Hamburg. Serie “Schluss mit dem Abstiegskampf“: Von ständigen Personalwechseln, Machtkämpfen in der Ära Jarchow und der ersten Relegation.

Carl Jarchow sitzt an jenem 18. Mai 2014 auf der Haupttribüne in der Fürther Trolli-Arena und dreht sich um. Um den HSV-Vorsitzenden herum sind alle geflüchtet, weil sie die Anspannung nicht aushalten können. Nur Bürgermeister Olaf Scholz hält noch die Stellung. „Aber der sieht auch schon ganz fahl aus“, registriert Jarchow. Die 91. Minute des Relegationsrückspiels zwischen Greuther Fürth und den Hamburgern läuft, als Heiko Westermann über den Ball tritt. „Jetzt sind wir in der Zweiten Liga“ , schießt es Jarchow durch den Kopf. Doch es bleibt beim 1:1, was dank der Auswärtstorregel (Hinspiel 0:0) zum Klassenerhalt reicht. Auf dem Rückflug schnappt sich Torwart-Retter Jaroslav Drobny das Bordmikrofon und schmettert mit dem ganzen Flieger: „Niemals, Zweite Liga ...“

„Ich weiß heute noch mehr als damals, wie viel Glück wir hatten, so viele Kerzen kannst du gar nicht in der Kirche anzünden“, sagt Jarchow drei Jahre später. Er sitzt im „Parlament“, eine Stunde später muss er für die FDP in die Bürgerschaft. Die Erinnerungen kommen im Stakkato. Trotz fünf Niederlagen in den letzten fünf Spieltagen der Saison kann sich der HSV damals mit nur 27 Punkten auf Platz 16 retten. „Wäre der HSV während meiner Amtszeit abgestiegen, hätte mich das persönlich sehr gegrämt. Speziell die letzten fünf Monate der Saison 2013/14 waren für mich die Hölle.“

Posse um Sammer unvergessen

Dabei sollte mit dem Nachfolger von Bernd Hoffmann vom 16. März 2011 an doch alles in ruhigeren Bahnen verlaufen. Andere Kandidaten wie Wirtschaftsmanager und Ex-Profi Björn Gulden und der ebenfalls kontaktierte Heribert Bruchhagen (bei Eintracht Frankfurt unter Vertrag) haben sich zerschlagen. So kommt der als besonnen geltende Ex-HSV-Aufsichtsrat Jarchow ins Spiel, zunächst kommissarisch.

Sylvie und Rafael van der Vaart mit Klaus-Michael Kühne
Sylvie und Rafael van der Vaart mit Klaus-Michael Kühne © Bertold Fabricius

Eine Abkühlungsphase nach der ganzen Aufregung wäre auch angebracht. Nach dem 0:6 bei den Bayern beurlaubt Hoffmann noch Trainer Armin Veh, drei Tage später muss der damalige HSV-Chef (und mit ihm Vorstandsfrau Katja Kraus) selbst gehen. Die Tage von Sportchef Bastian Reinhardt sind auch gezählt, der Neue (Frank Arnesen) wird aber erst in einigen Wochen seinen Job antreten können. Immerhin hat es der HSV endlich geschafft, jemanden zu finden, könnte man spöttisch hinzufügen. Die Posse um Matthias Sammer, der Anfang des Jahres einen unterschriftsreifen Vertrag vorliegen hatte (Verdienst rund drei Millionen Euro), dann doch kurzfristig absagte und dem Aufsichtsrat unprofessionelles Verhalten vorwarf, ist unvergessen. Auch in dem Gremium hat es einen Wechsel an der Spitze gegeben, Otto Rieckhoff ersetzt Horst Becker.

Dem HSV droht im Herbst 2011 die Insolvenz

Wie angespannt die wirtschaftliche Lage des Vereins 2011 nach dem Verpassen der angestrebten Champions-League-Qualifikation ist, erkennt Jarchow schnell: „Wenn wir uns nicht von Spielern getrennt hätten, wären wir im Herbst insolvent gewesen.“ Jarchow fliegt nach London zu Arnesen, der von Hoffmann das Signal bekommen hatte, 20 Millionen Euro in neue Spieler investieren zu können. „Frank, ich muss das ein bisschen relativieren“, erläutert Jarchow dem Dänen, der noch beim FC Chelsea unter Vertrag steht, die unangenehmen Neuigkeiten. „ Wir müssen eher zehn Millionen einsparen.“ Arnesen schluckt, nimmt es aber sportlich.

Kein Wunder, könnte man einwenden. Schließlich hat der HSV Arnesen mit einem Dreijahresvertrag für insgesamt 5,1 Millionen Euro Gehalt gelockt. Für seinen Assistenten Lee Congerton, der als Technischer Direktor wirken soll, macht der Club noch 600.000 Euro per anno locker, über 100.000 Euro mehr als für den Vorstandsvorsitzenden.

Pierre-Michel Lasogga feierte in Fürth mit den Fans den Klassenerhalt
Pierre-Michel Lasogga feierte in Fürth mit den Fans den Klassenerhalt © dpa

18 Spieler verlassen den HSV im Sommer 2011, darunter Topverdiener wie Ruud van Nistelrooy, Zé Roberto, Joris Mathijsen, Frank Rost, Piotr Trochowski und Guy Demel, während Arnesen sich – der Not gehorchend – großzügig aus der Chelsea-Jugendabteilung (Bruma, Töre, Sala, Mancienne) bedient. Doch der Start unter Trainer Michael Oenning misslingt – nach nur einem Punkt aus sechs Spielen müssen Jarchow und Arnesen handeln.

Die Idee, Thorsten Fink vom FC Basel für knapp eine Million Euro Ablöse als neuen Trainer zu verpflichten, entpuppt sich als (für HSV-Verhältnisse) Langzeitlösung. In seiner ersten Saison führt Fink, der den Club nach neun Spieltagen auf Platz 18 übernimmt, noch auf Rang 15. In der folgenden Saison 2012/13 verpasst der HSV mit Platz sieben nur knapp die Qualifikation für die Europa League. Endlich alles ruhig also? Von wegen. Hinter den Kulissen geht es weiter hoch her.

Der Mannschaft fehle ein Anführer

Anfang 2012 sorgen Untersuchungen des Aufsichtsrats von einzelnen Verträgen aus der Ära Hoffmann für Schlagzeilen. „Das Verhalten der ehemaligen Vorstände Kraus und Hoffmann erscheint nicht in allen Aspekten angemessen und dem Vereinsinteresse zuträglich“, erklärt Aufsichtsratschef Rieckhoff. Auf Schadensersatzansprüche verzichtet der Rat aber.

Im Vorstand, bestehend aus Jarchow, Arnesen, Marketing-Mann Joachim Hilke und Oliver Scheel (Mitgliederbelange) besteht im Sommer 2012 wiederum Einigkeit darüber, dass der Mannschaft ein Anführer fehlt. Auf einer von Arnesen erstellten Liste stehen unter anderem der brasilianische offensive Mittelfeldspieler Oscar – und Rafael van der Vaart. Da man für den Bau des Campus eine Anleihe in Höhe von 17,5 Millionen Euro platzieren will, käme der sportliche Aufschwung gerade recht.

Und hier kommt Klaus-Michael Kühne ins Spiel. Der HSV-Investor hatte im Juli während einer Telefonkonferenz mit Hamburger Medien offensiv für eine Rückkehr des Niederländers geworben: „Ohne einen erstklassigen Mittelfeldregisseur wird es dem HSV nicht gelingen, in die Spitzengruppe der Bundesliga aufzusteigen und sich dort zu behaupten. Mit van der Vaart hätte der HSV nach einigen bitteren Jahren endlich die Per­spektive, zu einem Spitzenclub heranzureifen und an den Wettbewerben im europäischen Fußball teilzunehmen.“

Kühne bestimmt mit

Jetzt, als Kühne die Liste mit den Namen sieht, macht er klar: „Ich bin bereit zu investieren, aber nur, wenn ihr van der Vaart holt.“ Es ist das erste Mal, dass Kühne die Geschicke des Clubs mitbestimmt. Dabei hat der Vorstand Vorbehalte, besonders Arnesen moniert: „Van der Vaart wird nicht schneller, er kann uns auf Dauer nicht helfen.“

Doch die Clubführung stimmt schließlich zu, obwohl die Transfersumme in die Höhe schnellt: Statt der avisierten acht, neun Millionen Euro zahlt der HSV am Ende 13 Millionen an Tottenham. Längst weiß deren Chef Daniel Levy, dass ein Milliardär am anderen Ende des Verhandlungstisches sitzt. Sieben Millionen Euro des Transfers übernimmt Kühne, der auch auf seinen Anteil am Verkauf von Paolo Guerrero verzichtet hat, als Darlehen (das er später in Anteile umwandelt). Und Oscar, der auch auf der Liste gestanden hatte? Wird 2017 für 71 Millionen Euro nach Shanghai wechseln. Doch der Van-der-Vaart-Deal ist nicht der einzige Transfer, der den HSV in dieser Zeit beschäftigt. Im September 2012 gerät Arnesen in die Schusslinie, weil bei der Verpflichtung von Milan Badelj von Dinamo Zagreb für 3,5 Millionen Euro eine Zahlung an einen zweiten Spielerberater auftaucht.

Jarchow dachte ans Aufhören

Der Aufsichtsrat lässt die Verträge vom Hamburger Anwalt Andreas Walle prüfen und bittet den Vorstand zum Rapport. Doch die Spekulationen, Arnesen habe in die eigene Tasche gewirtschaftet, lassen sich nicht beweisen. Jarchow ist ob des rüden Auftretens des Aufsichtsrats gegenüber dem Vorstand schockiert: „Das war das einzige Mal, dass ich ans Aufhören gedacht habe.“

Dass Arnesen im Sommer 2013 doch seine Sachen packen muss, liegt an mehreren Faktoren. Wie wenig ihn nachhaltige Konzepte, beispielsweise für den Nachwuchs, interessieren, macht er gegenüber Aufsichtsrat Manfred Ertel deutlich, der sich in seinem Buch „Hört die Kurve“ an eine Aussage des Dänen erinnert: „Ich bin nicht hier, um dicke Bücher zu schreiben.“ Ertel der Nach-Nachfolger von Rieckhoff, der nach gut einem Jahr im Mai 2012 entnervt seinen Rücktritt als Aufsichtsratsvorsitzender erklärt hat, weil seine Forderung nach einer Verkleinerung des Aufsichtsrats bei den Mitgliedern keine Mehrheit findet. Ihn beerbt bis Januar 2013 Unternehmer Alexander Otto, dann übernimmt der Journalist Ertel.

Indiskretionen sind zu jener Zeit an der Tagesordnung, und so bricht im Juli der Streit zwischen dem Vorstand, der Oliver Kreuzer als Nachfolger für Arnesen verpflichtet hat, und dem Aufsichtsrat offen aus. In einem Brief, der der „Sport Bild“ zugespielt wird, wirft der Vorstand den Räten ruf- und geschäftsschädigendes Verhalten vor. Zuvor sind Details einer Sitzung des Aufsichtsrats zur finanziellen Situation an die Öffentlichkeit gekommen. Umgekehrt gilt vor allem das Vertrauen einiger Räte zu Hilke als massiv gestört. Jenem Hilke, der im Januar 2014 eine flammende Rede für die Ausgliederung halten wird – ohne vorheriger Abstimmung mit Jarchow.

Kühne? Alt und peinlich

In einem Abendblatt-Interview fordert Kühne („Der Club ist amateurhaft aufgestellt“) im August 2013 in einem Rundumschlag einen neuen Vorstand, einen neuen Aufsichtsrat, einen neuen Trainer – und Felix Magath als Präsidenten. Kreuzer kontert kurz darauf, der Milliardär sei „alt und peinlich“.

Auch sportlich wird es unruhig. Lebemann van der Vaart – inzwischen schlagzeilenträchtig von Ehefrau Sylvie getrennt – kehrt mit fünf Kilo Übergewicht aus dem Urlaub zurück („Ich bin schnell von der Waage gesprungen“). Noch schlimmer: Trainer Fink verliert seine Linie, fängt an, taktisch zu experimentieren und stellt kurz vor den Spielen die Ernährung um.

Womöglich spielt auch seine familiäre Situation eine Rolle – seine Frau ist zurück ins Haus nach München gezogen. Er pendelt fortan ständig. Als Fink nach der 1:5-Pleite in Hoffenheim trainingsfrei gibt, nutzen Dennis Aogo und Tomas Rincon die Freizeit zu einem Trip nach Mallorca. Kreuzers Ahnung scheint sich zu bestätigen. Der Sportchef hat die Einstellung der Profis bereits in der Vorbereitung in einer legendären „Gucci hier, Gucci da“ -Brandrede moniert.

Nach einem 2:6 gegen Dortmund trennt sich der HSV von Fink. Jarchow und Kreuzer verpflichten Bert van Marwijk. „ Wenn du im September einen Trainer suchst, ist der Markt überschaubar“, erinnert sich Jarchow. „Die Truppe war so verunsichert, dass wir jemanden mit Erfahrung suchten, der für Stabilität und Ruhe sorgt.“ Auch mit Thomas Schaaf gibt es intensive Gespräche, aber der ehemalige Werder-Coach lehnt so kurz nach seinem Ausscheiden in Bremen ab, führt sein Sabbatical fort.

Jarchows Höllenritt beginnt

Also van Marwijk. Jarchow hat sich bei Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke informiert und den Rat erhalten: „Bert kann euch helfen. Aber achtet darauf, dass er nicht permanent auf der Autobahn ist.“ Ein zarter Hinweis, dass van Marwijk seine freie Zeit bevorzugt in der Heimat verbringt. Weil der Niederländer einen guten Eindruck machte, denkt sich Jarchow: Das bekommen wir in den Griff. Eine Fehleinschätzung. Am 25. September verpflichtet, ist für ihn am 15. Februar 2014 nach der 2:4-Niederlage bei Aufsteiger (und späterem Absteiger) Braunschweig, der fünften Pleite in Folge, schon wieder Schluss – und der HSV um 2,7 Millionen Euro ärmer.

Kurios: Ein Teil der Beratergebühr (350.000 Euro) geht an Ex-Boss Hoffmann, der mit van Marwijks Berater Michael Meier, dem ehemaligen Dortmunder Geschäftsführer, bei der Verpflichtung geholfen hat. Jarchows „Höllenritt“ beginnt. Mit Nachfolger Mirko Slomka soll die sportliche Talfahrt gestoppt werden, zugleich gestaltet sich die Lizenzerteilung bei der Deutschen Fußball Liga schwierig angesichts 100 Millionen Euro Verbindlichkeiten (inklusive der Anleihe für den HSV-Campus, die in die Liquidität geflossen ist).

Fünf Aufsichtsräte treten zurück

Und außerdem muss Jarchow die im Januar von den Mitgliedern beauftragte Ausgliederung vorbereiten – gegen eine Mehrheit im Aufsichtsrat. Ein ständiger Kampf auf allen Fronten. Und wieder kommt Felix Magath ins Spiel. Im Februar 2014 planen einige Kontrolleure um Christian Strauß den Sturz des Vorstands (Jarchow: „Sie wollten mich weghaben“) und verhandeln mit Magath. Mit dem Europacuphelden von 1983 an der Spitze soll auch die Ausgliederung verhindert werden. Doch als sich abzeichnet, dass im Gremium keine Mehrheit zustande kommen würde, sagt Magath (im Gespräch ist eine Million Euro Nichtabstiegsprämie) am 13. Fe­bruar ab: „Zu viele auf ihren Positionen sind nicht an einem ehrlichen Neuanfang interessiert.“

Im Februar 2014 treten fünf Aufsichtsräte entnervt zurück Das Führungschaos perfekt machen wenige Tage später die Rücktritte der Aufsichtsräte Marek Erhardt, Hans-Ulrich Klüver, Ali Eghbal, Björn Floberg und Ratschef Manfred Ertel, der seinem Frust freien Lauf lässt: „Ich bin nicht länger bereit, für wirre Alleingänge oder eitle Karriereplanungen Einzelner in Haftung genommen zu werden. Und ich bin nicht bereit, mich dem Hass und den persönlichen Angriffen, die zuletzt in gewalttätigen Bedrohungen und Lynchaufrufen gipfelten, auszusetzen.“

Der Machtkampf um die Zukunft des Clubs hat seine nächste Stufe erreicht. Würden nun auch Jens Meier und Katrin Sattelmair zurücktreten, wäre der Aufsichtsrat nicht mehr handlungsfähig und eine Mitgliederversammlung nötig. „Die Ausgliederung hing am seidenen Faden“, sagt Jarchow rückblickend. Dabei nutzen die ständigen Streitigkeiten, Skandale und Skandälchen der HSVPlus-Bewegung.

Keine Kontinuität in drei Jahren

Immer mehr Mitglieder müssen zu dem Schluss kommen, dass die alte Struktur nicht mehr funktioniert. Meier übernimmt den Vorsitz im Rat, und nach der Ausgliederung im Mai folgt als Aufsichtsvorsitzender der AG Karl Gernandt, während Jarchow noch bis Januar 2015 als Präsident des e. V. fungiert, bis Mai als Vorstand der AG mitwirkt und so auch noch den nächsten Sportchef (Peter Knäbel) „live“ erlebt. „Ich habe während meiner HSV-Zeit vier Sportchefs, fünf Aufsichtsratsvorsitzende und sechs Trainer (nach Slomka folgten noch Joe Zinnbauer und Bruno Labbadia) beim HSV gesehen“, weist Jarchow selbst auf das größte Manko seiner Ära hin.

In den knapp drei Jahren schafft es der HSV nie, für Kontinuität zu sorgen und Ruhe einkehren zu lassen. Jarchow weiß das, aber er ist mit sich im Reinen: „Rückblickend ist es leicht, Dinge neu zu bewerten. Ich bin immer meiner Linie treu geblieben und habe mich den Herausforderungen gestellt.“

Von Ruhe ist der Club auch nach Jarchow weit entfernt. Im Gegenteil. Jetzt geht es erst richtig los. Der nächste Serienteil am Dienstag: Die vergebene Chance