Hamburg. Der HSV-Torhüter hat früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Im Interview spricht er auch über eine tragische Familiengeschichte.

Für Sven Ulreich wird es eine Reise in die Heimat, wenn der HSV am Sonnabend nach Stuttgart fliegt. Am Tag danach steht für den Torhüter und sein Team das Auswärtsspiel beim 1. FC Heidenheim (13.30 Uhr) an. Zuvor nahm sich Ulreich Zeit, über seine schwäbische Herkunft, seine Familie und über die Situation beim HSV zu sprechen.

Herr Ulreich, Sie haben vor Jahren folgenden Satz gesagt: „Jung und erfahren gibt es im Fußball nicht. Das gibt es nur auf dem Straßenstrich.“ Wissen Sie noch, wann das war?

Sven Ulreich Sehr genau sogar. Es war 2011 nach einem Spiel mit dem VfB Stuttgart bei Eintracht Frankfurt. Wir haben 2:0 gewonnen, und ich habe ein sehr gutes Spiel gemacht.

Zuvor hatte Sie Trainer Bruno Labbadia aus dem Tor genommen. Es entbrannte die Debatte, Sie seien noch nicht reif genug.

Als jungem Spieler wird einem oft vorgeworfen, dass man noch nicht erfahren genug sei. Aber wie auch? Man muss diese Erfahrungen doch erst sammeln. Niederlagen und Fehler gehören dazu, damit man wachsen kann. Ich bin heute erfahrener, aber man macht natürlich trotzdem noch Fehler und kann wachsen.

Lesen Sie Zeitung?

Nein.

War das als junger Spieler anders?

Vielleicht ein bisschen. Ich habe mich als junger Drittligatorwart auch gefreut, wenn ich im „Kicker“ markiert wurde, weil ich zu den besten Spielern gewertet wurde. Aber letztlich bringt es dir nichts. Ich will nicht respektlos klingen, aber die Zeitungen können ein Fußballspiel gar nicht so detailliert analysieren, wie es nötig wäre. Die Analyse des Trainers ist die entscheidende, dazu die eigene Erfahrung. In den Zeitungen wird es zum Teil übertrieben dargestellt. Das muss vermutlich auch so sein, damit sie gelesen werden.

Die Überschriften am Montag nach dem Bochum-Spiel waren teils heftig. „Alles echt schlecht („Bild“)“, „Gruselrückfall („Mopo“)“ oder „Klare Anzeichen für eine Krise („Kicker“)“. Kommt das beim Team an?

Bei mir zumindest nicht. Wir haben ein Spiel verloren. Und das nicht, weil Bochum so viel besser war, sondern weil wir es nicht gut gemacht haben. Für uns war das nach der Analyse am Montag abgehakt. Wir spielen bislang eine gute Saison, sind Tabellenführer. Eine Krise auf Platz eins? Respekt! Das kenne ich nur von den Bayern. Da wurde auch schnell etwas angedichtet.

Bei den Bayern ist nach drei Spielen ohne Sieg eine Krise automatisch da.

Und hier nach einem Spiel (lacht). Aber im Ernst. Wo es eine große Medienlandschaft gibt, findet man automatisch eine größere Erwartungshaltung. Aber wir müssen demütig bleiben. In der Zweiten Liga bekommt man nichts geschenkt. Dass man mal hinfällt, insbesondere mit einer jungen Mannschaft, ist doch ganz normal. Für die Entwicklung der jungen Spieler kann so eine Niederlage wichtig sein. Weil man merkt, dass man ein Spiel verdient verliert, wenn man nicht seine ganze Leistung abruft.

Sie wurden auch geholt, um hier beim HSV zu helfen, eine Siegermentalität zu implementieren. Wie geht so etwas überhaupt?

Gute Frage. Du musst den Willen entwickeln, immer gewinnen zu wollen. Ob es beim Dosenwerfen ist oder beim Training. Du musst dich jeden Tag hinterfragen, ob du alles gegeben hast. Ich bin einer, dem das nicht egal ist, wenn er ein Trainingsspiel verliert. Da gehe ich genauso angefressen nach Hause, als wenn ich ein Bundesligaspiel verloren habe. Fragen Sie mal meine Frau.

Was würde sie sagen?

Sie sagt heute noch, dass ich richtig unangenehm werde, wenn ich bei Kartenspielen wie zum Beispiel Skip-Bo verliere. Und dass ich ihr dann gerne Vorwürfe mache, sie würde schummeln. Und sie hat recht: Ich verliere einfach sehr ungern. Das war schon in Stuttgart so, und da haben wir deutlich häufiger verloren als bei Bayern.

Sie waren fünf Jahre lang mit den Bayern in den größten Stadien Europas unterwegs. Jetzt spielen Sie in Kiel oder Heidenheim. Was reizt Sie daran?

Kiel fand ich super. Ich mag solche Stadien. Ich brauche diese Luxustempel nicht. Entscheidend ist, dass du auch in Heidenheim den Platz betrittst mit der Haltung, unbedingt gewinnen zu wollen.

Sie sind im schwäbischen Schorndorf aufgewachsen, nur eine Stunde von Heidenheim entfernt. Was wissen Sie über den Verein?

Ich habe 2009 mit dem VfB II in der Dritten Liga gegen Heidenheim gespielt. Da waren Kapitän Marc Schnatterer und Trainer Frank Schmidt schon dabei. Auch in Heidenheim habe ich mit dem VfB häufig in der Vorbereitung gespielt.

Es gab da noch ein Spiel. Ein 5:4 im DFB-Pokal 2018, Sie standen im Bayern-Tor.

Oh ja. Das war ein wildes Spiel. Ich erinnere mich, dass ich kurz vor Schluss einen richtig guten Ball gehalten habe. Kurz danach machen wir das 5:4 durch Robert Lewandowski. Es hätte auch 5:4 für Heidenheim ausgehen können.

Freuen Sie sich als Schwabe über Heidenheims Entwicklung?

Natürlich. Das Stadion ist ein echtes Schmuckkästchen geworden. Als ich das erste Mal da gespielt habe, mussten wir uns neben dem Bierstand umziehen. Der Verein macht mit wenigen Mitteln viel richtig. Trainer Frank Schmidt macht seit Jahren einen super Job. Als Schwabe verfolge ich Heidenheim sehr gerne.

Dann wissen Sie, was den HSV erwartet.

Heidenheim ist immer ein unangenehmer Gegner, eklig in den Zweikämpfen. Wir müssen die gleiche Gier und die gleiche Leidenschaft zeigen. Das wird ein richtig guter Maßstab für unsere Mannschaft. Und ich freue mich, mal wieder in der Heimat zu sein.

Was ist denn Ihre Heimat? Stuttgart oder Schorndorf?

Beides. Im Rems-Murr-Kreis leben meine Schwester und meine Mutter. Und viele meiner Freunde, die ich aus dem Kindergarten kenne. Die Familie meiner Frau lebt in Stuttgart. Durch meine VfB-Zeit ist das meine Heimat geworden. Wir haben dort ein Haus und werden mit hoher Wahrscheinlichkeit später wieder da leben. Dort kann ich einfach der Privatmensch Sven Ulreich sein.

Und die Küche Ihrer Mutter genießen?

Das auch. Zum Glück ist sie gerade hier und hat die schwäbische Küche mit nach Hamburg gebracht (lacht). Jetzt gibt es auch hier Linsen, Spätzle und Rouladen.

Wird man in Ihrer Region zwangsläufig zum VfB-Stuttgart-Fan?

Viele Alternativen gibt es zumindest nicht. Auch mein Vater war großer VfB-Fan. Er hat mich häufiger mal mit ins Stadion genommen.

Sie haben Ihren Vater schon mit zwölf Jahren verloren. Er starb nach einer Krebserkrankung. Haben Sie gelernt, früh Verantwortung zu übernehmen?

Absolut. Als größerer Bruder mit einer alleinerziehenden Mutter lernt man automatisch, früher Verantwortung zu übernehmen. Bei aller Traurigkeit dieser Geschichte muss man das Positive sehen. Ich bin daran gewachsen.

Auch als Fußballprofi?

Auch. Aber hauptsächlich im Privatleben. Man lernt früh zu schätzen, worum es im Leben geht. Mir war schon als Junge bewusst, dass man das Leben genießen muss.

Sie haben sich selbst für die Krebsvorsorge engagiert und 2011 für die Knochenmarkspende aufgerufen, nachdem Sie vor dem Spiel gegen den HSV an der Hand des sechs Jahre alten Diego auf den Platz gegangen sind. Der Junge war an Blutkrebs erkrankt.

Diego und ich sind noch heute im regelmäßigen Kontakt. Er ist jetzt fast 16, und es geht ihm wieder richtig gut. Mich freut es sehr, dass ich dazu beitragen konnte, auch wenn man dem Knochenmarksspender natürlich noch viel mehr danken muss.

Was nehmen Sie aus der Geschichte mit?

Es ist wichtig, anderen Menschen zu zeigen, dass man ganz einfach helfen kann. Ich bin seit zehn Jahren in der Spenderdatei und bin erst einmal angeschrieben worden. Es hat nie ganz gepasst. Aber es hat mir gezeigt, dass man im Leben früh helfen sollte, bevor es zu spät sein kann.