Hamburg. Hamburg muss sich wieder entscheiden: Blau-weiß-schwarz oder braun-weiß? Dabei war die Rivalität nicht immer so ultimativ.
Wie hat das eigentlich alles begonnen zwischen dem HSV und dem FC St. Pauli? Zwei Fußballvereine. In einer Stadt. Der eine auch zu alten Oberligazeiten der Platzhirsch, der Club der Hanseaten. Der andere der Stadtteilclub, der Herausforderer, der selbst ernannte Freibeuter der Liga. Blau-Weiß-Schwarz gegen Braun-Weiß. Dino meets Totenkopf. Established since 1887 gegen „Non established since 1910“, wie es auf den Kapuzenpullis der St.-Pauli-Fans steht. Ein bisschen ist es die ewige Geschichte von Goliath gegen David.
Was sich auch mit Daten belegen lässt. 84.000 Menschen – davon 7500 seit dem Abstieg – haben ihre Liebe zum HSV mit einem Mitgliedsausweis dokumentiert. Im Vergleich dazu klingen 27.000 Mitglieder beim FC St. Pauli wenig, die Zahl ist aber angesichts der überschaubaren sportlichen Erfolge mehr als beachtlich. Naturgemäß finden sich, wie die Grafik mit der Mitgliederverteilung im Hamburger Stadtgebiet auf dieser Seite zeigt, die Anhänger des FC St. Pauli überwiegend in den benachbarten Stadtteilen. Aber nicht nur. Hamburg, die geteilte Stadt, wenn es um die Liebe zu einem Fußballverein geht.
Und doch scheint diese Dauerrivalität zwischen den beiden Fußballclubs noch so viel mehr als nur der Kampf zwischen Groß und Klein auf dem Fußballplatz zu sein. Bei so viel Liebe zu dem einen Verein sind heute tiefe Abneigung und sogar blanker Hass nicht weit. Es gibt Bücher über das Derby. Sozialisationstheoretische Analysen. Diplomarbeiten. Bachelorarbeiten. Masterarbeiten.
Doch wer wirklich dem HSV auf der einen Seite, dem FC St. Pauli auf der anderen Seite und vor allem deren Beziehung untereinander näherkommen will, der braucht nicht zwingend in Bibliotheken zu gehen. Wer sich mit Protagonisten früherer Derbys und ganz normalen Fans unterhält, ob auf St. Pauli oder im Volkspark, der merkt schnell, dass Rivalität zwischen zwei Vereinen viel mehr Facetten bietet als die von extremen Fangruppierungen, die mit ihrem Hang zu Gewalt die Öffentlichkeit viel zu sehr dominieren.
Helmut Schulte erlebte Derbys als Trainer und Manager
Helmut Schulte sitzt im Café Pauline, einen Freistoß vom Millerntor entfernt, und hat sich zur Stärkung „Gute Laune“ bestellt. So heißt das Frühstück mit kleinem Obstsalat und Power-Müsli für 8,40 Euro. Ein paar Gemüsesticks mit hausgemachtem Kräuterfrischkäse, Gemüseaufstrich, Honig, Butter, zwei Scheiben Vollkornbrot. „Herrlich“, sagt Schulte, der gleich dreimal in verantwortlicher Position beim FC St. Pauli unter Vertrag stand – und gleich drei völlig unterschiedliche Epochen von Derbys miterlebt hat.
Noch bevor der erste Cappuccino serviert wird, fängt Schulte an zu erzählen. „In den 80er-Jahren hatten St. Pauli und der HSV eine sportliche Rivalität, die aber von einer hanseatischen Zurückhaltung geprägt war. Abseits des Platzes ist man gut miteinander ausgekommen.“
Schultes erstes Spiel als verantwortlicher Trainer war direkt ein Derby, ein A-Jugend-Derby am Rothenbaum in der Saison 1984/85. „Es war so klar wie Kloßbrühe, dass St. Pauli dieses Spiel hoch verlieren würde. Doch am nächsten Tag stand im Abendblatt: ,St. Paulis A-Jugend besiegt HSV 2:0.‘ Das war der erste Schritt meiner St.-Pauli-HSV-Derby-Historie.“
Tatsächlich hat kaum ein Protagonist beim HSV oder St. Pauli so viele Derbys miterlebt wie Schulte. In der Bundesliga war er bei zwei Niederlagen und drei Unentschieden zwischen 1988 und 1991 als Trainer (im Februar 1991 wurde er vor dem Rückrundenspiel entlassen) dabei. Als Manager verfolgte er in der Saison 1996/97 ein 0:3 und ein 2:2. Und als Geschäftsführer Sport erinnert sich Schulte bis heute an jedes Detail des 1:1 am Millerntor und St. Paulis historischen 1:0-Sieg im Volkspark. „Mit Gerald Asamoah hat sich mein Derbykreis geschlossen.“
Sein Lieblings-Derbymoment? „Die Szene, die ich am meisten in Erinnerung habe, war Benedikt Pliquetts Jubel nach dem Schlusspfiff im letzten Derby 2011. Bene rennt aus dem Tor im Vollsprint, läuft im Mittelkreis unseren Zeugwart über den Haufen und sprintet in die Katakomben. Kurz vor den Gästekabinen rutscht er auf seinen Schraubstollen in der Mixedzone aus, ruft den Journalisten ein ,ihr Arschlöcher‘ zu, rappelt sich wieder auf und ist für ein paar Sekunden in der Kabine verschwunden.“ Schulte nimmt einen schnellen Schluck, erzählt weiter. „In der Kabine zieht sich Bene das T-Shirt ,Derbysieger‘ über sein Trikot und läuft im gleichen Tempo wieder zurück ins Stadion, im Vollsprint zur Eckfahne und tritt sie um. Diese Sekunden werde ich niemals vergessen.“
Politisches Lagerdenken
Auch sieben Jahre später kann es Schulte noch nicht so richtig glauben, was da am 16. Februar 2011 passiert ist. Nicht richtig verstehen will Schulte dagegen, warum, wieso, weshalb es mittlerweile einen so ausgeprägten Hass zwischen den beiden Fanlagern gibt. Ein möglicher Erklärungsansatz sei vielleicht das politische Lagerdenken, das Mitte und Ende der 80er-Jahre seinen Ursprung hatte.
„In dieser Zeit kamen auch ein paar Fans vom HSV zum FC St. Pauli, die sich United nannten“, berichtet Schulte. „Die standen hinter dem Tor und hatten durchaus rechtes Gedankengut.“ Doch hinter dem Tor hatte Charlotte, die damalige Putzfrau von Domenica, das Sagen. Und Charlotte und ihre Bande haben sehr resolut dafür gesorgt, dass sich bei St. Pauli kein rechtes Gedankengut breitmachen konnte. Nach Schultes Erinnerungen ist die Fangruppierung daraufhin wieder in den Volkspark zurückgekehrt. „Das war in gewisser Art und Weise der Anfang davon, dass St. Pauli als ein eher linker Verein wahrgenommen wurde.“
Einerseits war es die Zeit der Hafenstraße-Besetzung. Ein Fan, der nur unter seinem Künstlernamen „Doctor Mabuse“ bekannt ist, kam erstmals mit Totenkopffahne ins Stadion, die er auf dem Dom gekauft und an einen Besenstil getackert hatte. So begründete er ein neues Symbol für den Verein. St. Paulis Torhüter Volker Ippig wohnte zeitweise in den besetzten Häusern der Hafenstraße und stieg zur Ikone der Fans auf, die stolz T-Shirts mit seinem Konterfei und der Aufschrift „Volker hört die Signale“ trugen.
Auf der anderen Seite machten sich in der Westkurve des Volksparkstadions Skinheads und Neonazis breit. Einige HSV-„Fans“ sangen ungeniert: „Wir bauen eine U-Bahn, von St. Pauli bis nach Auschwitz.“ Plötzlich ging es nicht mehr um Fußball, sondern um Politik – und um Haltung. „Alternative, Ökos und Linke haben dann immer mehr St. Pauli für sich entdeckt“, sagt Schulte. Viele frei gewordene Wohnungen im schlechten Zustand zogen Leute mit kleinem Geldbeutel an, und zu diesem alternativen Viertel passte das marode alte Millerntor-Stadion perfekt.
Gordon Hollenga läuft mit HSV-Schal durch St. Pauli
Es ist jetzt später Nachmittag. Gordon Hollenga steht direkt vor dem Millerntor-Stadion, nur ein paar Hundert Meter entfernt vom Café Pauline, und kann Helmut Schulte nur beipflichten. „St. Pauli war immer der linke Verein, was ja auch meiner Gesinnung entspricht“, sagt er. „Vor ein paar Jahren hatte ich mir deswegen sogar fest vorgenommen, St.-Pauli-Fan zu werden. Aber es gelang mir einfach nicht.“
Hollenga ist DJ und nicht nur in Hamburg als einer der „Disco Boys“ bekannt. Er wohnt an der Feldstraße, mitten auf St. Pauli, direkt gegenüber dem Millerntor-Stadion. Er ist der Beweis, dass im Leben nicht alles nur schwarz und weiß ist. Denn für den St. Paulianer zählt nur eines: der HSV. „Ich bin von tiefster Seele HSV-Fan“, sagt Hollenga, der sich sogar zur Feier des Tages einen HSV-Schal um den Hals gewickelt hat. Mitten auf St. Pauli. Dabei betont er: „Ich sympathisiere mit dem FC St. Pauli, hoffe, dass sie immer gewinnen – außer gegen den HSV.“
Natürlich geht es im Fußball auch immer um Politik. Aber manchmal ist Fußball eben auch nur Fußball. 1979 ist Hollenga erstmals mit seinem Vater ins Volksparkstadion gegangen. „Es war die Zeit mit Kevin Keegan, Horst Hrubesch und Manni Kaltz. Und dann kam Ernst Happel, die große Ära begann, und man wusste, dass man alles richtig gemacht hatte“, erinnert sich der Mittvierziger, der offiziell seit rund 15 Jahren 29 Jahre alt ist.
Seine Liebe zum HSV hat er sich auch nicht nach seinem Umzug auf St. Pauli abgewöhnen können. „Ich hing einfach an der Nadel. Das ist eine so tiefe Liebe wie mit der Familie. Die kann man nicht so einfach abgegeben.“
St.-Pauli-Fan Klaus Fischer lebt in einer HSV-Hochburg
Diese Liebe spürt auch Klaus Fischer – allerdings genau umgekehrt. Der 70 Jahre alte Rentner steht in kompletter Totenkopfmontur mitten auf dem Rathausmarkt und ist quasi das St.-Pauli-Pendant zu Hollenga. Denn Fischer wohnt in Volksdorf, in einer absoluten HSV-Hochburg, ist aber St. Paulianer durch und durch. „Wenn ich über unseren Wochenmarkt mit meiner St.-Pauli-Mütze laufe, dann ist das schon ein komisches Gefühl.“ Doch dann muss Fischer lachen. „Hetzjagden hat es deswegen noch keine gegeben.“
Der Kiezclub war ganz am Boden, als Fischers Liebe erst so richtig entflammte. „Als St. Pauli 2003 in die Regionalliga Nord (damals die dritthöchste Spielklasse im deutschen Fußball, die Red.) abgestiegen ist, haben mir meine Kinder eine Dauerkarte geschenkt. Und dann hat es mich so richtig erwischt“, sagt der mittlerweile vierfache Großvater, dessen Enkel und Kinder natürlich auch alle eine Dauerkarte am Millerntor haben. Gegengerade, selbstverständlich.
Und so sehr er sich am Sonntag eine Neuauflage vom Asamoah-1:0-Derbysieg von 2011 wünscht, so wenig Verständnis hat er für die sich ankündigenden Ausschreitungen. „Für mich ist das am Ende des Tages nur ein sportlicher Wettkampf“, sagt Fischer. „Ich bin doch gebürtiger Hamburger, ich würde mich selbst sogar als Fan von Uwe Seeler bezeichnen. Ich mag den HSV, aber ich bin eben ein St. Paulianer.“
Ingo Porges zählt Uwe Seeler heute zu seinen Freunden
Ein Fan von Uwe Seeler ist Ingo Porges nicht. Er ist viel mehr. „Ich kann behaupten, dass ich Uwe Seeler zu meinen Freunden zählen darf“, sagt Porges, der genau wie Fischer Volksdorfer ist. Und der genau wie Fischer auch St. Paulianer ist. Allerdings nicht erst seit dem Abstieg in die Regionalliga 2003. Sondern schon seit den legendären Derbys in der Oberliga 40 Jahre zuvor, die damals schon die Hamburger elektrisierten. Kamen sonst nur rund 7000 im Schnitt, drängelten sich auch am Millerntor über 15.000 Zuschauer auf den Rängen.
Porges sitzt im Wohnzimmer seines gepflegten Reihenhauses in Volksdorf, wo er mit Ehefrau Birgit lebt, die er vor 53 (!) Jahren geheiratet hat. Doch an diesem Vormittag wird der 80-Jährige nicht über seine erste große Liebe seines Lebens sprechen. Sondern über seine zweite, den FC St. Pauli.
Zwischen 1956 und 1968 absolvierte der frühere Kiezkicker 313 Ligaspiele für den FC St. Pauli, sechs Jahre führte er das Team als Kapitän aufs Feld. 1960 bestritt er gegen Irland (0:1) sogar ein A-Länderspiel für Deutschland – als einer von nur vier St. Paulianern in der Geschichte des Vereins.
Doch mindestens so präsent wie sein Spiel im DFB-Trikot gegen Irland hat Porges vor allem seine Spiele gegen Seeler und den HSV in Erinnerung. „Als ich das erste Mal hörte, dass ich dafür vorgesehen war, ihn auszuschalten, dachte ich nur: Na bravo, das ist doch der, der so kopfballstark ist, so schussstark, so drahtig und so schnell.“ Und vor allem der, der „immer sein Hinterteil so rausstreckt“.
Doch am 13. Februar 1960 hätte wahrscheinlich auch der dickste Hintern Hamburgs die Überraschung schlechthin nicht verhindern können. Der spätere deutsche Meister fuhr mit Jochen Meinke, Charly Dörfel und natürlich mit „Uns Uwe“ an der Budapester Straße vor. „Wir mussten zu jener Zeit zu Fuß von den Umkleideräumen über die Budapester Straße durch das Publikum, und nach dem Spiel auch wieder zurück“, berichtet Porges, als wenn es gestern gewesen wäre. „So wusste ich immer sofort aus erster Hand, wie ich gespielt habe.“
4:1 gewann der FC St. Pauli das Spiel – und der Weg zurück in die Kabine wurde zum Gratulationsmarathon. Damals. Heute blättert Porges in einem DIN-A3 großen Album, das sein Bruder ihm mal geschenkt hat. Fotos von damals, Spielberichte, fein säuberlich eingeklebt und trotz der vielen Jahre bestens erhalten. Das Abendblatt schrieb martialisch am nächsten Tag in seinem Spielbericht: „Die Stunde, auf die St. Paulis Mannschaft gewartet hatte, die Stunde der Revanche.“ Denn in den Jahren zuvor hatte es teilweise deftige Klatschen gegeben – wie ein 0:9, 0:8 und ein 0:6.
Fast 60 Jahre später legt Porges seine Stirn in Falten. Denn Rache oder sogar Hass waren ihm, seinen Mannschaftskollegen, aber auch den HSV-Kontrahenten zu jener Zeit völlig fremd. „Wir kannten uns durch die gemeinsamen Spiele in der norddeutschen Auswahl sehr gut.“ Der frühere beidfüßige Mittelläufer erinnert sich, wie sich beide Mannschaften sogar vor einem Spiel gemeinsam in einer Kabine umgezogen haben. „Da hat sich Charly Dörfel auf eine Bank gestellt und in die Runde gerufen: Heute seid ihr dran! Was übrigens dann auch eintrat ...“
Porges muss lachen. Noch heute pflege er besten Kontakt zu den Rothosen von damals. „Horst Schnoor, Jochen Meinke, Uwe Seeler, Klaus Neisner, Harry Bähre oder Erwin Piechowiak treffe ich häufiger als meine Jungs von St. Pauli“, sagt der rüstige Ex-Fußballer. „Wir haben ein bombiges Verhältnis.“
Rolf Höfert führte St. Pauli zum 2:0 gegen den HSV
Das früher traditionell gute HSV-St.-Pauli-Verhältnis wurde erstmals 1977 vor dem ersten Bundesligaderby auf eine harte Probe gestellt. Durch einen Zeitungsbericht. „Wir gewinnen 8:0, ich meine das völlig ernst“, soll HSV-Kapitän Peter Nogly vor dem Spiel getönt haben. Die Arroganz des amtierenden Europacupsiegers der Pokalsieger oder nur ein „kleiner Scherz“, wie Nogly später zu korrigieren versuchte? So oder so verfehlte dieser Tipp seine Wirkung beim Gegner nicht. „Der Ausschnitt hing bei uns in der Kabine an der Wand. Damit war endgültig klar, dass wir gar nichts zu verlieren hatten“, sagt Rolf Höfert, St. Paulis damaliger Kapitän.
Man kann das Grinsen des heute 69-Jährigen durch das Telefon förmlich erahnen. Höfert lebt in Bern, wo es ihn seit seinem Wechsel 1979 von St. Pauli zum FC Bern nicht mehr weggezogen hat. Am Telefon erlaubt sich der Wahlschweizer kaum eine Atempause. Der HSV sei natürlich der große Favorit gewesen, berichtet Höfert über das Derby von 1977. Die Rothosen hätten ja schließlich nicht nur vier Monate zuvor den Europapokal gewonnen, sondern auch noch im Sommer den englischen Superstar Kevin Keegan geholt und wären standesgemäß mit 8:2 Punkten in die Saison gestartet. Und St. Pauli? Hatte immerhin Franz Gerber, den „Schlangen-Franz“.
Mit einem Lupfer erzielte Gerber, der seinen Spitznamen nach einem schmerzhaften und durchaus auch gefährlichen Reptilienbiss einer Kobra weghatte, nach einer knappen halben Stunde das überraschende 0:1. „Es war auch auf dem Spielfeld zu spüren, dass die Stimmung unter den Zuschauern im Laufe des Spiels auf unsere Seite kippte“, erinnert sich Höfert. „Es gab ja noch längst nicht so eine große Rivalität zwischen den Anhängern wie heute. Die Leute fanden es sympathisch, dass wir dem Favoriten das Leben schwer machen konnten, und gönnten uns am Ende auch den Erfolg.“ Als Wolfgang Kulka schließlich drei Minuten vor Schluss auch noch das 0:2 erzielte, war die Überraschung perfekt. Und aus dem HSV-Lager gab es sogar „St. Pauli“-Rufe.
„Als unser Sieg klar war, habe ich zu Willi Reimann gesagt: ‚Du wirst das Fußballspielen wohl auch nicht mehr lernen.‘ Im Nachhinein muss ich sagen“, so Höfert, „dass dies für mich der schönste Sieg meiner Fußballkarriere war.“
Stefan Schnoor stand nur vier Minuten auf dem Platz
Über einen kuriosen Derbysieg kann dagegen Stefan Schnoor (47) berichten. Der frühere HSV-Profi, der mittlerweile als Sportchef für den Regionalligisten VfB Lübeck arbeitet, sitzt an dem trainingsfreien Montag in seinem Büro zu Hause in Rellingen. Er kann sich vor allem an einen der bemerkenswertesten Derbysiege erinnern, bei dem er selbst eine unfreiwillige Hauptrolle übernehmen sollte. „Die Derbys gegen St. Pauli? Da fällt mir sofort ein, dass ich bei einem Duell nicht sehr lange auf dem Platz gestanden habe“, sagt Schnoor. Vier Minuten, wenn man es genau nimmt.
Am 15. September 1996 flog der Verteidiger nach einer Notbremse an Ex-HSV-Stürmer Emerson nach nicht einmal 250 Sekunden vom Platz. Nur Michael Sternkopf (damals Freiburg) hatte es einige Monate zuvor mit 100 Sekunden noch eiliger in der Bundesliga-Geschichte gehabt. Nutzen konnten die Gäste vom Kiez ihre Überzahl nicht. 3:0 gewann der HSV, der am Ende des Spiels nach einem weiteren Platzverweis gegen Sven Kmetsch (Gelb-Rot) sogar nur noch zu neunt auf dem Platz stand.
Die Spieler bekamen Mitte der 90er-Jahre noch nicht mit, wie problematisch sich das Verhältnis der Fanlager entwickelte, über das heute rauf und runter berichtet wird. „Zu dem Zeitpunkt war es überwiegend nur eine normale Rivalität“, sagt Schnoor, der sich gerne daran erinnert, dass er früher am Abend in Eppendorf auch einmal die St.-Pauli-Kollegen Martin Driller oder Jens Scharping getroffen hat und man dann gemeinsam einen Drink genommen hat.
Für den heutigen Hass der Fanlager hat er dagegen keinerlei Verständnis. „Das ist mittlerweile extrem, es ist sehr schade, dass der Sport immer mehr in den Hintergrund rückt.“ Verantwortlich macht Schnoor jedoch ausdrücklich nicht nur die Fußballanhänger, sondern auch die Tatsache, dass sich der Sport mit seiner zunehmenden Kommerzialisierung selbst immer mehr von seiner Basis entfernt hat.
Wie unverzeihlich für Fans jedoch Fehler in einem Derby sein können, zeigte sich bereits 1997, als HSV-Torwart Richard Golz beim Stand von 2:1 ein Abschlag missglückte und er so in der 90. Minute noch den 2:2-Ausgleich für St. Pauli möglich machte. Einige HSV-Anhänger verziehen Golz – zu dem Zeitpunkt mit elfjähriger Vereinzugehörigkeit quasi schon ein HSV-Urgestein – den Patzer nie. Fortan hing im Fanblock bei jedem Auftritt des HSV ein „Golz raus“-Plakat. „Das war schon extrem“, ist auch Schnoor diese heftige Reaktion der eigenen Fans noch gegenwärtig.
Heftig war auch die Reaktion der St.-Pauli-Fans zwei Jahre zuvor ausgefallen, als der einstige Publikumsliebling Bernd Hollerbach über den 1. FC Kaiserslautern zum Lokalrivalen gewechselt war: Statt „Ho-Ho-Hollerbach“ hieß es fortan „Ho-Ho-Hochverrat“.
Die Dominanz der Ultras veränderte die Fanszene
So einig sich Schnoor, Schulte, Höfert, Porges, Disco-Boy Hollenga und der Volksdorfer St.-Pauli-Opa Fischer auch sein mögen, so uneinig sind sich die Hardcore-Anhänger beider Clubs von heute. Und der Umstand, dass es so wenige Aufeinandertreffen in der jüngeren Vergangenheit gab – am Sonntag steigt erst das fünfte Duell in diesem Jahrtausend –, mag zur überhöhten Bedeutung des Spielausgangs beitragen.
Im September 2010, wenige Wochen vor dem Derby (nach zuvor achtjähriger Pause), griffen vermummte HSV-Hooligans am Bahnhof Altona Fans des FC St. Pauli an, unter ihnen auch der damalige Torwart Benedikt Pliquett. Im Vorfeld des bislang letzten Stadtderbys 2011 gab es schwere Ausschreitungen auf dem Kiez. 45 Personen mussten in Gewahrsam genommen und vier Polizeibeamte wegen leichter Verletzungen behandelt werden. Am Abend hatten 150 HSV-Anhänger versucht, St. Paulis Fan-Kneipe Jolly Roger zu stürmen.
Und auch an diesem Wochenende muss man wieder mit dem Schlimmsten rechnen. Vor allem die Ultra-Gruppierungen aus beiden Lagern bringen sich bereits seit Wochen in Stellung. So vergeht kaum ein Tag, an dem nicht über irgendwelche Übergriffe oder Vergeltungsaktionen berichtet wird. Noch absurder wird das Ganze dadurch, dass die politische Dimension des Derbys längst nicht mehr ihre Gültigkeit hat.
Der HSV gegen St. Pauli – das ist schon lange nicht mehr das Duell zwischen rechts und links, zwischen gut und böse. Ein Großteil der HSV-Ultras empfindet sich als genauso links wie ihre Pendants von der Südtribüne am Millerntor. Umgekehrt hatte St. Pauli zuletzt Probleme mit gewaltbereiten Gruppierungen („New Kids Sankt Pauli“). Und auf der Gegengeraden stehen Menschen, die in ihrem normalen (Berufs-)Leben längst etabliert sind.
Doch noch immer ist es leicht, mit gängigen Klischees zu hantieren. Daran können auch außergewöhnliche Aktionen wie die 2015 nichts ändern, als 60 Fans vom HSV und FC St. Pauli mit einer Pyro-Show auf der Treppe vor der Kunsthalle gemeinsam gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus protestierten. Sogar ein Gruppenfoto gab es damals, für das beide Fanlager ihre sportliche Rivalität hintangestellt haben. Unter dem Motto „In Hamburg seid ihr nicht willkommen“ setzten die Fußball-Fans ein Zeichen gegen die rechten Demonstranten.
Die Realität heute? Wenn der eine dem anderen die Fahne klaut, dann wird die große Politik genauso wie der große Fußball schnell vergessen. Dann ist Kindergarten mit Faustkampf angesagt. Im schlimmsten Fall geht es noch härter zu.
„Die meisten in beiden Lagern wollen es wahrscheinlich nicht hören, aber am Ende geht es auch an diesem Sonntag doch nur um Fußball – da muss man sich doch nun wirklich nicht die Köppe einschlagen“, sagt Gordon Hollenga, der während des Abendblatt-Termins vorm Millerntor wegen seines HSV-Schals übelst bepöbelt wird.
Und so muss am Ende dieses Spaziergangs quer durch Hamburg und durch die Derbygeschichte vor der Neuauflage in der Zweiten Liga wohl nicht die Frage gestellt werden, wie das alles angefangen hat. Sondern: Wie kann man diesen Wahnsinn, dass einige wenige radikale „Fußball-Fans“ mit ihrem Verhalten Gewalt und Gegengewalt schüren, eigentlich jemals wieder beenden?
Die Mauern in dieser geteilten Stadt wachsen von Jahr zu Jahr mehr.