Hamburg. Vor sechs Jahren wurde der Stürmer als größtes HSV-Talent seit Seeler gefeiert. Dann kamen Bayern und die Millionen. Was ist seitdem passiert?

  • Hinweis: Liebe Leser, dieser Text wurde vor drei Jahren von uns publiziert. Weil Fiete Arp mit Holstein Kiel an diesem Sonnabend (20.30 Uhr) nun auf „seinen“ HSV trifft, veröffentlichen wir die Geschichte von seinem kometenhaften Aufstieg und den Geschehnissen danach bei Bayern München noch einmal. Wir haben den Artikel unverändert gelassen, sein späterer Wechsel zu Holstein Kiel ist also nicht berücksichtigt.

Pünktlich zur Mittagszeit am Sonnabend hatte sich ein Wahlmünchner unter die 250 Zuschauer im Grünwalder Stadion gemischt, den die meisten Anhänger der zweiten Mannschaft des FC Bayern eher auf dem Platz erwartet hatten. Jann-Fiete Arp saß auf der Tribüne und drückte seinen Kollegen im entscheidenden Spiel gegen den Halleschen FC die Daumen.

Er saß aber nicht bei den anderen Auswechselspielern, sondern 20 Reihen weiter oben. Ohne Trainingsanzug, ohne Trikot – und ganz schnell auch ohne Hoffnung auf den Klassenerhalt des bis dahin amtierenden Drittligameisters. Bereits nach 25 Sekunden hatte Halles Manu Braydon das Tor des Tages geschossen. Die restliche Geschichte des Spiels war dann schnell erzählt, der Abstieg des Bayern-Nachwuchses in die Regionalliga 90 Minuten später besiegelt.

Die Geschichte von Arp, den alle nur Fiete nennen, dauert länger als 90 Minuten. Es ist die Geschichte eines kometenhaften Aufstiegs und eines tiefen Falls. Es geht um große Gefühle, große Hoffnungen und einen großen Haufen Geld. Es ist die Story eines Hamburger Jungen, geboren in Bad Segeberg, die Raute im Herzen, der nach dem HSV-Abstieg auszog, um die Welt zu erobern – und von der Fußballwelt erdrückt wurde.

Fiete Arp: die Geschichte eines kometenhaften Aufstiegs und eines tiefen Falls

Doch wie konnte es dazu kommen? Um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, hat das Abendblatt in den vergangenen Wochen zahlreiche Gespräche mit Menschen aus Arps direktem Umfeld geführt. Mit seinem Berater, seinen Trainern, Sportchefs, Clubverantwortlichen und seinem früheren Lehrer.

Auch Arps Eltern erhielten das Angebot, sich persönlich auszutauschen. Sie lehnten genauso ab wie Arp selbst. Gesprochen hat der 21-Jährige aber doch. Mit dem „Kicker“. Dort sagte er vor wenigen Wochen in einem Interview: „Ich bin wahrscheinlich an mir selbst gescheitert.“

Doch stimmt das überhaupt? Kann ein gerade einmal 21 Jahre alter Fußballer, der noch vor Kurzem mit der Fritz-Walter-Medaille als bester Nachwuchsspieler seines Jahrgangs ausgezeichnet wurde, tatsächlich schon gescheitert sein? Und vor allem: an sich selbst? Ein blitzgescheiter Junge, der ganz nebenbei den Führerschein und das Abitur machte, keine Allüren haben soll und keinem Fan ein Autogramm verweigern konnte?

Arps Lehrer: "Es war alles zu viel"

„Aus meiner Sicht kam bei Fiete einfach alles zusammen: die U-17-WM, das Abitur, die Verhandlungen mit den Bayern und die Aufgabe, den HSV zu retten. Das war zu viel“, sagt Knut Rettig. Der Koordinator Leistungssport von der Eliteschule des Fußballs Heidberg war Arps Lehrer in PGW (Politik, Gesellschaft, Wirtschaft).

„Fiete hat sich bei uns in der Schule top verhalten“, sagt er. „Das war nicht einfach. Quasi in jeder Pause sind die Fünft- und Sechstklässler zu ihm hin und haben ihn angehimmelt. Doch das hat Fiete nicht gestört. Er hat gerne Selfies auf dem Schulhof gemacht.“

„Ham­burgs Sturmju­wel“ und „Super-Bubi Arp“

Und er hat auch gerne im Unterricht mitdiskutiert. „Die Finanzkrise hat ihn sehr interessiert“, erinnert sich Rettig. „Auch den Bereich Medien fand Fiete faszinierend.“

Man kann sagen: Das beruht auf Gegenseitigkeit. Spätestens nach der U-17-Weltmeisterschaft in Indien, bei der Arp in fünf Spielen fünf Tore erzielte, war das mediale Interesse an ihm kaum noch zu stoppen. Es wurde von „Ham­burgs Sturmju­wel“ oder vom „Super-Bubi Arp“ geschrieben.

Der HSV bot Arp eine Medienschulung an

Auch beim HSV wurde der Hype um den Teenager schnell erkannt. Nach der Rückkehr aus Indien wollte man Arp auf den Ansturm bestmöglich vorbereiten. Der damalige Pressesprecher Till Müller bot eine Medienschulung an – und war anschließend schwer beeindruckt: „Ich habe noch nie jemanden getroffen, der mit 17 Jahren im Kopf schon so reif und weit war oder so weit schien wie Fiete.“

Beim HSV war man sich schnell sicher: Dieser Arp ist nicht nur ein Volltreffer auf dem Platz, sondern auch abseits des Platzes. Bei einem A-Jugendspiel in Hannover, das der HSV 6:1 gewann, schoss das Ausnahmetalent alle sechs Tore. Genauso treffsicher präsentierte sich Arp nach den Spielen. In Interviews antwortete der Youngster smart, intelligent, höflich, freundlich.

Der Hype um „Uns Fiete“ nahm ungeahnte Formen an

Der Plan, das Talent ganz in Ruhe aufzubauen, wie es der frühere HSV-Sportdirektor Bernhard Peters noch Anfang September 2017 bekräftigte, konnte aber nicht gut gehen. Bereits Ende September wurde Arp, der theoretisch noch immer in der U 17 hätte spielen können, erstmals beim 0:0 gegen Werder Bremen in der Bundesliga eingewechselt. Eine Woche später folgte sein erstes Bundesligator gegen Hertha, sieben Tage später sein erster Einsatz von Anfang an und sein zweites Tor gegen Stuttgart.

„Seine beiden Tore waren nicht sein Glück, sondern sein Pech“, sagt Knut Rettig dreieinhalb Jahre später. „Von einem auf den anderen Moment war Fiete der Heilsbringer des HSV. Dieser Sache war er einfach nicht gewachsen.“

Ins Netz gegangen: Fiete Arp nach seinem ersten Bundesligatreffer für den HSV bei der 1:2-Niederlage bei Hertha BSC am 28. Oktober 2017.
Ins Netz gegangen: Fiete Arp nach seinem ersten Bundesligatreffer für den HSV bei der 1:2-Niederlage bei Hertha BSC am 28. Oktober 2017. © Imago/Jan Hübner

Der Hype um „Uns Fiete“ nahm Formen an, die es in dieser Form beim HSV schon lange nicht mehr gab. Ein Junge aus dem Nachwuchs, der alle Mannschaften seit der U 11 durchlaufen hat und zudem ein riesengroßer HSV-Fan ist – perfekter Stoff für ein modernes Fußballmärchen.

„Wahrscheinlich war alles zusammengenommen zu viel“, sagte Arp rückblickend in dem „Kicker“-Interview. „Vielleicht hätte ich all das Lob konsequenter in Selbstvertrauen ummünzen müssen. Mich hat es eher ausgebremst.“ All die Schlagzeilen, der Jubel, die Erwartungen, Deutschlands neuer Superstürmer zu werden. „Ich habe es gelesen und mir gedacht, dass es völlig übertrieben ist. Du machst dich dadurch schwächer, obwohl andere dich stärker sehen. Das war mein Problem“, sagte Arp.

Die jüngsten Torschützen der Bundesliga-Geschichte

1. Youssoufa Moukoko (Borussia Dortmund)

Am 18. Dezember 2020 im Alter von 16 Jahren und 28 Tagen

2. Florian Wirtz (Bayer Leverkusen)

Am 6. Juni 2020 im Alter von 17 Jahren, 1 Monat und 3 Tagen

3. Nuri Sahin (Borussia Dortmund)

Am 26. November 2005 - 17 Jahre, 2 Monate und 21 Tagen

4. Julian Draxler (Schalke 04)

Am 1. April 2011 - 17 Jahre, 6 Monate und 12 Tage

5. Timo Werner (VfB Stuttgart)

Am 22. September 2013 - 17 Jahre, 6 Monate und 16 Tage

6. Jamal Musiala (Bayern München)

Am 18. September 2020 - 17 Jahre, 6 Monate, 23 Tage

7. Christian Pulisic (Borussia Dortmund)

Am 17. April 2016 - 17 Jahre, 6 Monate und 30 Tage

8. Lars Ricken (Borussia Dortmund)

Am 11. März 1994 - 17 Jahre, 8 Monate und 1 Tag

9. Ibrahim Tanko (Borussia Dortmund)

Am 1. April 1995 - 17 Jahre, 8 Monate und 7 Tage

10. Jann-Fiete Arp (Hamburger SV)

Am 28. Oktober 2017 - 17 Jahre, 9 Monate und 22 Tage

11. Kai Havertz (Bayer Leverkusen)

Am 2. April 2017 - 17 Jahre, 9 Monate und 25 Tage

12. Mark-Andre Kruska (Borussia Dortmund)

Am 21. Mai 2005 - 17 Jahre, 10 Monate und 22 Tage

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Arp: „Es ist utopisch, dass ich den HSV alleine rette“

Zum Problem wurde seine Situation allerdings erst, als der Anfangszauber verflog, die Zeitungen anfingen, die Minuten zu zählen, seitdem er nicht mehr getroffen hatte, und die komplette Last des Klassenerhalts auf den Schultern dieses schmächtigen Teenagers lag. Im Wintertrainingslager in Jerez de la Frontera war das Dilemma nicht mehr zu übersehen. „Es ist utopisch, dass ich den HSV alleine rette“, sagte Arp am Vortag seines 18. Geburtstags.

„Der HSV hätte sich schlauer verhalten können. Fiete hatte zu viele Dinge auf einmal zu erledigen“, sagt Lehrer Knut Rettig, der immer mehr spürte, dass sein Schüler dieser Verantwortung und dem Druck nicht mehr standhielt. „Diese ganzen Baustellen konnte Fiete irgendwann auch nicht mehr körperlich wegstecken. Da fing das System an zu kippen. Man hätte ihn besser schützen und rausnehmen müssen.“

Doch was dreieinhalb Jahre später so leicht klingt, war damals extrem schwer. Der HSV stand kurz vor dem ersten Abstieg seiner Clubgeschichte – und ein Teenager war die letzte Hoffnung. Diese Rechnung konnte nicht aufgehen.

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Als das Unvorstellbare dann tatsächlich eintrat, wollte Fiete Arp nur eines: weg. „Am Tag nach dem Abstieg saß ich komplett fertig bei den Eltern meiner Freundin auf der Couch“, verriet Arp einmal dem Clubmagazin „HSVlive“. „Meine Freundin hatte für sich einen Kanada-Urlaub gebucht. Ihr Vater hat dann vorgeschlagen, dass ich einfach abhauen und mit ihr fahren soll.“

Gesagt, getan. Arp quartierte sich in einer Holzhütte mitten im Wald ein – ohne Internet, ohne deutsche Zeitungen, ohne HSV. Der junge Fußballer freundete sich mit Gastgeberin Gaby an. „Sie war für mich wie ein Engel in der Not. Genau der Mensch, den ich in diesem Moment brauchte und der nicht ständig Fragen zum HSV gestellt hat“, erinnerte sich Arp.

Arp wollte um jeden Preis bei seinem Herzensclub bleiben

Das Problem an so einer Flucht aus der Realität: Irgendwann muss man zurück. „Ich bin erst 18, aber ich habe Dinge erlebt, die andere Menschen in 35 Jahren nicht erleben“, sagte Arp damals – ohne zu wissen, dass die heftigsten Monate noch vor ihm liegen würden.

Denn die Frage, wie es nach dem Abstieg mit dem HSV und dem umworbenen Supertalent eigentlich weitergehen soll, war noch nicht beantwortet. Zumal ausgerechnet der FC Bayern seit Monaten großes Interesse an dem Nachwuchs-Nationalspieler zeigte und nach zahlreichen Gesprächen mit Berater Jürgen Milewski, Arps Vater Falko und dem neuen HSV-Sportvorstand Ralf Becker ernst machte.

Arp sollte 30 Millionen Euro verdienen

Dem Vernehmen nach hatten die Bayern ein fast schon unmoralisches Angebot unterbreitet, das Arp über fünf Jahre ein Gesamtvolumen von 30 Millionen Euro einbringen sollte. Welcher Teenager soll so eine obszöne Menge an Geld ablehnen?

Die Antwort: Arp! Tatsächlich wollte der Stürmer, dessen erster Profivertrag beim HSV mit 26.000 Euro dotiert war, um jeden Preis bei seinem Herzensclub bleiben. Trotz des vielen Geldes aus München. Trotz des Abstiegs. Trotz aller Ratschläge seiner Familie und seines Beraters. „Es ist ein Klischee, dass ein Wechsel als sehr junger Spieler zu den Bayern nicht funktionieren kann. Es gibt keinen Club, bei dem junge Talente so viele Möglichkeiten bekommen wie bei den Bayern“, sagt Berater Milewski dem Abendblatt.

„Als Bayern-Talent hat man grundsätzlich sehr viel bessere Perspektiven als bei manch anderem Verein. Die Umgebung bei den Bayern ist für einen jungen Spieler ausgezeichnet. Und deswegen hat Fiete das Angebot von den Bayern auch ganz bewusst angenommen. Niemand hat ihn gezwungen.“

HSV wurde quasi gezwungen, eine Vertragsverlängerung mit Arp vorzugaukeln

Gezwungen nicht, überredet schon. So hatte sich Arp während der Sommervorbereitung im österreichischen Bad Erlach gegen einen Wechsel zu den Bayern entschieden – und die Entscheidung auch Sportvorstand Becker mitgeteilt. Dieser war sich mit den Bayern einig gewesen und bestand nun darauf, dass Arp seine Entscheidung dann den Bayern persönlich ins Gesicht sagen sollte.

Unbemerkt schmuggelte Becker Arp an den mitgereisten Journalisten vorbei durch die Tiefgarage und machte sich mit ihm auf den Weg nach München, wo sie mit Bayern-Präsident Uli Hoeneß und Sportchef Hasan Salihamidzic im Edelrestaurant „Käfer“ verabredet waren. Dort erklärte Arp den Bayern-Granden, dass er beim HSV bleiben wolle. Hoeneß war beeindruckt und herausgefordert zugleich. Dass ein junger Spieler, den der FC Bayern verpflichten will, ablehnt, konnte er sich nicht vorstellen.

Am Ende des Mittagessens, bei dem sich vor allem Hoeneß den Bedürfnissen Arps annahm, hatte sich die Runde auf einen Kompromiss geeinigt: Bayern durfte Arp unter Vertrag nehmen, würde ihn aber noch mindestens eine Saison beim HSV parken. Die Bedingung: Offiziell sollte der Deal noch nicht kommuniziert werden, wodurch der HSV quasi gezwungen wurde, zunächst eine Vertragsverlängerung mit Arp vorzugaukeln.

Wie Arp zum HSV-Objekt der HSV-Fans wurde

Und an dieser Stelle nahm das Unheil seinen Lauf. Denn aus der Win-win-Situation wurde bald eine Lose-lose-Geschichte. Zunächst konnte Arp in der 2. Liga nicht wie erhofft glänzen – dann wurde auch noch der Hinterzimmer-Käfer-Deal öffentlich.

„Uns Fiete“ wurde von einem auf den anderen Moment zum Hassobjekt der HSV-Fans – ohne selbst etwas dafür zu können. „In meiner Zeit als Pressesprecher beim HSV habe ich keinen anderen Profi kennengelernt, der die Raute so sehr im Herzen eintätowiert hat wie Fiete“, erinnert sich Till Müller. „Auch wenn einige Fans es ihm nach seinem Wechsel abgesprochen haben: Der HSV ist sein Herzensverein.“

Ein Herzensverein, den Arp dann aber doch verließ, verlassen musste. „Aus meiner Sicht war nicht der Wechsel zu den Bayern das Problem, sondern die Zeit davor“, sagt Lehrer Rettig heute, der aber schon damals seine Zweifel hatte: „Dass es Fiete bei den Bayern nicht packt, ist vielleicht nicht wirklich überraschend. Und trotzdem hätte es wahrscheinlich jeder so gemacht.“

Geschichte Arps soll nicht in einem Albtraum enden

Zunächst hatte Arp bei den Bayern kein Glück, dann kam auch noch Pech dazu. „Mein erstes Jahr in München ist sehr schwierig gewesen: Eingewöhnung, Verletzungen“, sagte Arp dem „Kicker“. Nachdem er sich bei den Profis nicht durchsetzen konnte (null Bundesliga-Einsätze), entschied er sich im Sommer für einen Neustart bei Bayern II.

„Ich wollte das Jahr nutzen, um endgültig beim FC Bayern anzukommen“, sagte Arp, der sich aber erneut nicht durchsetzen konnte. Als am Wochenende Trainer Danny Schwarz befragt wurde, warum er im wichtigsten Spiel der Saison Arp nicht einmal mehr für den Kader nominierte, antwortete der nur lapidar, dass es jede Woche harte Entscheidungen gebe.

Diese müssen Arp und sein Berater nun auch im Sommer treffen. „Am Ende der Saison werden wir uns zusammensetzen und die nächsten Schritte gemeinsam überlegen“, sagt Milewski. Wieder wird es um Hoffnungen, Gefühle und wohl auch um eine Menge Geld gehen, auf das Arp nun möglicherweise bei einem anderen Club verzichten müsste. Vor allem soll es um eines gehen: dass die Geschichte Arps, die so traumhaft begann, nicht in einem Albtraum endet.