal einen Kader für Länderspiele zusammengestellt. Müssen sich Spieler wie Mats Hummels, die erneut nicht dabei sind, Sorgen machen, ob sie weiter dazu gehören?
Bierhoff: Nein, überhaupt nicht. Hansi hält den Kontakt zu den Spielern, mit Mats Hummels hat er sehr offen und direkt gesprochen. Es gibt einige Spieler mit toller Qualität, die derzeit nicht dabei sind: Julian Draxler, Julian Brandt oder Mario Götze. Auch zu denen hat Hansi Kontakt, aber er muss eben einen gewissen Kreis auswählen. Und eine Stärke von Hansi ist, dass er Entscheidungen trifft, manchmal auch harte Entscheidungen. Wenn er das Gefühl hat, dass jemand nicht so weit ist, körperliche Probleme hat oder eine Pause braucht, spricht er das klar an. Aber die Chancen sind für jeden weiter da. Natürlich baust du als Trainer eine Mannschaft auf, du hast ein gewisses Konstrukt, du kennst deine Spieler. Aber es ist noch ein Jahr bis zum nächsten Turnier und es kommt doch häufig vor, dass sich Spieler kurzfristig besonders positiv entwickeln oder eine Schwächephase haben. Und deswegen ist bei der Nationalmannschaft, für die es kein Transferfenster gibt, die Tür immer bis zum Schluss offen.
Bierhoff mit Sonderllob für Generation Kimmich/Goretzka
Inzwischen dominiert aber die Generation Kimmich/Goretzka. Was trauen Sie ihr zu?
Bierhoff: Den Jungs traue ich alles zu. Sie sind unglaublich hungrig, sie haben große Ambitionen. Man merkt, dass sie mit einer sehr erfolgreichen Nationalmannschaft aufgewachsen sind, unter anderem mit dem Sommermärchen 2006 und der Weltmeisterschaft 2014. Und sie haben den Anspruch, nun selbst so eine Geschichte zu erzählen. Deswegen hat es mich sehr gefreut, dass Manuel Neuer, der schon zur älteren Generation in der Mannschaft gehört, gesagt hat: Wir wollen Weltmeister werden.
Sie hätten sicher auch nichts dagegen.
Bierhoff: Auf keinen Fall. Aber es ist gleichzeitig auch schwierig, solche Aussagen zu tätigen, dann sagen viele: Was will der denn nach drei mageren Jahren, der soll erst mal kleinere Brötchen backen. Aber auch Hansi hat gesagt, dass man als deutsche Nationalmannschaft immer einen hohen Anspruch hat. Italien war bei der EM nicht die Mannschaft mit den stärksten Einzelspielern. Das zeigt: In einem Turnier ist alles möglich. Wir haben große Qualität, und deswegen sollten wir uns das Ziel setzen, bei der WM weit zu kommen – ohne zu behaupten, dass uns das selbstverständlich gelingen wird.
Kann man sich uneingeschränkt auf ein Turnier in einem umstrittenen Land wie Katar freuen? Die Diskussionen werden die Mannschaft ja begleiten bis zum Turnier.
Bierhoff: Uns haben vor Südafrika 2010 und Brasilien 2014 auch viele Diskussionen begleitet. Es ist aber auch so, dass diese Themen einen Tag nach dem Turnier sofort aus dem Blickfeld geraten. Nicht nur für den Fußball, für den gesamten Sport ist die Vergabe von Spielorten ein brisantes Thema. Denn Aspekte wie Menschenrechte und Nachhaltigkeit spielen eine immer größere Rolle. Das Thema wird uns weiter begleiten, deswegen machen wir uns auch regelmäßig schlau, etwa im Austausch mit Experten von Amnesty International. Und die bescheinigen Katar eine relativ positive Entwicklung. Entsprechend gehen wir das an: Wir werden nach Katar fahren, ein Boykott spielt für uns keine Rolle. Und dann werden wir uns überlegen, was wir vor Ort ansprechen und welche Aktivitäten wir starten, um weiter positiv einzuwirken.