Hamburg. Experten sehen in der Coronakrise auch für den HSV die Chance auf grundsätzliche Veränderung. Dennoch bald mehr Macht für Kühne?

Die heimliche Liebe von Robert Zitzmann ist der Sheffield FC. Der Siebtligist aus dem Norden von England ist nicht einfach nur ein Traditionsverein. Er ist der älteste Fußballverein der Welt. 1857 fand hier das erste Fußballspiel nach modernen Regeln statt.

Zitzmann, 35 Jahre alt, ist Geschäftsführer der Hamburger Werbeagentur Jung von Matt. Er beschäftigt sich beruflich mit der Zukunft des Fußballs. Und wenn er kann, reist er nach Sheffield. Dort arbeitet Zitzmann ehrenamtlich als Vorstand.

Zitzmann: Fußball muss Krisenchance nutzen

Der Sportökonom und Marketingexperte versteht sich selbst als Romantiker und Wertegläubiger des Fußballs. Gerade arbeitet er an einer Art Thesenpapier, das seine Agentur in der kommenden Woche veröffentlichen will. Kernpunkt: Das Fußballgeschäft muss die Chancen der Coronakrise nutzen, um aus Fehlern zu lernen und zu gesunden.

"Der Fußball muss neben kurzfristigem Krisenmanagement jetzt auch Weitsicht zeigen, um seine gesellschaftliche Relevanz neu aufzuladen“, sagte Zitzmann am Mittwoch dem Abendblatt. "Dafür müssen alle führenden Player im Markt demütig, kollaborativ und kritikfähig in den Dialog mit ihren Fans und der breiten Öffentlichkeit gehen."

Für den HSV lauscht Boldt der DFL

Zitzmann wird daher an diesem Donnerstag ganz genau hinschauen, wenn die Deutsche Fußball Liga von 11 Uhr an in einer virtuellen Konferenz zusammensitzt, um die 36 Proficlubs der Bundesliga und der Zweiten Liga über die vom 9. Mai an geplanten Geisterspiele zu informieren.

Für den HSV wird Sportvorstand Jonas Boldt zugeschaltet sein und gut zuhören, was DFL-Geschäftsführer Christian Seifert zu sagen hat. Dabei geht es um die Frage, wie der Fußball kurzfristig die Fortsetzung der Saison gewährleisten kann.

Ein 41 Seiten dickes Geisterspiel-Regelwerk

Die Taskforce "Sportmedizin/Sonderspielbetrieb" von DFB-Chefmediziner Tim Meyer wird ein detailliertes verbindliches Konzept mit strengen Hygienevorgaben, erforderlichen Testungen und permanentem Monitoring vorstellen.

41 Seiten umfasst das Regelwerk. Die Vorgaben für organisatorische und hygienische Vorkehrungen im Stadion, die TV-Produktion, Hotelunterbringung, die häusliche private Hygiene im Alltag und in Quarantäne sowie zur Wiederaufnahme des Mannschaftstrainings sind penibel aufgelistet.

Krisenmaßnahmen, die nur ein Ziel haben: die Saison irgendwie noch zu retten und die Clubs vor einem kolossalen Wirtschaftsschaden zu bewahren.

"HSV muss Botschafter für ganz Hamburg sein"

Robert Zitzmann gehen diese Pläne nicht weit genug. Er fordert den Fußball auf, die Gunst der Stunde zu nutzen, um sich langfristig zu verändern. Dabei denkt der Marketingfachmann auch an den HSV. Dem genau 30 Jahre nach dem Sheffield FC gegründeten Traditionsclub von 1887 bescheinigt Zitzmann – genau wie dem ganzen Fußball – ein großes Potenzial für die Gesellschaft.

"Die Marke HSV kann und muss ein Botschafter für ganz Hamburg sein. Gerade in der heutigen Zeit erfährt die originäre Kraft von Fußballclubs eine völlig neue Bedeutung, Gemeinschaftsort und Werteinstanz zu sein", sagt Zitzmann und appelliert an alle Manager und Entscheidungsträger im deutschen Fußball. "Die Krise kann also auch eine Chance sein, sich für die Zukunft neu und besser aufzustellen."

Wenn Zitzmann über Fußball spricht, hat er immer auch den Sheffield FC im Hinterkopf. Der hat mit dem Profifußball zwar nichts mehr zu tun, dafür aber ein solidarisches System entwickelt, um seine Werte weiterhin zu leben.

"Man muss sich jetzt zusammenraufen"

Einen Werteverlust im Fußball hat auch Henning Vöpel beobachtet. Der Direktor des Hamburgischen WeltWirtschafts­Instituts (HWWI) beschäftigt sich seit Jahren mit der Entwicklung des Fußballs. Auch für ihn ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, das System neu zu ordnen.

"Wenn man etwas verändern will im Fußball, dann muss man sich jetzt zusammenraufen und in der Krise Lösungen entwickeln“, sagte Vöpel im Abendblatt-Podcast "HSV – wir reden weiter“. Andernfalls sei es zu spät. "Wenn die Krise vorbei ist, hätte man den Zeitpunkt verpasst, dem Fußball eine ganz neue Richtung zu geben."

Experte: HSV-Lage "außerordentlich komplex"

Vöpel und Zitzmann denken dabei in eine ähnliche Richtung, wie sie verschiedene Fanorganisationen in den vergangenen Tagen bereits angestoßen haben. Der große Kritikpunkt: Die Clubs hätten sich bedingungslos einem wirtschaftlichen Wettbewerb ausgesetzt, ohne überhaupt mal in Betracht zu ziehen, was eine mögliche Krise für finanzielle Folgen haben könnte. Die Folgen sehen nun so aus, dass eine Vielzahl der Proficlubs gleich schon bei der ersten ausbleibenden Zahlung der TV-Gelder in Existenznöte gerät.

"Das Liquiditätspolster ist bei ganz vielen Vereinen sehr dünn. Alle Clubs sind ganz eng auf Kante genäht“, sagt Wirtschaftsexperte Vöpel. Dazu gehöre auch der HSV. Die wirtschaftliche Situation der Hamburger beobachtet Vöpel kritisch. "Man muss Sorgen haben“, sagt der 47-Jährige und denkt dabei an die Zukunft des Fußballs insgesamt. Nach Jahren der Misswirtschaft stecke der HSV in einer "außerordentlich komplexen Situation, aus der es keinen einfachen Weg gibt".

Aus für 50+1 und mehr Macht für Kühne?

Vöpel befürchtet, dass die Krise die 50+1-Regel im deutschen Fußball kippen könnte. Diese soll die Clubs eigentlich vor dem Einfall der Investoren schützen. "Mäzene, auch beim HSV, könnten ihren Einflussbereich erhöhen", sagt Vöpel und spricht damit auch HSV-Investor Klaus-Michael Kühne an. Für den Ökonomen steht fest: "Der Fußball steht am Scheideweg. Man kann die Krise nutzen, um einen solidarischen Weg einzuschlagen. Vielleicht auch einen, der gesellschaftlich wieder eine höhere Akzeptanz erfährt."

Der HSV-Podcast mit Henning Vöpel:

DFL mahnt neue Werte an

Die DFL hat die Zeichen der Zeit offenbar erkannt. Zumindest äußerte sie sich am Dienstagabend in einer Stellungnahme ungewohnt selbstkritisch und gewillt, dass künftig Nachhaltigkeit, Bodenständigkeit und Stabilität zu den entscheidenden Werten gehören müssen.

Bei Robert Zitzmann sind diese Worte angekommen. Er schätzt DFL-Chef Seifert als "starken Spielführer", den jede Mannschaft in Krisenzeiten brauche und der sie auch neben dem Platz führen könne. Sein Thesenpapier zur Zukunft des Sports wird er trotzdem in der kommenden Woche veröffentlichen. Mit der Hoffnung, dass Vereine wie der HSV nicht irgendwann wie sein Sheffield FC in der siebten Liga spielen.