Hamburg. Zu Besuch bei Jochen Meinke, der 1960 mit den Hamburgern die deutsche Meisterschaft errang. Am Freitag wird er 90.

Blendend sieht Jochenfritz Meinke aus, den alle nur Jochen oder „Jocki“ nennen, als er die Eingangstür seiner Doppelhaushälfte in Rahlstedt schwungvoll öffnet. Vielleicht etwas zu schlank. „Ich habe mit 65 Kilo jetzt wieder mein Kampfgewicht von 1960“, scherzt der groß gewachsene frühere HSV-Spieler und bittet ins Wohnzimmer, wo Ehefrau Erika schon Kaffee und Kekse vorbereitet hat.

Wir haben uns nicht zufällig verabredet. Am morgigen Freitag steht Jochen Meinkes runder Geburtstag an. Den ursprünglichen Plan, mit 50 Gästen im Hotel Grand Elysée groß zu feiern, musste er aus nahe liegenden Gründen fallen lassen – mehr als ein Treffen im engsten Familienkreis ist nun nicht mehr möglich. Er nimmt es gelassen. Seinen 90. Ehrentag begehen zu können, ist sowieso das größte Geschenk für ihn.

Jochen Meinke wünscht sich vor allem Gesundheit

Sieben Operationen seit April 2019 musste Meinke über sich ergehen lassen. Als er nach dem letzten schweren Eingriff (Blasentumor) nach Hause kam, hatte er zwölf Kilo verloren und wog nur noch 60 Kilo. Nur zu gut erinnert sich Meinke an trübe Tage auf der Intensivstation im Wandsbeker Bundeswehrkrankenhaus, als es ihm richtig dreckig ging und er zu seiner Frau sagte: „Noch einmal will ich das nicht durchmachen.“

Doch die drei Jahre jüngere Erika päppelte ihn in den Wochen danach wieder auf – bis zu jenem „Kampfgewicht“ von einst. „Dass für mich Gesundheit für die Familie auf der Geburtstags-Wunschliste ganz oben steht, ist ja wohl klar“, sagt Jochen Meinke, „ich hoffe, dass wir noch viele schöne Jahre haben.“ Als Erika seine Worte hört, lächelt sie, wirkt fast überrascht. Und einen Moment lang spiegelt sich in ihrem Gesicht alles wider: Weitere gemeinsame Jahre, das war vor Kurzem noch eine unmögliche Vorstellung. Aber diesem Ehemann mit seinem Lebenswillen und seiner unglaublich positiven, offenen Ausstrahlung ist eben einfach alles zuzutrauen.

Erika und Jochen Meinke lernten sich 1950 während einer Tanzveranstaltung des HSV kennen und lieben. Seit 66 Jahren sind sie verheiratet.
Erika und Jochen Meinke lernten sich 1950 während einer Tanzveranstaltung des HSV kennen und lieben. Seit 66 Jahren sind sie verheiratet. © Thomas Metelmann

Um zu erzählen, wie alles anfing, müssen wir uns in eine Zeitmaschine setzen, die eine längst vergangene Welt dank des noch glänzend funktionierenden Gedächtnisses von Jochen Meinke wieder quicklebendig werden lässt.

Kennengelernt haben sich Erika und Jochen 1950, also vor mehr als 70 Jahren, bei einer Tanzveranstaltung des HSV im Curio-Haus (Rothenbaumchaussee). Ein Jahr nach der Währungsreform, hatte Meinke sein erstes Pflichtspiel in der Oberliga Nord für die Rothosen bestritten: „Das war im Oktober 1949. Wir haben am Rothenbaum 5:2 gegen Hannover 96 gewonnen. Ein großartiges Erlebnis!“

Als Abwehrspezialist fast ein Teil des Wunders von Bern

Erika hingegen spielte – gemeinsam mit Uwe Seelers Schwester Purzel – Handball und ging auch regelmäßig zur Leichtathletik. „In unserer Straße wohnten fast nur Jungs, also habe ich viel Fußball gespielt. Aber es gab damals kein Angebot für Mädchenfußball.“

Bevor sie 1954 in Hamm die erste gemeinsame Wohnung beziehen konnten, musste das Paar heiraten. Einen Mietvertrag ohne Trauschein zu bekommen, war damals unmöglich. 1954 – das war das Jahr, als die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ihren ersten und wichtigsten WM-Titel erringen konnte. Und es fehlte nicht viel, dann wäre auch der Abwehrspezialist Jochen Meinke ein Teil des Wunders von Bern geworden. Doch der damalige Bundestrainer Sepp Herberger strich ihn nach einer schwachen Leistung in einem B-Länderspiel auf ungewohnter Position aus dem 40 Mann starken Kader. „Damit habe ich kein Problem, das war auch gerechtfertigt“, gibt Meinke offen zu.

Ein extrem seltenes Farbfoto vom Endspiel 1960: Jochen Meinke und Kölns Weltmeister Hans Schäfer vor dem Anpfiff.
Ein extrem seltenes Farbfoto vom Endspiel 1960: Jochen Meinke und Kölns Weltmeister Hans Schäfer vor dem Anpfiff. © Otto Metelmann

Bis zu jener legendären deutschen Meisterschaft von 1960, als der HSV mit seiner jungen Mannschaft die favorisierten Kölner mit 3:2 besiegte, brauchte es einen langen Anlauf – und einige bittere Niederlagen. „Wir hatten 1956 im Pokalfinale gegen den Karlsruher SC verloren, 1957 und 1958 folgten zwei Endspiel-Niederlagen um die Meisterschaft gegen Dortmund und Schalke“, zählt Meinke auf. „Und 1959 scheiterten wir ganz knapp an der nächsten Endspielteilnahme, weil wir trotz einer 2:0-Führung gegen Offenbach noch 2:3 verloren. Ein Punkt fehlte uns damals.“

Um die Bedeutung des mit elf Hamburgern errungenen Titels hervorzuheben, verweist der damalige Spielführer Meinke auf seinen früheren berühmten Mitspieler Jupp Posipal, der 1958 seine Fußball-Karriere beendet hatte: „Jupp hat zwar 1954 den Weltmeister-Pokal in den Händen halten dürfen und stand in der Weltauswahl, aber Deutscher Meister ist er nie geworden. Das hat ihn am meisten gewurmt.“

Meinkes Themen: Gemeinschaft, Freundschaft und Treue

Der Autokorso im VW Käfer mit zehntausenden feiernden Hamburgern auf den Straßen ist für alle, die es erleben durften, bis heute unvergessen. Im ersten Wagen präsentierten Trainer Günther Mahlmann, Kapitän Jochen Meinke und Torwart Horst Schnoor der begeisterten Menge die Meisterschale.

Mahlmann und Meinke – das war über viele Jahre eine enge, vertrauensvolle Verbindung. 1959, als der HSV-Trainer einige Wochen im Krankenhaus lag und man so etwas wie einen Co-Trainer noch nicht brauchte, entschied er: „Dann macht Jochen das!“ Zweimal, am Montag nach den Spielen und am Donnerstag vor der Mannschaftsbesprechung, besuchte Meinke den Fußballlehrer und besprach mit ihm die Aufstellung. „Diese Aufgabe war für mich überhaupt nicht schwer. Wir haben uns geschworen, dass wir die Spiele für ihn gewinnen.“ Und tatsächlich: In den sechs folgenden Partien in der Oberliga Nord, damals die höchste Spielklasse, blieb der HSV ohne Punktverlust.

Wer sich mit Jochen Meinke unterhält, kommt unweigerlich auf das Thema Gemeinschaft, Freundschaft und auch Treue zu sprechen. Was nebenbei auch auf das 1948 erstmal erschiene Abendblatt („Seit es existiert, haben wir es abonniert“) zutrifft. Viele seiner Mitspieler kannte er schon seit der Jugend: „Ich bin am 1. Juli 1945 beim HSV eingetreten“, weiß Meinke noch genau, der eigentlich viel früher loslegen wollte. „Mein Eintrittsformular zum 26. Juli 1943 musste ich zerreißen, weil mir meine Mutter die lange Anfahrt zur HSV-Anlage nach Ochsenzoll verbot. Zu gefährlich bei den Fliegerangriffen im Krieg.“

Trainer Günther Mahlmann, Jochen Meinke, Torwart Horst Schnoor (v.l.) präsentierten am Rothenbaum die Meisterschale.
Trainer Günther Mahlmann, Jochen Meinke, Torwart Horst Schnoor (v.l.) präsentierten am Rothenbaum die Meisterschale. © Witters

Unfassbar: Fußballspielen konnte er trotzdem beim näher gelegenen SC Sperber, eine der wenigen Freuden in der Zeit. Der Vater war 1940 eingezogen worden, er geriet in polnische Gefangenschaft und kehrte erst 1949 zurück. „Drei Jahre wussten wir nicht, ob er noch lebt.“ Seine Mutter und die drei Kinder lebten in einer Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung am Goldbekufer, zwei Jahre lang nahmen sie eine vierköpfige Familie auf, deren Haus zerstört worden war. „Da waren wir acht.“

Meinke wird für immer Seelers Kapitän sein

Natürlich ebenfalls unvergessen: Mit Uwe Seelers Bruder Dieter bestritt Meinke 1945 sein erstes HSV-Spiel („Wir haben 2:1 beim Wandsbeker FC gewonnen“). Die Verhältnisse damals? Äußerst bescheiden. Die Duschen blieben kalt. Auf einigen Plätzen in Ochsenzoll standen Blechhütten für Flüchtlinge aus dem Sudetenland. Zu essen gab es wenig. Nach dem Training oder den Spielen gab es im alten Lindenhof in Norderstedt gerade mal eine Fassbrause.

Beim Straßenfußball, damals spielte das Team Eppendorf gegen Winterhude, lernte der damals 14-jährige Meinke auch den achtjährigen Buttje Uwe kennen, mit dem er später die Meisterschale errang. Wann immer sich Seeler und Meinke seitdem treffen, so dauert es nicht lange, bis „Uns Uwe“ sagt, dass Jochen für immer „mein Kapitän“ sein wird.

Heute, wo die besten Fußballer im Grunde mit einem Vertrag ausgesorgt haben, kommen einem die damals gezahlten Summen fast lächerlich vor, bedeuteten aber viel. Als gelernter Drogist verdiente Meinke 150 Mark. Als er später in die Tankstelle seines Vaters einstieg, erhöhte dieser immerhin sein Gehalt etwas. als Lizenzspieler erhielt er 320 Mark netto im Monat – plus 50 Euro Siegprämie pro Spiel, bar auf die Hand.

Neben dem Fußball musste Jochen Meinke sein Geld noch an der Tankstelle seines Vaters verdienen.
Neben dem Fußball musste Jochen Meinke sein Geld noch an der Tankstelle seines Vaters verdienen. © Otto Metelmann

Hinzu kamen die Prämien für die Spiele um die Deutsche Meisterschaft (600 Mark). Für den Titel 1960 durfte jeder Spieler eigentlich nur 1000 Mark erhalten – „bekommen haben wir aber 2000“, verrät Meinke. Größere Summen gab es erst später zu verdienen, wie 1963 nach dem Pokalsieg gegen Dortmund. „Aber von den 10.000 Mark Titelprämie gingen 3500 Mark ans Finanzamt….“

Mehr zum Thema:

Meinke wurde Leiter des HSV-Leistungszentrums

Das Meisterjahr 1960 war für die Meinkes aber auch aus einem anderen Grund ein gutes Jahr. Sie kauften sich für 60.000 Mark jene Doppelhaushälfte in Rahlstedt, in der sie heute noch leben, um mehr Platz für sich und die Kinder Sabine und Andreas zu bekommen. „Auch zu jener Zeit gestaltete sich die Suche nach Eigentum schwierig“, weiß Erika Meinke noch, die zu Hause über die ganzen Jahre den Laden schmiss – denn ihr Mann war auch 1963 nach dem Ende seiner großen Karriere mit 13 Meisterschaften in der Oberliga Nord seit 1950 ständig auf Achse.

Von 1972-79 betrieb er als Selbstständiger eine Tankstelle im Heidenkampsweg Ecke Billstraße. Dabei profitierte er durchaus von seiner Popularität als Sportler. „Die Lkw-Fahrer waren fußballverrückt, das hat mir einige Kunden mehr eingebracht.“

1979, als die Esso auf einen 24-Stunden-Betrieb umstellen wollte, fiel Meinke die Trennung von der Tankstelle leicht, weil ihn erneut der Ruf des HSV ereilte. Der damalige Manager Günter Netzer stellte ihn als Leiter des HSV-Leistungszentrums in Ochsenzoll ein. Erst 2001 war Schluss.

„Einmal HSV, immer HSV“, entgegnet Meinke, als er nach der heutigen Beziehung zu seinem Club gefragt wird. Solange es Corona zuließ, fuhren Erika und Jochen Meinke im eigenen Pkw zu den Heimspielen ins Volksparkstadion, aber nicht nur wegen der Spiele, sondern auch, um die alten Freunde wiederzusehen, mit denen er früher im Bus während den Auswärtsfahrten Volkslieder („Wir sind die Sänger vom Finsterwalde“ oder „Schwarzbraun ist die Haselnuss“) schmetterte.

Meinke enttäuscht über verpassten HSV-Aufstieg

„Das Eigenartige an der derzeitigen Situation ist aber, dass wir es gar nicht so sehr vermissen, nicht mehr im Stadion sein zu müssen“, hat Meinke allerdings festgestellt. „Womöglich liegt es auch an der langen Erfolglosigkeit des HSV. Ich gebe zu, dass ich maßlos enttäuscht war über den verpassten Aufstieg.“ Vom Aufstieg spricht er nicht, eher davon, dass man hoffen müsse, dass überhaupt noch Fußball gespielt werden könne angesichts steigender Infektionszahlen.

Dass Meinke in dieser Saison noch einmal zu einem Liveerlebnis im Volkspark kommt, glaubt er nicht. Den HSV braucht er sowieso nicht, um die Freunde von früher regelmäßig zu sehen. Erst vergangene Woche hatte Horst Schnoor, mit dem er einst zehn Jahre bei Auswärtsfahrten das Zimmer teilte, zu einem Essen mit Uwe Seeler geladen. Natürlich mit den Frauen. Denn alle sechs noch lebenden Meister von 1960 blieben ihren Lebensgefährtinnen treu.

„Wissen Sie, wie man früher Menschen wie Jocki genannt hat?“, fragt Erika zum Abschied und gibt die Antwort gleich lachend mit: „Wanderprediger!“ Und einen missionarischen Klang haben seine so detaillierten Erzählungen tatsächlich. Weil sie Werte anmahnen, die heute schnell in Vergessenheit geraten.