Hamburg. Nach der heutigen Partie muss HSV-Chef Beiersdorfer gehen. Der Rausschmiss hat den einstigen Hoffnungsträger tief verletzt.

Der 19. Juli 2015 ist ein Sonntag. Im Volksparkstadion sind am Vormittag 220 Menschen zu einem Workshop zusammen gekommen. Fußballer, Mitarbeiter, frühere Präsidenten, Aufsichtsräte, Vereinsmitglieder – allesamt HSVer. World Café nennt man solche Treffen heute, in denen über Werte und Ziele eines Unternehmens debattiert wird.

Auf Papiertischdecken müssen die Teilnehmer wie der ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende Manfred Ertel oder Profi-Kicker Gideon Jung den aktuellen IST-Zustand ihres Clubs schreiben. Und daneben das SOLL. Wofür soll der HSV in Zukunft zu allererst stehen? Das Wort, das am Ende am häufigsten auf den Tischdecken steht, heißt: Verlässlichkeit!

Er kam als Hoffnungsträger, um den Club zu einen

Dietmar Beiersdorfer, ein Jahr zuvor als Hoffnungsträger in einen gespaltenen Verein und zu einem Um-ein-Haar-Absteiger zurückgekehrt, hatte diesen Leitbild-Prozess angestoßen. Der Vorstandsvorsitzende sollte die Ausgliederung der Profiabteilung in eine Aktiengesellschaft, die viele Frustrierte zurückgelassen hat, moderieren. Gräben zuschütten, auf Menschen zugehen, möglichst viele mitnehmen. Die Raute wieder einen.

Er sollte, wenn man so will, einen Milliardär wie Klaus-Michael Kühne und einen Ober-Fan wie Axel Forme­seyn zu Brüdern im Geiste machen.

Im Grunde eine Idealbesetzung: Es gibt den Didi der Fans in kurzen Hosen, Umjubelter Torschütze beim 3:1-Sieg im DFB-Pokal-Finale gegen die Stuttgarter Kickers 1987 – der letzte HSV-Titel. Und es gibt den Herrn Beiersdorfer im Anzug und mit Geldkoffer. Sportdirektor beim HSV und bei Red Bull Salzburg, Vorstandsvorsitzender bei RB Leipzig unter Milliardär Dietrich Mateschitz und anschließend zwei Jahre Sportdirektor bei Zenit Sankt Petersburg.

Leitbild: Der sportliche Erfolg steht beim HSV im Zentrum

Nun also die Rückkehr in den Volkspark – verbunden mit der großen Sehnsucht nach Verlässlichkeit. Nur 17 Monate später aber ist beim HSV wieder einmal nur auf eines Verlass: Derjenige, der eben noch die Probleme lösen sollte, wird selbst zum Problem erklärt. Dietmar Beiersdorfer soll gehen. Die Partie gegen Schalke heute Abend wird sein Abschiedsspiel sein. Denn, so würden es wohl seine Kritiker formulieren: Was nützen Leitbilder auf Papier, wenn sie nicht in Toren auf dem Rasen münden? Zumal der erste Satz des neuen HSV-Leitbildes lautet: „Der sportliche Erfolg steht beim HSV im Zentrum aller Handlungen.“

Natürlich fragt sich Beiersdorfer in diesen turbulenten Tagen manchmal auch, ob er überhaupt noch in diese verrückte Fußballwelt passt, die gerade wieder durch die Enthüllungen von football leaks als eine verabscheuungswürdige Ansammlung von unerträglichen Gierhälsen entlarvt worden ist. Eine gigantische Geldvernichtungsmaschine. Eine (Schein-)Welt auch, die sich dadurch am Leben hält, dass sie die Aufregung zum Selbstzweck erklärt. Ich bin aufgeregt, also bin ich.

Dietmar Beiersdorfer ist Aufregung ein Gräuel. Da wirkt der Analytiker, der für schnelle Bauch-Entscheidungen nicht zu haben ist, weil er sich nie mit 80 Prozent zufrieden gibt, manchmal wirklich wie aus der Zeit gefallen. Überlegt, wägt ab, hört zu. Nimmt Anteil. Hat keine Verwendung für Feindbilder. Ist ehrlich interessiert an seinem Gesprächspartner. „Vielleicht kann ich von meinem Gegenüber noch etwas lernen.“

Es ging ihm um Respekt und ein neues Miteinander

In der Branche gilt er manchen als zu ehrlich. Und zu weich. Ist er das? „Ich habe eigentlich keine Lust, mich gegen solche Beurteilung zu wehren“, sagt Beiersdorfer, der natürlich zu harten Personalentscheidungen wie den Entlassungen von Trainern (Slomka, Zinnbauer, Labbadia) und Managern (Kreuzer, Knäbel) fähig ist. Nur so viel: Es gebe nicht viele Bundesliga-Manager, die bereits international tätig waren.

Damit, dass er sich bei Entscheidungen manchmal ins Detail verrennt, treibt er viele zur Verzweiflung. Er ist stur. „Ja, das stimmt. Manche sagen, ich sei beratungsresistent. Aber ich kann doch nur Sachen machen, von denen ich total überzeugt bin.“ Gegenfrage: „Lohnt sich die ganze Analyse in einem Geschäft, das von so vielen Unwägbarkeiten beherrscht wird?“ Verletzungen, Pfostenschüsse, falsche Schiedsrichterentscheidungen, Rote Karten? „Es geht darum, mit der optimalsten Vorbereitung das Risiko zu minimieren“, sagt Beiersdorfer.

Und wenn er dann Kollegen sieht, die nicht so tief graben, nicht bis Mitternacht im Büro sitzen, nicht so viele Informationen einholen, nicht so akribisch vorgehen – und am Ende in der Tabelle vor dem HSV stehen? „Jeder hat seinen Arbeitsstil“, sagt Beiersdorfer.

Ein früherer HSV-Aufsichtsrat hat einmal gesagt: „Didi ist der einzige Mensch, der im Supermarkt verhungert, weil er sich nicht entscheiden kann, was er kaufen soll.“ Wenn so einer vor die Kamera tritt, wirkt er schnell wie ein Bedrängter. Zumal nach Niederlagen. Wenn er nach Worten fahndet, als wären vergiftete Pilze darunter, die man nicht in den Mund nehmen darf.

Er ist ein Mensch im Haifischbecken

Er weiß ja, dass man komplexe Zusammenhänge nicht in 1:30 Minuten erklären kann. Und keine Interna ausplaudert. Also könnte er jedes Interview wie einen Zweikampf angehen. Der eisenharte Verteidiger, der 174 Bundesligaspiele für den HSV bestritten hat und einmal in der Nationalmannschaft kickte, bevor er wegen einer Verletzung die EM-Teilnahme 1992 verpasste, könnte den Fragesteller brüskieren und einfach seine Sicht der Dinge darlegen. So machen es die meisten. Er nicht. Die Folge: eine zuletzt zunehmend verzweifelte Außendarstellung des HSV.

Wenn seine Mitarbeiter ihn frotzeln wollten, begrüßten sie ihn im Vorbeigehen: „Na wie geht’s, Herr Konzernchef?“ Weil er gerade das wohl nicht ist. Oder zumindest nicht dem Bild entspricht, das man sich von einem knallharten Chief Executive Officer (CEO) macht. Als zwei von sechs Aufsichtsräten Dietmar Beiersdorfer am 6. Dezember um acht Uhr morgens in ein Büro in der City baten, um ihm zu sagen, dass es vorbei ist, ging es in den nächsten 90 Minuten auch um seinen Führungsstil. Warum er nicht öfter mit der Faust auf den Tisch haue? Es gab sogar Aufsichtsräte, die ihm vorgeworfen haben, dass ihn eine sehr enge Mitarbeiterin auch mal „Didilein“ rufen würde.

Er sagt, er sei zwar innerlich auf das Aus eingestellt gewesen. Trotz des ersten Sieges drei Tage zuvor mit dem 2:0 in Darmstadt. Doch als er zwei Tage später die per Kurier zugestellte Freistellung zum 22. Dezember und die Vertragsauflösung zum 31. Dezember 2016 in den Händen hielt, hat ihn das heftig getroffen. Und tief verletzt.

Die Frage ist, ob einer wie er, der lieber im Stillen und nach innen wirkt und von sich selbst und seinen unbestreitbaren Leistungen kein Aufhebens macht, im lautstarken Chor der posaunenden Außendarsteller eine Überlebenschance hat? Oder anders: Mit welcher Berechtigung tummelt sich ein Mensch im Haifischbecken?

Nach Platz 16 folgte Platz 10 in seiner zweiten Saison

Er hat es schlicht nicht für nötig gehalten, vor jeder Kamera immer wieder darauf hinzuweisen, dass der HSV in der ersten Saison mit ihm als Vorstandsvorsitzenden 35 Punkte (Platz 16) und in der zweiten 41 Punkte (Platz 10) geholt hat. Dass er den Kader erheblich verjüngt, den HSV-Campus umgeplant, die Durchlässigkeit von der U19 zur U21 von null auf 72 Prozent gesteigert und den Nachwuchs-Scoutingbereich sowie den medizinischen Apparat komplett neu strukturiert hat.

Statt zu lancieren, dass er öffentlich von Menschen attackiert worden ist, die sich Wochen vorher noch bei ihm um einen Job beworben haben, hat er selbst Fehler eingestanden, was etwa die fehlenden Verpflichtungen eines neuen Sportdirektors oder ausreichender Defensivspieler für die löchrige HSV-Verteidigung angeht. Ist das naiv?

Als Beiersdorfer in den letzten Wochen spürte, dass es wirklich um seinen Job geht, weil die von ihm zusammengestellte Mannschaft nach zehn Spieltagen mit zwei Punkten nahezu hoffnungslos am Tabellenende dümpelte, fing er an zu kämpfen. „Endlich“, dachten viele Mitarbeiter und Fans.

Hatte er zuvor geräuschlos die Scherben seiner Vorgänger aufgesammelt, verlor er nun immerhin einen Satz vor laufender Kamera. „Wir waren doch zweimal fast zahlungsunfähig“, schnaubte er bei Sky. Auf Nachfrage verordnete er sich dann wieder einen Maulkorb. Es ging wohl einmal um eine Liquiditätslücke von 15 (!) Millionen Euro. Da fällt es dann eben schwer, ein 100-Millionen-Euro-Angebot auszuschlagen. Knapp 35 Millionen Euro pro Saison also gab es von Mäzen Klaus-Michael Kühne, um einkaufen zu gehen. „Das war überlebenswichtig.“

Wenn man dann gemeinsam mit dem Trainer auf Shoppingtour gehen darf, kann das richtig Spaß machen. Wenn der Trainer aber konträr andere Vorstellungen von den Neuerwerbungen hat, wird daraus, so Beiersdorfer, „die schwierigste Transferperiode, die ich bisher durchgezogen habe.“ Und lässt sich wieder nur zu einem Satz über sein angespanntes Verhältnis zu Bruno Labbadia im Sommer hinreißen: „Es gab viele Reibungen über die Ausrichtung.“

Richtig ist wohl, dass hinter den Kulissen ein ermüdender Kampf um die Zusammenstellung des Kaders tobte. Genauer gesagt, stand zwischen den Kampfgefährten von einst, die den glücklichen Klassenerhalt mit dem 2:1-Sieg in Karlsruhe am 1. Juni 2015 bis in den Morgen im Schanzenviertel gefeiert hatten, das neue HSV-Leitbild. Dort heißt es: „Für unsere Bundesligamannschaft fokussieren wir uns auf Spieler zwischen 18 und 23 Jahren, die ihren Leistungshöhepunkt noch vor sich haben und deren Wert während der Vertragslaufzeit zunimmt.“ Da passen Akteure wie Dennis Aogo (29) oder Martin Harnik (29) eben nicht mehr rein.

Kühne und Formeseyn drängten ihn zu bleiben

Am Ende haben ihn viele bedrängt, er solle doch als Sportchef dem HSV treu bleiben. „Da bist du eh am wichtigsten.“ Man sah ihm an, wie zerrissen er innerlich war. Und wie viel Kraft die letzten 30 Monate gekostet haben. „Für meine Frau und meine kleine Tochter war ich ein Alien, der ab und zu mal vorbeigeschaut hat.“ Aber irgendwie hat er gespürt, dass es vorbei ist. Dass es reicht. Dass Schalke sein Abschiedsspiel und er nicht Sportdirektor werden wird. Wie soll das auch gehen: Erst der Rausschmiss wegen des Vorwurfs mangelnder sportlicher Entwicklung – und zwei Wochen später die Wiedereinstellung als Sportdirektor?

Unter den vielen, die ihn gebeten haben zu bleiben, war das Ehepaar Kühne. „Herr Beiersdorfer, machen Sie bitte weiter“, haben sie ihn bedrängt. Und Axel Formeseyn, auch mal für vier Jahre sozusagen als Anwalt der Fans im HSV-Aufsichtsrat, schrieb: „Wer immer noch nicht verstanden hat, dass Didi für die HSV-Seele in einer Riege mit den Seelers, den Dörfels, Hermann Rieger oder Dr. Peter Krohn steht, der hat diesen Club nicht verstanden. Einen Didi Beiersdorfer darf man nicht wegjagen. Niemals. Den muss man hüten wie einen Schatz. So viele Schätze haben wir HSVer nämlich nicht (mehr).“

Wenn Kühne, der milliardenschwere Mäzen, und Formeseyn, der romantische Kommerzbekämpfer, einen partout nicht gehen lassen wollen, muss man in seiner Amtszeit einiges richtig gemacht haben.