Rotenburg. Viertes Krisen-Trainingslager in vier Jahren: Was der HSV von Rotenburg erwartet und was das mit Werder Bremen zu tun hat.

Der kleine Ben will seinen Idolen ganz nahkommen, als er sich am Mittwochvormittag dem Trainingsgelände des Rotenburger SV nähert. Kurz vor dem Zaun wird er dann aber von einem Ordner abgewiesen. „Bitte zurück auf den Fußweg“, ruft der Mann dem Vierjährigen zu, der sich mit seiner Familie in den angrenzenden Wald begeben hat, um ein paar Blicke auf die HSV-Profis zu werfen.

Gleich fünf Sicherheitskräfte sind damit beschäftigt, das Training des Hamburger Zweitligisten möglichst gut abzusperren. Für drei Tage hat sich der Club mal wieder in das vom Volkspark 89 Kilometer entfernte Wellnesshotel Wachtelhof zurückgezogen, um sich in Ruhe auf das so wichtige Heimspiel gegen den FC Ingolstadt 04 am Sonnabend (13 Uhr) vorzubereiten. Jegliche Störfaktoren sollen dabei von der Mannschaft ferngehalten werden. So auch die Zuschauer an der Sportanlage in der Ahe.

 HSV in die Wiege gelegt

Ben und sein Bruder Luca (7) sind trotzdem zufrieden. Sie haben ihren Lieblingsspieler Pierre-Michel Lasogga gesehen. „Wenn der HSV schon mal in der Nähe ist, dann wollen wir natürlich die Chance nutzen und dabei sein“, sagt ihr Vater Eike Bartels.

Mit seiner Freundin Katrin und den zwei Söhnen ist er aus dem 30 Autominuten entfernten Breddorf nach Rotenburg gefahren. Die gesamte Familie fiebert mit dem HSV. „Mein Opa war Fan, mein Vater auch. Und wenn man dann als Kind mit ins Volksparkstadion genommen wird, ist es um einen geschehen. Der HSV wurde mir in die Wiege gelegt“, sagt Bartels. Der 27-Jährige wurde auf Helgoland geboren und wuchs dort auf. „Auf Helgoland gibt es für die Menschen nur zwei Vereine. Werder Bremen und den HSV. Und da Helgoland ja zum Kreis Pinneberg gehört, war die Wahl klar“, sagt Bartels und lacht.

Hochburg von Werder-Bremen-Fans

Rotenburg ist dagegen eine Hochburg von Werder-Bremen-Fans, auch wenn am Mittwoch sogar ein Fußgänger im Pullover des FC St. Pauli durch die Innenstadt spazierte. „Wir schaffen grüne Welten“, steht auf einem großen Werbebanner des Sportplatzes vom Rotenburger SV, der am Mittwochnachmittag noch vor dem zweiten HSV-Training die Landesligapartie gegen Ritterhude austrug. Rotenburg ist sogar ein 100-prozentiger Partner des HSV-Rivalen Werder Bremen.

Das bekannteste Vereinsmitglied des Rotenburger SV ist allerdings HSV-Fan: der kürzlich vom Amt des DFB-Präsidenten zurückgetretene Reinhard Grindel, der sich beim vorherigen Trainingslager der Hamburger noch mit HSV-Schal auf der Sportanlage in der Ahe zeigte. Zudem gibt es in Rotenburg noch den HSV-Fanclub Wümme-Dinos.

Das Prinzip Hoffnung

Der am Mittwoch angereiste HSV-Fan Eike Bartels wohnt zwar heute in der Nähe von Bremen, fährt aber zu jedem Heimspiel in den Volkspark. In dieser Saison hat er nur das Derby gegen St. Pauli verpasst. In diesen Heimspielen haben Bartels und seine Familie allerdings viele Enttäuschungen erlebt, vor allem zuletzt in den Partien gegen Darmstadt, Magdeburg und Aue, in denen der HSV möglicherweise den Aufstieg verspielt hat. Trotzdem glaubt Bartels weiter an die Rückkehr in die Bundesliga: „Ich habe noch Hoffnung, auch wenn die Leistungen in den vergangenen Wochen extrem durchwachsen waren.“
 

Auch der HSV setzt nach der 0:2-Niederlage bei Union Berlin und dem Sturz auf Rang vier auf das Prinzip Hoffnung. Und ist dafür einmal mehr in das Camp der guten Hoffnung gefahren: Rotenburg an der Wümme. Um 7.30 Uhr traf sich die Mannschaft im Volksparkstadion, ehe Zeugwart Miroslav Zadach den Tross mit dem Teambus in die 21.694 Einwohner große Kreisstadt in Niedersachsen brachte. Um 10.10 Uhr erreichte der HSV das Fünf-Sterne-Hotel, empfangen von ein paar Fans aus der Region. „Wir wollen hier extrem eng zusammenrücken und den Geist beschwören, der uns ausgezeichnet hat.“ Das sagte nicht etwa HSV-Trainer Hannes Wolf am 1. Mai 2019, sondern Ex-HSV-Trainer Markus Gisdol am 5. Mai 2017.

Eike Bartels mit seinen Söhnen Ben und Luca.
Eike Bartels mit seinen Söhnen Ben und Luca. © HA | Henrik Jacobs

Damals wie heute suchten die Hamburger drei Spieltage vor Saisonschluss die Ruhe von Rotenburg, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, das Saisonziel zu erreichen. Damals wie heute ging es für den HSV darum, die Relegation zu vermeiden. Anders als damals will der HSV in diesem Jahr allerdings zurück auf einen direkten Aufstiegsplatz anstelle eines Nichtabstiegsplatzes. Die Mission gelang vor zwei Jahren am letzten Spieltag mit einem 2:1 gegen Wolfsburg.

Krisencamps mit Tradition

Vor diesem Spiel war der HSV sogar ein zweites Mal innerhalb von zwei Wochen in den Wachtelhof gefahren. Diese Art der Krisencamps hat beim HSV fast schon Tradition, seit Bruno Labbadia im April 2015 vor dem 29. Spieltag gegen Bremen erstmals den Wachtelhof bezog. Zuletzt bereitete sich der HSV hier im Sommer 2017 auf die neue Saison vor.

Viele Spieler von damals sind auch heute noch dabei. Kapitän Aaron Hunt zum Beispiel, der wegen seiner Rückenprellung am Mittwoch aber nicht mit der Mannschaft trainierte. Gotoku Sakai und Gideon Jung. Douglas Santos und Vasi­lije Janjicic. Bakery Jatta oder auch Kyriakos Papadopoulos, der wegen eines Infekts aber zunächst in Hamburg geblieben ist. Und natürlich auch Pierre-Michel Lasogga. Der Stürmer wird seine letzten Wochen beim HSV verbringen. Nach Informationen der „Sport Bild“ verlässt der 27-Jährige den Club nach dieser Saison in jedem Fall.

Neuer Lieblingsspieler

Ben und Luca, die Söhne von Eike Bartels, werden sich dann einen neuen Lieblingsspieler aussuchen. Im Gegensatz zum HSV ist die Familie zum ersten Mal zu Besuch an der Sportanlage in der Ahe in Rotenburg. Als selbstständiger Kfz-Teile-Unternehmer hat Eike Bartels unter der Woche nur selten Zeit, sich frei zu nehmen. Da kam der 1. Mai als Feiertag gerade recht, auch wenn der HSV entschied, die zwei Einheiten am Mittwoch unter Ausschluss der Öffentlichkeit auszutragen.

Somit blieb der Familie nur der Weg in den angrenzenden Wald, um durch den Zaun zu gucken. An diesem Donnerstag um 11 Uhr werden die ersten 20 Minuten des Trainings für die Fans offen sein, ehe HSV-Trainer Wolf wieder die Tore schließen lässt, um unbeobachtet an seiner taktischen Formation für das Spiel gegen Ingolstadt zu arbeiten.

Viele Systemwechsel

Womöglich spielt der HSV dann wieder mit Lasogga im Angriff. „Gegen Union ohne richtigen Stürmer zu spielen, war keine gute Idee“, sagt HSV-Fan Eike Bartels. Seine Analyse der schlechten Rückrunde? „Die vielen Systemwechsel und verschiedenen Aufstellungen haben der Mannschaft nicht gutgetan. Man sieht, dass einige Spieler nicht in Topform sind. Ich kann auch keine klare Spielidee erkennen“, sagt Hobby-Experte Bartels. Seinen Söhnen, die beide ein rotes HSV-Trikot tragen, ist diese Diskussion egal. Sie sehen glücklich aus, als das Vormittagstraining nach 40 Minuten beendet ist und sie schließlich im Rotenburger Forst mit Ästen spielen.

Ben und Luca verpassen deshalb, wie Hannes Wolf im zweiten Training das Übungsspiel mehrfach unterbricht, um seine Spieler lautstark zusammenzufalten. Sportchef Ralf Becker steht an der Linie und schaute dem Treiben zu.

Leidgeprüfte HSV-Fans

Und die leidgeprüften HSV-Fans? Die Familie wird – natürlich – am Sonnabend wieder in den Volkspark fahren und ihrem Lieblingsverein gegen Ingolstadt die Daumen drücken. „Wir hoffen natürlich das Beste“, sagt Eike Bartels, der sich schon bald auf ein Wiedersehen mit dem HSV in Rotenburg freuen darf. In der Saisonvorbereitung kommen die Hamburger erneut – und wenn es nach Bartels geht, dann gern als Aufsteiger.