Hamburg. Angstgegner Hertha BSC demonstriert seit zwei Jahren, wie man mit wenig Mitteln viel erreichen kann. Lernt der HSV aus seinen Fehlern?
Für Markus Gisdol beginnt am Sonntag die Rückrunde. Seine ganz persönliche Rückrunde. 155 Tage nach seinem ersten Spiel als HSV-Trainer steht er am Sonntag wieder gegen die Mannschaft an der Seitenlinie, gegen die seine Zeit in Hamburg Anfang Oktober begann: Hertha BSC kommt am Sonntag (17.30 Uhr/Sky und Abendblatt-Liveticker) in den Volkspark. Viel verändert hat sich seit dem 1. Oktober nicht. Wie schon vor dem Hinspiel steht der HSV auf Rang 16, zwei Punkte hinter Werder Bremen. Entwicklung oder Stillstand? „Wir haben in unserem Spielstil etwas entwickelt, müssen aber stabiler werden“, sagte Gisdol am Freitag im Zuge einer gedanklichen Zeitreise durch die vergangenen fünf Monate.
Jene Stabilität, die der HSV-Coach in seinem Team vermisst, zeichnet den Gegner aus Berlin aus. Während es Gisdol in 17 Spielen mit dem HSV auf 19 Punkte brachte, holte Hertha im selben Zeitraum 27 Zähler. „Berlin ist eine disziplinierte, unangenehm zu bespielende Mannschaft, die sehr gut verteidigt“, sagt Gisdol. „Sie hält das Spiel extrem einfach, gibt dir wenig Möglichkeiten und wenig Räume. Sie hat sich Stück für Stück unter den ersten sechs Mannschaften der Liga etabliert.“
Für Hertha geht es wieder um den Einzug in den Europapokal
Während der HSV zum wiederholten Male nur gegen den Abstieg spielt, geht es für Hertha zum zweiten Mal in Folge um den Einzug in den Europapokal. Aktuell ist der Hauptstadtclub mit 37 Punkten Fünfter. Dabei ist es noch nicht einmal zwei Jahre her, da lagen die beiden Clubs am Ende der Saison auf Augenhöhe. Im Mai 2015 retteten sich die Berliner (35 Punkte) nur dank des besseren Torverhältnisses vor der Relegation, die der HSV in Karlsruhe überlebte. Seitdem kann die Arbeit des HSV und die der Hertha im Vergleich kurz und knapp bewertet werden. Berlin: gut, Hamburg: gar nicht gut.
Etwas konkreter analysiert lassen sich die Fehler des HSV und der Fortschritt der Hertha am Beispiel von Niklas Stark erzählen. Der U-21-Nationalspieler wechselte im Sommer 2015 vom Zweitligisten Nürnberg nach Berlin – für drei Millionen Euro. Hertha-Sportchef Michael Preetz holte sich bereits im Herbst 2014 die Zusage des begehrten Defensivtalents, als Absteiger Nürnberg einen Fehlstart in die Zweitligasaison erwischte und der Club gezwungen war, die finanzielle Zukunft zu sichern.
HSV wollte eigentlich einen Berliner Spieler verpflichten
Nur weil Hertha so früh dran war, konnte man letztlich die ebenfalls interessierten Vereine aus Schalke und Leverkusen ausstechen. Und der HSV? Der wurde erst im vergangenen Sommer auf Stark aufmerksam. Wie das Abendblatt erfuhr, wollte Dietmar Beiersdorfer den 21-Jährigen im August unbedingt verpflichten, als der HSV einen zentralen Abwehrspieler suchte. Am Ende der Transferperiode soll Beiersdorfer den Berlinern ein konkretes Angebot über acht Millionen Euro vorgelegt haben – doch Hertha lehnte ab. Vor zwei Wochen hat der Umworbene seinen Vertrag bis 2022 verlängert. Stark ist ein Versprechen für die Zukunft. „Wenn er sich weiter so entwickelt, kann er eine Macht werden – auch bei ganz großen Clubs“, sagt Herthas Trainer Pal Dardai.
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Stark ist nur ein Beispiel der erfolgreichen Berliner Transferpolitik der vergangenen drei Jahre. Auch Spielmacher Vladimir Darida (SC Freiburg) oder Linksverteidiger Marvin Plattenhardt (1. FC Nürnberg) holte Hertha aus der Zweiten Liga. Plattenhardt kostete sogar nur 500.000 Euro. Seine bisherige Bilanz in dieser Saison: zwei Tore, drei Vorlagen. Zum Vergleich die Ausbeute von HSV-Linksverteidiger Douglas Santos, der 7,5 Millionen Euro Ablöse kostete: null Tore, null Vorlagen.
Hertha spielt mit deutlich günstigerer Mannschaft
Noch deutlicher liest sich das Gesamtgefüge: Für die voraussichtliche Startelf, die am Sonntag in Hamburg spielt, gab Hertha mit zusammengerechnet 12,4 Millionen Euro weniger aus als der HSV allein für Filip Kostic (14 Millionen). Die voraussichtliche Hamburger Startelf kostete dagegen 52,3 Millionen Euro. „Der große Unterschied zum HSV ist, dass wir im Sommer nicht die wirtschaftlichen Möglichkeiten hatten“, sagte Hertha-Sportchef Michael Preetz dem Abendblatt.
Noch vor wenigen Jahren hatte Hertha BSC Verbindlichkeiten von 46 Millionen Euro. Den Einstieg des US-Investors Kohlberg Kravis Roberts & Co. (KKR) 2014 nutzte der Club zur Tilgung seiner Schulden. Für 61,2 Millionen Euro erwarb KKR 9,7 Prozent Anteile an der Hertha KGaA. Das Geld floss in die finanzielle Restrukturierung. „Unsere Mittel sind noch relativ schmal. Wir sind gezwungen, dreimal hinzuschauen bei einem Transfer“, sagt Preetz.
Nun will auch der HSV starke Leistung für weniger Geld
Es ist ein Weg, der für den neuen HSV-Chef Heribert Bruchhagen als Vorbild dient. Spätestens nach dieser Saison will Bruchhagen damit beginnen, den Lizenzspieleretat zu senken. „Wir müssen Spieler von unten holen, die nicht sofort oben liegen bei den Gehältern, aber gleiche Leistung bringen“, sagte Bruchhagen kürzlich der „Sport Bild“. Als Beispiel nennt er Bobby Wood (24), der für 3,5 Millionen Euro von Zweitligist Union Berlin kam. „In dem Bereich müssen wir mehr Spieler holen“, sagte Bruchhagen.
Vor einem Jahr hatte der HSV diesen Weg bereits eingeschlagen. Der damalige Sportchef Peter Knäbel tourte durch die Stadien der Zweiten Liga, um nach günstigen Spielern zu scouten. So standen auf seiner Liste drei Zweitligastürmer. Simon Terodde (Bochum), Guido Burgstaller (Nürnberg) und Wood. Knäbel entschied sich für Wood und landete damit den wohl besten HSV-Transfer der vergangenen Jahre.
Der HSV wiederum entschied sich für einen anderen Weg. Knäbel musste gehen, und Geldgeber Klaus-Michael Kühne investierte im großen Stil in die Mannschaft. Größer geworden sind seitdem aber nur die Verbindlichkeiten. Ob der Club diesmal aus seinen Fehlern lernt? Trainer Gisdol machte am Freitag einen Vorschlag. „Lasst uns doch einfach in Ruhe arbeiten.“ Am besten fängt der HSV am Sonntag damit an – wenn Gisdols persönliche Rückrunde beginnt.