Hamburg. Warum scheitert der HSV immer, wenn er etwas erreichen kann? Warum werden so viele Spieler immer schlechter? Eine Ursachenforschung.
Vor nicht allzu langer Zeit wurde im Volkspark von einem Experiment erzählt. Einem Affenexperiment. Es ist nicht eindeutig belegt, ob dieses Experiment tatsächlich in dieser Form stattgefunden hat. Es wäre aber ein Erklärungsansatz dafür, dass der HSV am Sonntag beim VfL Osnabrück zum dritten Mal in Folge den Aufstieg verspielt hat und man sich rund um den Club mal wieder die Frage stellt, warum der HSV immer dann scheitert, wenn er etwas erreichen kann.
Das Experiment, das amerikanische Forscher vor vielen Jahren durchgeführt haben sollen, geht in etwa so: Fünf Affen befinden sich in einem Käfig. Über einer Leiter hängt eine Banane. Jedes Mal, wenn einer der Affen auf die Leiter klettert und kurz vor dem Ziel die Banane zu erreichen scheint, werden die übrigen Affen mit einem kalten Wasserstrahl besprüht. Nach einer Weile wird einer der Affen im Käfig ausgetauscht.
Spieler vom HSV wurden immer schlechter
Als der Neue auf die Leiter klettert, um die Banane zu holen, wird er von den anderen Affen durch lautes Geschrei daran gehindert. Das Experiment geht weiter. Nach und nach werden nun alle Affen ausgetauscht, bis keiner von ihnen mehr im Käfig ist, der zuvor mit dem kaltem Wasserstrahl besprüht wurde. Und was passiert? Am Ende traut sich keiner der Affen mehr, auf die Leiter zu klettern und die Banane zu erreichen, weil ihnen im Unterbewusstsein weitergegeben wurde, dass man das eben nicht tun sollte.
An dieser Stelle sind wir wieder bei den HSV-Spielern. Um der rätselhaften Frage nachzugehen, warum Fußballer beim HSV in den vergangenen Jahren fast durchgehend schlechter wurden, je länger sie im Volkspark dabei waren, hilft zunächst erneut ein Schwenk in die Forschung. Europäische Studien gehen davon aus, dass Menschen zu 70 Prozent vom Unterbewusstsein gesteuert werden. Diese Verhaltensmuster beeinflussen das menschliche Handeln, Denken und Fühlen. Der Vergleich zum Affenexperiment könnte also durchaus helfen, um das Grundsatzproblem des HSV zu verstehen.
Gewohnheiten werden beim HSV zur Tradition
Am Sonntag standen in der Hamburger Startelf in Osnabrück elf Spieler, von denen mehr als die Hälfte erst seit dieser Saison das HSV-Trikot trägt. Vier Spieler waren dabei, die vor einem Jahr zumindest einmal den schmerzhaften Griff nach der Banane erlebten. Und an der Seitenlinie stand mit Horst Hrubesch ein Trainer, der beim HSV die goldenen Zeiten repräsentiert und davon freizusprechen ist, die Verhaltensmuster der vergangenen Jahre nach nur einer Woche übernommen zu haben. Scheiterten sie, weil der HSV zuletzt immer scheiterte?
Das Affenexperiment findet man in Aufsätzen in verschiedenen Variationen, wahlweise etwa mit Stromschlägen anstelle von Wasserstrahlen. Es wird in Seminaren für Führungskräfte heutzutage gerne als Beispiel genutzt, um aufzuzeigen, wie alte Strukturen und Gewohnheiten in Firmen aufgebrochen werden können, um neue Leit- und Leistungskulturen zu entwickeln.
Das Problem der Gewohnheiten: Sie finden zum Großteil im Unterbewusstsein statt. Man hinterfragt sie nicht. Erst schleichen sie sich ein, dann nisten sie sich im Unterbewusstsein ein. Von dort aus bestimmen sie das tägliche Handeln. Gewohnheiten werden zur Tradition. Und damit sind wir wieder beim HSV, dem Traditionsclub aus dem Volkspark.
HSV tauscht Spieler, aber nicht Gewohnheiten
Was aber ist die Tradition des HSV? Na klar, die Erfolge von früher. Sechsmal deutscher Meister. Dreimal Pokalsieger. Immer Erste Liga. Und so weiter. Schnee von gestern. Die Tradition von heute besteht beim HSV dagegen hauptsächlich darin, regelmäßig seine Affen, in diesem Fall seine handelnden Personen, auszutauschen. Die Gewohnheiten aber bleiben. Im Positiven wie im Negativen.
Jonas Boldt hat diese wissenschaftlichen Erkenntnisse nach der Niederlage in Osnabrück sogar unterbewusst genutzt, als er nach den Gründen für das wiederkehrende Scheitern gefragt wurde. Dabei nannte er „diese Euphorie, die in Hamburg schnell aufkommt und uns allen auch gefällt“. Die gleichzeitig aber dafür sorge, dass sich alle handelnden Personen auf dem zwischenzeitlich Erreichten ausruhten.
Dabei hat Boldt sogar recht, wenn er davon spricht, eine neue Identität aufbauen zu müssen. Aber was tut der HSV dafür?
Ursachenforschung führt zu Hoffmann
Fast ein Jahr lang hat der Sportvorstand von Entwicklung gesprochen. Ob sich beim HSV in diesem Jahr etwas positiv entwickelt hat, ist angesichts des Saisonausgangs kaum zu belegen. Um in der Sprache des Experiments zu bleiben, könnte man sagen, dass Boldt ein paar Affen ausgetauscht hat. An den Verhaltensmustern und Gewohnheiten beim HSV hat sich – trotz der Corona-Pandemie – jedoch kaum etwas geändert. Die neuen Affen haben einfach das gemacht, was die anderen vor ihnen auch machten. Und am Ende erneut verloren.
Der ehemalige Clubchef Bernd Hoffmann hat vor zwei Jahren mal einen interessanten Ansatz gewählt. Er hat sich gelöst von einigen Symbolen der Vergangenheit. Der Stadionuhr. Von Lotto King Karls Lied „Hamburg, meine Perle“ vor den Heimspielen. Doch wenn man nach Gründen sucht, warum der HSV heute da steht, wo er steht, landete man zunächst einmal auch bei Hoffmann. Bei seinen Plänen in seiner ersten Amtszeit zwischen 2003 und 2011, den HSV in zehn Jahren in die Top zehn von Europa zu bringen.
Die Größe des HSV führte immer wieder zu Größenwahn
„Dahin, wo heute Real Madrid und Juve, Chelsea und Porto sind“, sagte Hoffmann 2005 auf einer Mitgliederversammlung. Auf diesem Weg, der verheißungsvoll begann, begann Hoffmann, Geld für teure Spieler auszugeben, das man gar nicht hatte. Zahlungen wurden in die Zukunft verschoben. Mit Spielern wie Ruud van Nistelrooy, Zé Roberto oder Marcus Berg ging Hoffmann All-in. Der HSV spielte europäisch, erlebte aber seine ersten Traumata in den Werder-Wochen und ein Jahr später in Fulham.
Hat der HSV seitdem etwas Grundsätzliches verändert? Wie oft hat man von Verantwortlichen in Hintergrundgesprächen gehört, dass man beim HSV nicht in kleinen Schritten planen könne. Dass man in einer Stadt wie Hamburg, in einem ruhmreichen Verein wie dem HSV, groß denken müsse.
Dem steht dem Verständnis von Leistungskultur nach auch nichts entgegen. Doch die Größe des HSV bedeutete in den vergangenen Jahren immer wieder Größenwahn.
Klassenerhalt im letzten Moment
Dabei gab es genügend Gelegenheiten, ihn zu korrigieren. Der Sommer 2014 war so ein Moment, in dem die Ausgliederung die Chance eröffnete, alles anders und vieles besser zu machen. Doch die Verhaltensmuster blieben gleich. HSVPlus-Revolutionsführer Otto Rieckhoff rief nach der Wahl zur Demut auf.
Und was machte der neue Aufsichtsrat um Karl Gernandt? Holte zunächst mit einem Millionenvertrag Dietmar Beiersdorfer zurück, der mit den Millionen von Investor Klaus-Michael Kühne überteuerte Transfers tätigte, anstatt dem Wahlauftrag zu folgen und eine junge, entwicklungsfähige Mannschaft auf- und Schulden abzubauen.
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Ein Vorgang, den Beiersdorfer 2016 sogar noch einmal wiederholte, als der HSV gerade auf dem Weg war, sich sportlich und wirtschaftlich zu konsolidieren. Halilovic lässt grüßen. Beiersdorfers Nachfolger Heribert Bruchhagen, bekannt geworden für finanzielle Vernunft, holte im Januar 2017 als erste große Amtshandlung mit Kühnes Hilfe den Brasilianer Walace für eine Ablöse von zehn Millionen Euro. Der Klassenerhalt glückte im letzten Moment.
Einen Lerneffekt der Stromschläge? Gab es nicht. Stattdessen verlängerten Bruchhagen und Sportdirektor Jens Todt den Vertrag mit Bobby Wood vorzeitig um vier Jahre inklusive Gehaltsverdoppelung. Es folgte: der Abstieg.
HSV läuft seinen eigenen Ansprüchen hinterher
Weitere drei Jahre und drei verpasste Wiederaufstiege später ist der HSV noch immer ein Club, der seinen eigenen Ansprüchen hinterherläuft. Während die wirtschaftlichen Möglichkeiten in jedem Jahr kleiner werden, bleiben die Ansprüche resultierend aus der Vergangenheit dieselben. Dagegen kann sich der HSV auch gar nicht wehren.
Welcher gegnerische Trainer hat selbst in dieser Saison nicht vor jedem Spiel gegen die Hamburger davon gesprochen, dass der HSV in die Bundesliga gehört? Dass er in der Zweiten Liga doch eigentlich nichts zu suchen habe. Und der Evergreen, den man auch innerhalb des Clubs immer wieder hört, wenn mal wieder ein verantwortlicher Affe ausgetauscht wurde: „Der HSV ist ein großer Verein.“
Große Leistungen vor allem bei internen Machtkämpfen
Abgesehen davon, dass die HSV Fußball AG kein Verein mehr ist, stellt sich mehr denn je die Frage: Was ist heute noch groß beim HSV? Da wäre zum einen die Zahl der Mitarbeiter. Mit 45 Mann wohnt der Mannschaftstross in dieser Woche im Luxushotel Treudelberg in Lemsahl. 292 Mitarbeiter beschäftigte der Club mit Abschluss des Geschäftsjahres 2019/20.
Neben Hannover 96 und Fortuna Düsseldorf leistete sich der HSV in dieser Saison erneut den größten Gehaltsetat. Klar, das große Stadion, die große Fanbasis, die große nationale Aufmerksamkeit, die große Vergangenheit, die große Tradition.
Aber große Leistungen? Die erbrachte der Club vor allem bei internen Machtkämpfen und dem Entlassen von Mitarbeitern. Ein ehemaliger Sportchef sagte vor ein paar Jahren mal hinter vorgehaltener Hand: „Wenn die Fans wüssten, was hier hinter den Kulissen manchmal so los ist.“ Ein echtes Affentheater.
Hamburger Club muss neue Wege gehen
Wie aber kommt der HSV aus diesem Kreislauf heraus? Er könnte sich jetzt darauf beschränken, wieder nur den Trainer zu tauschen, der sich irgendwann zum Affen macht, weil er auf seinem Weg alleingelassen wird. Aber das wird nicht reichen. Dafür ist der HSV nach Jahren des Misserfolgs zu sehr durchzogen von negativer Energie. Das fängt im Kabinentrakt im Erdgeschoss an und geht auf der Geschäftsstelle im ersten Stock weiter. Der HSV, das wird mit jeder Saison ersichtlicher, muss sich von innen heraus verändern.
Er muss neue Wege gehen, sich auf vielen Ebenen neu erfinden. Er muss sich lösen von all den Spielern wie Aaron Hunt, die die Negativität seit Jahren mit sich herumtragen und die neuen Spieler mit ihrer Energie anstecken. Er braucht eine Führung, die ungeachtet der Gefahr von Stromschlägen oder Wasserstrahlen eine Strategie entwickelt, um mit Mut und klugen Visionen die Ziele zu erreichen.
Das ist kompliziert, denn der HSV bleibt eben auch der HSV, die Raute bleibt die Raute, und das Volksparkstadion bleibt das Volksparkstadion. Das ist der Fluch der Tradition.
HSV muss lernen: Tradition nicht gleich Gewohnheit
Der HSV könnte es schaffen, wenn Tradition nicht Gewohnheit bedeutet. Wenn er Verhaltensmuster verändert. Wenn er Spieler findet, die nicht zum HSV kommen, weil sie hier den besten Vertrag unterschreiben können. Wenn er Mitarbeiter findet, die nicht wegen der schönen Stadt nach Hamburg kommen. Wenn er Führungskräfte findet, die sich nicht in politische Grabenkämpfe verstricken, weil sie ihre Position sichern wollen.
Nur dann kann sich beim HSV wirklich etwas Grundlegendes verändern. Sonst heißt es tatsächlich irgendwann: Klappe zu, Affe tot.