Hamburg. Der frühere Nationalspieler Marcell Jansen spricht über sein neues Leben als HSV-Aufsichtsrat, Unternehmer – und Oberligakicker.
Der Aufschrei war groß, als Marcell Jansen 2015 im Alter von nur 29 Jahren seine Fußballkarriere (Gladbach, Bayern, HSV) beendete. Als Unternehmer und mit seinem Engagement beim HSV fand der frühere Nationalspieler (45 Länderspiele) jedoch schnell neue Herausforderungen.
Hamburger Abendblatt: Herr Jansen, welche Gedanken gehen Ihnen vor der Partie des HSV gegen Hertha BSC an diesem Wochenende durch den Kopf?
Marcell Jansen: Ich habe großen Respekt vor den Berlinern. Ein kompaktes Team. Sie haben sogar in München gepunktet. Dennoch ist die Aufgabe lösbar, ein Sieg für den HSV drin. Gerade im Volksparkstadion mit der Unterstützung unserer fantastischen Fans, die alles geben werden. Ich hoffe, mit der neuen Konstellation im Verein gelingen gleich drei Punkte.
An dieser neuen Konstellation haben Sie als noch junges Aufsichtsratsmitglied mit der Abberufung des Vorstandsvorsitzenden Heribert Bruchhagen mitgewirkt. Nach wenigen Wochen mussten Sie gleich eine heikle Entscheidung treffen. Wie gingen Sie emotional damit um?
Jansen: Die Verantwortung habe ja nicht ich allein getragen, sondern der gesamte Aufsichtsrat mit Bernd Hoffmann an der Spitze. Natürlich ist es immer ein schöneres Gefühl, wenn alles gut läuft. Doch ich erzähle ja nichts Neues, wenn ich sage, dass der HSV in einer Krise steckt. Das weiß ganz Fußball-Deutschland. Also haben wir nach intensiver Beratung eine Entscheidung getroffen. Das ist unsere Aufgabe.
Es gibt ja dankbarere Aufgaben, gerade jetzt ein Aufsichtsratsmandat zu übernehmen. Was hat Sie motiviert?
Jansen: Der vorherige Vereinspräsident Jens Meier hat mich angesprochen. Daraufhin habe ich überlegt, ob ich mir zutraue, mich konstruktiv einbringen zu können. Kann ich das, was ein Aufsichtsrat im Wortsinne tun muss, leisten, nämlich Aufsicht führen und Rat geben? Ich glaube, das kann ich.
Was ist Ihnen persönlich wichtig?
Jansen: Ich betrachte mich als Teamplayer innerhalb eines Gremiums, dem es um den HSV geht. Nicht um persönliche Eitelkeiten. Dieser positive Zustand ist auch nach der Wahl Bernd Hoffmanns absolut gegeben. Meine emotionale Verbundenheit mit dem HSV zeigt sich ja schon in anderen Funktionen. Als Repräsentant der Stiftungsinitiative Hamburger Weg oder als Beirat des Campus. Etwas anderes ist übrigens mindestens ebenso wichtig.
Was denn?
Jansen: Es ist mir fast unangenehm, von mir aus darüber zu sprechen. Zu meiner aktiven Zeit sind wir mehrmals knapp dem Abstieg entronnen. Aber Joachim Löw berief mich dennoch in die Nationalmannschaft. Als damals einzigen HSV-Spieler. Warum durfte ich bei Jogi weiterspielen? Weil er mich lieber mochte als die anderen? Nein! Ich konnte mein Leistungsniveau halten, weil ich nie nach Ausreden gesucht habe. Nicht bei den Mitspielern, nicht bei den häufigen Trainerwechseln, nirgendwo. Verantwortlich für meine Leistung bin ich selbst. So wurde ich erzogen. Ich wäre niemals Nationalspieler geblieben, hätte ich nicht die Fähigkeit zur harten, klaren Analyse. Diese Fähigkeit ist in meiner jetzigen Funktion wichtig.
Okay, dann analysieren wir auch hart: Noch nie hat eine Bundesligamannschaft noch den Klassenerhalt geschafft, die am 26. Spieltag sieben Zähler Rückstand auf einen Nichtabstiegsplatz hatte. Was macht Ihnen denn noch Resthoffnung?
Jansen: Ich erinnere mich genau an das Relegations-Rückspiel in Karlsruhe 2015. Nach Ablauf der regulären Spielzeit kam eine Ansage des Stadionsprechers an die Zuschauer. Sie sollten aus Respekt gegenüber dem HSV bitte sportlich angemessen feiern. Gojko Kacar und ich saßen verletzt auf der Tribüne. Unsere Welt war zusammengebrochen, neben uns wurden die Sektwagen reingerollt. Doch unser Team glaubte bis zum Schluss an sich. Den Moment, als Marcelo Diaz den Freistoß zum 1:1 ins Tor streichelte, vergesse ich nie. Ich bekomme beim Erzählen Gänsehaut. So schnell, wie die Sektwagen reingerollt worden waren, wurden sie wieder abtransportiert. Im Fußball ist nicht alles erklärbar und unglaublich viel möglich. Du musst nur bis zur letzten Sekunde alles geben, was in dir steckt.
Wer hält denn eher die Klasse? Die Profis oder die Oberligamannschaft des HSV III, bei der Sie am 9. Februar beim 2:4 gegen den FC Teutonia 05 Ihr Comeback gaben?
Jansen: Das kann man nicht miteinander vergleichen. Der HSV III spielt quasi ohne Mittel als beste Mannschaft des e.V. in der höchsten Hamburger Amateurklasse. Der Klassenerhalt bei so finanzstarker Konkurrenz wäre eine Sensation. Der Aufstieg in die Oberliga Hamburg war ja bereits eine Überraschung.
Wie kam es genau zu Ihrem Engagement?
Jansen: Ich habe aus Spaß einmal mittrainiert und sofort gemerkt: Das gefällt mir. Das Trainerteam mit Marcus Rabenhorst und Christian Rahn macht seine Sache exzellent. Die Spieler sind fußballerisch stark und menschlich klasse.
Woran machen Sie das fest?
Jansen: Nehmen Sie unseren Innenverteidiger Michael Ulbricht, der gleichzeitig unser Zeugwart ist. Michael ist sich für nix zu schade. Für mich ist der Typ eine Legende! Unser neuer Sechser Jerry Sampaney kennt sich durch seinen Beruf mit Fitness aus, deshalb leitet er die speziellen Übungen vor dem Training. Ich bin Fußballromantiker. Wenn ich so was sehe, lacht mein Herz. Das ist geil, deshalb habe ich mir gesagt: Ja, hier schnuppere ich gerne Kabinenluft! Hier stehe ich gerne bei minus fünf Grad und Schneeregen in der Woche abends um halb acht auf einem alten Kunstrasen, um mit den Jungs zu trainieren.
Beim 2:4 gegen Teutonia 05 spielten Sie 16 Minuten, beim 0:2 gegen Niendorf 30. Wann gehen Sie über die volle Distanz?
Jansen: Realistisch ist das Ende März oder Anfang April. In der Oberliga Hamburg wird sehr guter Fußball gespielt. Ich war immerhin zweieinhalb Jahre raus aus dem aktiven Bereich.
Auf welcher Position spielen Sie?
Jansen: Bisher links offensiv.
Haben Sie schon von den Gegenspielern ein paar Sprüche auf dem Feld zu hören bekommen?
Jansen: Ich weiß schon, auf was Sie hinauswollen. Von wegen Ex-Nationalspieler und so. Ist aber bisher nicht passiert. Warum auch? Ich glaube nicht, dass ich Arroganz ausstrahle. Fußball wird überall gespielt, ist überall gleich. Der Amateurfußball hält in unserem Land unheimlich viel zusammen. Das darf man nicht unterschätzen. Es ist mir eine Ehre, hier dabei zu sein. Ich kriege nichts dafür. Mache das, weil ich Bock drauf habe. Das bedeutet allerdings nicht, dass ich naiv an die Sache herangehe.
Wie meinen Sie das?
Jansen: Nun, natürlich kriege ich ein bisschen was mit. Manche Amateurspieler wechseln für 50 Euro mehr im Monat den Verein. Wer so was macht, dürfte mir auf dem Platz nichts von Vereinstreue erzählen. Einem Wert, der mir sehr wichtig ist.
Wie lassen sich denn Werte, die Ihnen im Fußballbereich wichtig sind, auf Ihre Tätigkeit als Unternehmer übertragen? Welche Grundsätze sind Ihnen hier wichtig?
Jansen: Ich gehe nur Sachen an, für die ich brenne und hinter denen ich hundertprozentig stehe. Und: Nicht schimpfen, sondern anpacken. Lösungen anbieten.
Was verbirgt sich hinter Ihrem jüngsten Start-Up „Picue“?
Jansen: Picue ist eine App, auf der sich Gruppen auf einem eigenen Channel ihren Followern mit ihren eigenen authentischen Inhalten präsentieren können. Beispielsweise Sportmannschaften. Sportfans folgen im Netz oft Einzelpersonen. Doch die schönsten Momente erleben wir alle schließlich in Gruppen. So entstand die Idee für Picue. Wir sind das erste Group-Story-Network der Welt.
Wie wollen Sie damit Geld verdienen?
Jansen: Die Gruppen können sich bei uns selbst vermarkten. Ein Anteil der dabei erzielten Erlöse fließt an uns. Meine aktive Zeit war zudem eine Inspiration. In den HSV-Fanclubs stieß ich häufig auf viel Unverständnis und auch Nichtwissen bei den Fans darüber, was eigentlich das Leben eines Profis ausmacht. Kein Vorwurf an die Leute, woher sollen sie es wissen? Bei Picue kann eine Mannschaft ihre Story erzählen. Es geht um das Team, nicht um 23 einzeln vermarktete Ich-AGs.
Sie engagieren sich auch als Gesellschafter beim Sanitätshaus „Renovatio“ und haben mit Profikoch Steffen Henssler am Köln-Bonner Flughafen das Restaurant „Ben Green“ eröffnet ...
Jansen: Mit dem Problem der Statik kenne ich mich aus. Unsere Füße als unser Fundament, um durchs Leben zu gehen, werden leider immer noch unterschätzt. Dabei machen wir hier keinen Unterschied, ob Miroslav Klose unser Kunde ist oder Karlheinz aus Altona. Beide erhalten die bestmöglichen Einlagen.
Okay, aber ein Restaurant? Was wissen Sie denn über Ernährungsprobleme?
Jansen: Einiges. Wir steuern auf amerikanische Verhältnisse zu, jeder dritte Bundesbürger ist übergewichtig. Ich habe es nach meiner aktiven Karriere auch nicht geschafft, mich dauerhaft gesund zu ernähren. Hauptsächlich aus Zeitmangel. So geht es vielen Menschen. Und was bekommen die für den schnellen Hunger auf der Straße? Burgerläden, Pizzaketten und Pommesbuden. Ab und zu für die Seele wichtig, auf Dauer aber ungesund. Also wollte ich den Leuten eine Alternative anbieten, „Fastfood in gesund“ sozusagen.
Das sind mutige Projekte. Vermissen Sie diesen Mut manchmal in der noch immer eher konservativen Fußballbranche?
Jansen: Was ich vermisse, ist hauptsächlich der direkte Austausch zwischen Spielern und Fans. Fußball ist die geilste Sportart der Welt. Ohne Fans ist er nichts. Also müssen sich die Clubs viel intensiver damit auseinandersetzen, was einen Fan bewegt. Wie er tickt. Die Spiele in Italien vor halb leeren Rängen sollten uns allen eine Warnung sein. Natürlich muss Fußball bezahlbar bleiben. Darüber hinaus braucht es mehr offene, ehrliche und direkte Kommunikation. Und zwar nicht als Einbahnstraße. Auch die Fans sollten fair bleiben und nicht sofort mit dem Vorwurf kommen: Ach, du bist ja eh Millionär. Die Spieler sind das, weil sie besser gegen den Ball treten können als 80 Millionen andere. Manche sind schüchtern und introvertiert. Es sind Menschen wie wir alle.
Das Bild des Ego-Profis ohne Bindung an den Club ist für Sie also falsch?
Jansen: Fast immer, ja. Ich weiß es doch noch aus unserem Abstiegskampf damals. Ich hätte kotzen können, dass wir da unten drin standen. Ich habe nicht auf mein Bankkonto geguckt und war sofort wieder happy. So ging uns das allen, wir haben es uns nicht in unserer eigenen Komfortzone gemütlich gemacht. Ich kann den Fans versichern: Auf Abstiegskampf hat kein Spieler Bock. Keiner spielt extra schlecht, keiner verliert gerne. Deine Lebensqualität sinkt.
Woran machen Sie das fest?
Jansen: Du bist ständig schlecht gelaunt, die enorme psychische Belastung überträgt sich auf die Familie. Dir schießen tausend Gedanken durch den Kopf. Du denkst an die Leute auf der Geschäftsstelle, die um ihren Job zittern. Was du antwortest, wenn du auf der Straße angesprochen wirst. Du denkst daran, ob dein Name auf dem Zettel stehen wird, mit dem der historische Abstieg besiegelt wird. Das ist beim HSV eben eine Sondersituation. Anders als zum Beispiel in Freiburg. Und in der Regel sinkt mit einem Abstieg auch dein Marktwert. Du verdienst nicht einfach fröhlich anderswo deine Millionen.
Sie haben das alles hautnah erlebt. Wie kann man als Spieler mit dieser Belastung fertig werden?
Jansen: Indem man sich ein gutes Umfeld schafft, um das verarbeiten zu können, was einen bedrückt. Familie, Freunde, Eltern, Bekannte, Berater, alle sind wichtig. Du kannst nicht alles schlucken, musst über deine Gefühle reden. Dann spürst du den Rucksack auf dem Rücken und die schweren Beine weniger. Und wenn du dann den ersten Pfiff hörst, musst du alles reinwerfen, was du hast. Mit dem Blick fürs Wesentliche: Es geht ums Fußballspielen. Und es ist erst vorbei, wenn das letzte Saisonspiel abgepfiffen wird.