Hamburg. Freistellungsgespräch mit dem ehemaligen Kieler dauerte lediglich zwei Minuten. Nachfolger wird Jonas Boldt von Bayer Leverkusen.
Als sich um 14.01 Uhr die Tür zum Medienraum des Volksparkstadions öffnete, wurde dem neuen Sportvorstand Jonas Boldt erstmals vor Augen geführt, was ihn beim HSV erwartet. Zahlreiche Kameraleute stürzten sich auf den neuen Fußball-Funktionär in Hamburg, um ihr Foto zu machen. Etliche TV-Kameras und Reporter lauerten zudem in der ersten Etage des Volksparkstadions, um Boldts erste Worte aufzusaugen. „Man erkennt erst, was hier los ist, wenn man da ist", sagte der Nachfolger des am Freitagvormittag beurlaubten Ralf Becker.
Bis zuletzt war Boldt im beschaulichen Leverkusen bei Champions-League-Teilnehmer Bayer 04 als sportlicher Leiter tätig. "Mir war schon im Vorfeld klar, dass hier um einiges mehr los ist als in Leverkusen. Der HSV ist ein Verein, der polarisiert. Wenn man in der Stadt fühlt, wie die Menschen diesen Verein leben, dann reizt mich diese Herausforderung.“
HSV-Aus: Nannte Köttgen Becker keine Gründe?
An seiner Seite saß Aufsichtsratschef Max-Arnold Köttgen, der Becker am Freitagmorgen persönlich über sein Aus informiert hatte. Es ist das Ergebnis einer Aufsichtsratssitzung von Donnerstag, in der es ausschließlich um die Zukunft von Becker ging. Nach Abendblatt-Informationen kamen sowohl im Vorstand als auch im Aufsichtsrat zuletzt vermehrt Zweifel auf, dass Becker die richtigen Schlüsse aus der desaströsen Saison ziehen kann.
Besonders pikant: Nach Abendblatt-Informationen erfolgte die Trennung ohne eine genaue Angabe von Gründen. Das Freistellungsgespräch soll lediglich zwei Minuten gedauert haben. Auch am Nachmittag sparte sich Köttgen umfangreiche Erklärungen. Er sagte lediglich: „Wir haben die sportlichen Ziele der Saison klar verfehlt und sind zum richtigen Zeitpunkt zu einer klaren Entscheidung gekommen." Ins Detail, welche Fehler der Aufsichtsrat Becker für den dramatischen Absturz in der Rückrunde und dem verpassten Aufstieg anlastet, wollte Köttgen nicht gehen.
Boldt ist Hoffmanns Wunschlösung
Nun soll also Boldt nicht weniger tun, als in Kürze einen neuen Trainer finden, den von Becker begonnenen Umbruch des Kaders weiter vorantreiben und den HSV zurück in die Bundesliga führen. „Es ist eine enorme Herausforderung, auf die ich mich aber freue", sagte der 37-Jährige, der zunächst bis 2021 unterschrieb. „Wenn diese zwei Jahre auch eintreffen, wäre das schon mal ein großer Erfolg", sagte Boldt mit aller Ernsthaftigkeit, aber auch etwas Selbstironie.
Es ist die Wunschlösung von Clubboss Bernd Hoffmann, der Boldt schon im vergangenen Sommer verpflichten wollte. Becker, der noch zwei Jahre bis 2021 unter Vertrag steht, bezieht vorerst weiter sein Gehalt beim HSV. „Wenn wir es nicht bezahlen könnten, hätten wir diese Entscheidung nicht getroffen", sagte Kontrollchef Köttgen. "Wir haben sehr sorgfältig abgewogen, ob es richtig ist, in einen neuen Sportvorstand zu investieren."
Erst am Donnerstag hatte Becker noch Gespräche über die Kaderplanung geführt und dabei unter anderem Kontakt mit dem potenziellen neuen Torhüter aus Darmstadt, Daniel Heuer Fernandes, aufgenommen. Becker arbeitete daran, sein vor einer Woche öffentlich ausgesprochenes Ziel, der Mannschaft ein neues Gesicht zu geben, umzusetzen. Nun hat vor allem der Vorstand ein neues Gesicht.
Becker war sich mit Hecking einig
Auch auf der Suche nach einem neuen Trainer stand Becker unmittelbar davor, eine Nachfolgelösung für den geschassten Hannes Wolf zu präsentieren. Nach Abendblatt-Informationen einigte sich der Schwabe am Donnerstag mündlich mit Dieter Hecking über eine Zusammenarbeit. Doch nach der Beurlaubung Beckers dürfte sich die Verpflichtung des scheidenden Gladbach-Coaches möglicherweise erledigt haben.
Auch wenn Jonas Boldt das in dieser Form nicht bestätigen wollte. „Meines Wissens gibt es keine Einigung zwischen Dieter Hecking und dem HSV“, sagte Boldt, der ergänzte, dass es auch generell keine Einigung mit einem Trainer gebe. „Ich habe mich in den letzten Wochen intensiv umgeschaut und habe klare Vorstellungen.“
Eine Spur führt nun wieder Leverkusens Ex-Trainer Roger Schmidt, dessen Arbeit Boldt und Hoffmann sehr schätzen. Momentan steht der 52-Jährige allerdings noch bis 31. Dezember dieses Jahres bei Beijing Guoan in China unter Vertrag. Seine Ausstiegsklausel soll bei drei Millionen Euro liegen. Eine Summe, die für den HSV sicherlich zu hoch wäre. Gespräche über eine Vertragsverlängerung mit Schmidt in der chinesischen Hauptstadt führten bislang zu keinem Ergebnis.
Doch beim HSV wird Schmidt nach ersten Angaben von Boldt, der seinen Kumpel erst vor wenigen Wochen in China besucht hatte, offenbar vorerst nicht landen. "Er wird seinen Vertrag dort einhalten. Deshalb ist das aktuell kein Thema", sagte der neue Manager.
Als Becker kam, stand der Kader schon
Die Zeit von Ralf Becker stand von Beginn an unter keinem guten Stern. Eigentlich war der Sportchef von Beginn an nur dritte Wahl. Hoffmann hätte bereits damals am liebsten Jonas Boldt als starken sportlichen Leiter eingestellt. Erst als der Transfer nicht aus Leverkusen nicht klappte und auch die anderen beiden Wunschkandidaten Rouwen Schröder (Mainz) und Markus Krösche (Paderborn) nicht zur Verfügung standen, wurde der Kontakt zu Becker aufgenommen.
Als der ehemalige Sportchef von Holstein Kiel im vergangenen Mai schlussendlich installiert wurde, war ein Großteil der Kaderentscheidungen bereits getroffen. So konnte der gebürtige Leonberger lediglich noch Léo Lacroix, Khaled Narey und Hee-Chan Hwang verpflichten. Auch auf die Trainerfrage hatte der 48-Jährige damals keinen Einfluss mehr. Nach dem Bundesliga-Abstieg wurde der Vertrag mit Publikumsliebling Christian Titz bereits früh verlängert.
Seine erste gewichtige Entscheidung traf Becker im Oktober 2018, als er Titz freistellte und mit Hannes Wolf einen neuen Trainer verpflichtete. Bis zur Winterpause schien es so, dass beim HSV Ruhe eingekehrt war. Den Jahreswechsel verbrachte der HSV auf Rang eins. Trotz der Tatsache, dass der Club auf Kurs Bundesliga-Rückkehr war, gab es erste Misstöne im Winter. Der Streitpunkt: Sollte der Kader noch einmal verstärkt werden? Am Ende entschied Becker, dass lediglich Mittelfeldspieler Berkay Özcan vom VfB Stuttgart verpflichtet wird. Eine Fehleinschätzung, wie Becker nach dem verpassten Aufstieg eingestand.
Dissens zwischen Hoffmann und Becker
Im Nachgang der Saison gab es auch erste Risse zwischen Becker und dem Vorstandsvorsitzenden Bernd Hoffmann, der in einer Pressekonferenz massiv den sportlichen Bereich kritisierte und damit in die Kompetenzen Beckers eingriff. "Irgendwann im Winter ist das ganze Sportsystem kollabiert", hatte Hoffmann gesagt und sich damit den Unmut Beckers auf sich gezogen. Zudem wurde Becker die öffentliche Darstellung rund um die Entlassung von Trainer Wolf negativ angelastet.