Hamburg. Die Belastungssteuerung ist eine hochkomplexe Angelegenheit. GPS-Sender liefern täglich Daten vom „gläsernen Profi“.
Nasskalte Stille. Die Trainingsplätze des HSV unterhalb des Volksparkstadions lagen am Freitag einsam und verlassen da. Da rollte kein Ball. Stattdessen stand eine „Kraft- und Laufeinheit“ für die Profis auf dem Programm. Das meiste davon erledigten sie drinnen im Trainingszentrum in den Katakomben der Arena. „Wir haben hier einen Kraftraum von knapp 300 Quadratmetern, in dem wir den Großteil der Mannschaft belasten können“, erklärt HSV-Athletiktrainer Daniel Müssig (35).
Gemeinsam mit dem leitenden Mannschaftsarzt Götz Welsch (42) ist Müssig für den Fitnesszustand des HSV-Teams verantwortlich. „Belastungssteuerung“ ist dabei eines der Zauberworte, die regelmäßig Fans die Augenbrauen heben lassen.
Immer wieder mal fehlt schließlich einer der Profis mit eben dieser Begründung im Mannschaftstraining. „Es ist aber keinesfalls so, dass der dann hier gemütlich auf der Liege liegt und nichts tut“, erklärt Welsch.
Regeneration mit Sauna, Liege, Ruhebereich
In dem Mannschaftsbereich gibt es neben dem Raum für die Spieler auch einen großen Bereich für die Regeneration mit Sauna, Liege, Ruhebereich, Kälte- und Wärmebecken für Wechselbäder. Dort sind auch eine Küche und Behandlungszimmer für Ärzte und Physiotherapeuten. Es gibt einen Raum für passive Therapien, Lymphdrainage, Kompressionen und Elektrotherapie. Zahlreiche Geräte, die die Arbeit unterstützen. Und eben der große Kraftraum mit Matten, Ausdauergeräten wie Räder und Crosstrainer. Alles also, was das Herz eines Sportmediziners und Athletiktrainers begehrt.
Vor etwa anderthalb Jahren haben Welsch und Müssig beim HSV den „gläsernen Athleten“ eingeführt. Vorher haben sie ein Jahr lang Daten gesammelt, um „Normwerte“ für jeden Spieler zu bekommen. Theoretisch wissen sie jetzt alles über den Fitnesszustand der Spieler. „Wir haben verschiedene Kontrollinstrumente“, erklärt Müssig, „wir haben den Blutmarker, wir fragen die Jungs subjektiv ab – wie fühlt ihr euch körperlich und mental?“
Sogar über die Schlafqualität sollen die Spieler Auskunft geben. „Und dann haben wir noch die GPS-Daten.“ Jeden Tag werden den Spielern Sender angelegt, bei jedem Training. Auch bei Testspielen wie am Donnerstag gegen Curslack-Neuengamme (6:0) sind die Kicker „online“. „So können wir von jedem einzelnen Laufdistanzen, Geschwindigkeiten, Sprints und Herzfrequenzbereiche sehen“, sagt Müssig. Praktisch „live“ während des Trainings kann man erkennen, „wie oft die Spieler in der maximalen Herzfrequenz sind“, sagt Welsch.
Belastungssteuerung – eine hochkomplexe Angelegenheit
Mit sieben Parametern haben Welsch und Müssig ein Bewertungssystem ausgetüftelt, mit dem sie herausfinden können, wie jeder belastet ist. Das bedeutet, dass Trainer Markus Gisdol klar erkennen kann, welcher Spieler im Training immer Vollgas gibt oder sich „hängen“ lässt. Das kann mitentscheidend für eine Kadernominierung sein.
Zu all den Daten kommt noch die Expertise von den Physiotherapeuten, die sie täglich in der Hand haben, und von den Ärzten. „Diese Parameter bringen wir täglich zusammen und legen danach individuell fest, wer was wie viel trainiert.“ So wird auch entschieden, welcher Spieler möglicherweise mal kürzertreten muss. „Belastungssteuerung“ eben.
Eine hochkomplexe Angelegenheit. Ist ein Spieler öfter in einer anderen Geschwindigkeitszone als für ihn normal, und gibt er an, dass er sich nicht so toll fühle, dann gehen schon die Alarmglocken an. „Das ist es, was die Trainingssteuerung ausmacht", so Müssig, „dann müssen wir ihn vielleicht auch mal aus dem Mannschaftstraining rausnehmen.“ Das geht natürlich nur in Abstimmung mit dem Cheftrainer. Vertrauen ist da ein entscheidender Faktor.
„Manche Trainer wollen Spieler so schnell wie möglich nach einer Verletzung wieder reinwerfen, das ist gefährlich und erhöht die Gefahr einer baldigen erneuten Verletzung“, sagt Welsch. Beim HSV ist das nicht so, die Kommunikation zwischen Markus Gisdol, den Physios, dem Arzt, dem Athletik- und dem Rehatrainer läuft gut. Aus diesem Gesamtbild entsteht dann der Plan, was genau mit dem Spieler zu tun ist. „Ganz wichtig ist zu wissen, dass, wenn ein Spieler nicht trainiert, er trotzdem individuell belastet wird“, so Müssig. „Als ganz große Komponente kommen noch die ganzen Tests dazu, die wir am Anfang der Saison und in der Winterpause komplett machen“, sagt der Athletiktrainer. Zusätzlich wird jeder Spieler, der aus einer Verletzung kommt, ebenfalls noch einmal komplett auf seine Belastbarkeit getestet.
Straftraining hält der HSV-Arzt für Populismus
Vorverletzungen und chronische Beschwerden gehen auch noch mit in den persönlichen Status des Spielers ein. „Da muss man sich dann überlegen, ob es sinnvoll ist, einen Spieler fünf Tage komplett mit der Mannschaft trainieren zu lassen, oder ob es sinnvoll ist, ihn individuell zu trainieren“, sagt Müssig, „auch das gehört dann zur Belastungssteuerung. Die arbeiten dann schon an ihren Defiziten.“ Es gibt im Club auch Spieler, die ein paar chronische Probleme haben, sei es im Knie, im Rücken oder wo auch immer. Auch die arbeiten dann regelmäßig mit einem eigenem Programm.
Darüber hinaus müssen die Spieler diverse Stabilitätsübungen für alle Körperbereiche durchziehen. Sie machen klassisches Krafttraining für Oberschenkel, Rumpf und Rücken, arbeiten auf Fahrrad oder Crosstrainer an ihrem Ausdauerbereich. Und das alles eben auf die Bedürfnisse des Einzelnen abgestimmt. „Mit einem Tatsuya Ito muss man natürlich anders arbeiten als mit einem Sven Schipplock“ sagt Welsch, „die Körper sind ganz unterschiedlich und die Belastungsgeschichte dieser Körper auch.“
Ganz entscheidend ist es bei dieser komplexen Datensammlung und Überwachung, den optimalen Grad der Belastung für jeden Profi zu finden. Denn eine andauernde Überbelastung führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen. Das früher so beliebte Straftraining („Lass die faulen Millionäre mal laufen“) hält Welsch für populistischen Quatsch. „Es ist ganz wichtig, dass wir präventiv arbeiten.“