Hamburg. Dieter Hecking und Jonas Boldt verzichten auf Aktionismus. Das Saisonziel ist wie schon 2019 gefährdet. Eine Analyse.
Dieter Hecking redete minutenlang auf die Mannschaft ein. Er gestikulierte energisch, fuchtelte mit den Armen, zeigte sich kämpferisch. Rund zehn Minuten dauerte der Monolog am Sonntagmorgen. Es war 10.45 Uhr im Hamburger Volkspark, und die heftige 0:3 (0:1)-Niederlage des HSV beim FC Erzgebirge Aue war gerade 20 Stunden alt. „Es ist nicht immer leicht, das gerade Gesehene in Worte zu fassen“, hatte Trainer Hecking unmittelbar nach der zweiten Niederlage in Folge gesagt. Nach einer Nacht Schlaf aber fand Hecking wieder Worte. Und es waren einige.
Öffentlich reden wollte und sollte der Chefcoach am Tag nach der zweiten Niederlage in Folge aber nicht. Stattdessen sprach der Vorstandsvorsitzende. Und der sagte sehr schnell und sehr deutlich das, was am Sonnabend jeder Beobachter im Erzgebirgsstadion von Aue oder am Fernseher gesehen hatte. „Wir haben jetzt eine sportliche Krise“, sagte Bernd Hoffmann an einem Pult im Erdgeschoss des Volksparkstadions. Der 57-Jährige, weißes Hemd und dunkles Sakko, wollte sich stellen in der wahrscheinlich schwierigsten Phase der bisherigen HSV-Saison. „Es gibt nichts schönzureden“, sagte Hoffmann. Nach dem 0:2 im Derby gegen den FC St. Pauli unterbot der HSV in Aue die Leistung noch einmal deutlich. „Wir haben zwei grottenschlechte Spiele gemacht“, so Hoffmann. „Honeymoon is over.“
HSV: Nur ein Punkt aus den vergangenen drei Spielen
Die Metapher der Flitterwochen gehört zu Hoffmanns Lieblingsbildern. Als er den Ausdruck das bislang letzte Mal benutzte, war der HSV vor zwei Jahren gerade das erste Mal aus der Fußball-Bundesliga abgestiegen. Nachdem der Club vor einem Jahr die Rückkehr in diese Liga verpasste, droht er nun zum zweiten Mal in Folge den Wiederaufstieg zu verspielen.
Die Tendenz ist in jedem Fall offensichtlich: Nur ein Punkt aus den jüngsten drei Spielen. Nur vier Siege aus den jüngsten 13 Spielen. Für einen Club, der offen vom Aufstieg spricht, ist das viel zu wenig. Und nicht nur Hoffmann dürfte sich spätestens nach der völlig verdienten 0:3-Niederlage beim bis dahin in diesem Jahr noch sieglosen FC Erzgebirge Aue erinnert fühlen an die vergangene Saison, als beim HSV nach nur 19 Punkten aus 15 Rückrundenspielen alle Aufstiegsträume zerplatzten.
Auftritt in Aue lässt HSV-Fans an Aufstiegstauglichkeit zweifeln
Vor allem die Art und Weise des Hamburger Auftritts von Aue war es, die viele Fans zweifeln lässt an der Aufstiegstauglichkeit des HSV. Hecking hatte nach der Derbypleite seine Mannschaft auf drei Positionen verändert. Ewerton, Khaled Narey und Lukas Hinterseer durften für Rick van Drongelen, Sonny Kittel und Joel Pohjanpalo ran. Doch von der ersten Sekunde an hatte man beim HSV das Gefühl, dass die Mannschaft den Derbyschock nicht so leicht abgeschüttelt hatte wie erhofft. Fehlpass über Fehlpass prägte den Spielaufbau, verlorene Zweikämpfe, unnötige Fouls, schlechte Standardsituationen und dann auch noch zwei Verletzungen sowie die völlig überflüssige Gelb-Rote Karte für Gideon Jung (59.) kamen dazu.
Spätestens nach der Knieverletzung von Innenverteidiger Ewerton ging beim HSV nichts mehr. Und da waren gerade mal 23 Minuten gespielt. Es folgten die Gegentore durch Pascal Testroet (39.) sowie Jan Hochscheidt (74./88.) und eine Verletzung von Timo Letschert, der nach einem Zusammenprall mit van Drongelen benommen vom Feld wankte, hinterher aber wieder klare Worte fand.
„Wir waren alle heiß, wollten eine Reaktion zeigen. Aber wenn du so einfach die Bälle verlierst, wird es gegen jeden Gegner schwer“, sagte Letschert und meinte fast schon entschuldigend: „Vielleicht sieht es so aus, als ob wir nicht kämpfen. Aber wir geben immer alles.“
HSV kassiert Klatsche in Aue
Der HSV will, aber kann nicht
Sollte es stimmen, was der Niederländer sagt, wäre das fast schon ein Offenbarungseid. Mit anderen Worten: Der HSV will, aber er kann nicht. Und da stellt sich die Frage nach dem Warum. Warum ist der HSV mit dem zweitteuersten Kader der Liga gegen Aue nicht in der Lage, sich mehr als eineinhalb Torchancen zu erarbeiten? Warum lassen die Hamburger gegen die bis dahin harmloseste Mannschaft des Jahres (nur ein Tor in fünf Spielen) 23 Torschüsse zu? Warum zeigt sich auf dem Platz in den schwierigen Phasen keiner der hochbezahlten Führungsspieler wie Kapitän Aaron Hunt oder Lukas Hinterseer? Fehlt dem HSV wieder der letzte Wille? Ist er dem Druck nicht gewachsen? Oder ist es doch einfach nur fehlende Klasse?
„Es ist gerade eine schwierige Phase“, gestand Hecking nach dem Schlusspfiff von Aue. „Diese Mannschaft ist charakterstark, aber sie bringt es im Moment nicht auf den Platz.“ Der Trainer saß am Sonntagmorgen mit Sportvorstand Jonas Boldt zusammen und besprach die Situation. Eine Erkenntnis der Analyse: Das verlorene Stadtderby habe bei einigen Spielern mental nachhaltige Spuren hinterlassen. Die Reaktionen der Fans, auch bei Social Media, hätten sich die Profis zu Herzen genommen. Für junge Spieler wie Jordan Beyer sei so eine Erfahrung neu gewesen.
Hecking und Boldt verzichten auf Aktionismus
Auch deswegen beschlossen Hecking und Boldt, die Mannschaft intern zu stärken und auf Aktionismus zu verzichten. Gleichzeitig aber nehmen sie die Spieler in die Pflicht. Vom Vorstandschef bekamen der Trainer und der Sportchef das Vertrauen ausgesprochen. „Die sportliche Leitung hat die totale Rückendeckung für all das, was sie jetzt tut“, sagte Hoffmann am Sonntag. „Wir sind überzeugt, dass Dieter Hecking und Jonas Boldt die Worte finden, die uns in eine gute Situation gebracht haben.“
Die HSV-Verantwortlichen müssen in jedem Fall zeigen, dass sie die sportliche Krise meistern können. Trainer Hecking ist gefordert, Lösungen zu finden gegen die immer gleiche Spielart der Gegner. Aue machte es vor, wie man den HSV mit einfachen Mitteln schachmatt setzen kann. Aggressiv und mannorientiert verteidigen, Stress erzeugen, mutig umschalten. So gewannen zuvor schon der VfL Osnabrück, der FC Heidenheim und gleich zweimal der FC St. Pauli gegen den HSV. Aue schaffte es zudem noch mehr als alle anderen Gegner zuvor, die Hamburger zum Kontrollverlust zu zwingen. Eine Spezialität auch von Jahn Regensburg, dem kommenden Gegner am Sonnabend im Volksparkstadion.
Die Euphorie aus der Hinrunde ist verpufft
Der HSV steht in den kommenden Tagen und Wochen vor einer internen Zerreißprobe. In der Hinrunde gelang es dem Club, mit neuen Verantwortlichen und neuen Spielern eine neue Euphorie zu erzeugen. Dieser Effekt ist nach den ersten sechs Spielen seit der Winterpause verpufft. Die Januar-Neuzugänge haben sich nach einem starken Start auf das alte HSV-Niveau eingependelt.
Trainer Hecking hatte vor dem Aue-Spiel an das Wir-Gefühl appelliert. Das machte am Sonntag auch Clubchef Bernd Hoffmann. „Das ist jetzt unsere Krise und unsere gemeinsame Verantwortung, da rauszukommen“, sagte Hoffmann und betonte noch einmal: „Uns war immer klar, dass das Aufstiegsrennen ein Marathon ist, der 34, möglicherweise auch 36 Spieltage andauert.“
Macht der HSV so weiter wie zuletzt, kann er am Ende der Saison froh sein, wenn er es überhaupt noch bis in die Relegation schafft.