Hamburg. „Sportschau“-Experte Alexander Bommes und die Medizinerin und Unternehmensberaterin Mirriam Prieß über die Dauerkrise des Clubs.

Die Krise des HSV ist in der Stadt allgegenwärtig. In einem Gespräch mit dem Moderator Alexander Bommes (40), früher selbst Profihandballer, und der Unternehmensberaterin, Autorin und Medizinerin Dr. Mirriam Prieß (43) geht es um eine Annäherung an die tieferen Ursachen des Absturzes.

Herr Bommes, Sie leben in Hamburg, sind Sportschau-Moderator und verfolgen den HSV allein berufsbedingt schon seit langem. Warum steckt der Verein seit Jahren in einer Krise?

Bommes: Die Antwort darauf hat ja nachweislich keiner. Und ich habe deshalb vor einer Weile begonnen, die Fragen aufzuteilen. Die erste lautet: Was genau ist eigentlich dieses Strukturproblem, über das jeder spricht? Viele sagen reflexartig, es sei der Investor, der reinredet. Aber wenn man nachfragt, was genau denn daran problematisch ist, herrscht Stille. Das ungute Gefühl im Bauch bleibt aber. Zweite Frage: Warum verliert der HSV seit Jahren Woche für Woche ? Da war ich als ehemaliger Profisportler eigentlich auch immer der Meinung, dass Strukturfragen im Verein doch nicht mit der Leistung der Mannschaft zusammenhängen dürfen. Nach dem Motto: Die sollen einfach nur Fußball spielen. Je tiefer ich aber eingetaucht bin, desto sicherer bin ich geworden, dass die Antworten außerhalb des sportlichen Bereichs liegen. Und da kommen wir zu psychologischen Prozessen, die in vielen Unternehmen stattfinden.

Frau Dr. Prieß, Sie sind Unternehmensberaterin und Medizinerin, zwei Qualifikationen, die vielleicht helfen können, die Probleme des HSV zu erklären. Wo sehen Sie das Hauptproblem?

Prieß: Normalerweise müsste ich mich mit allen Beteiligten an einen Tisch setzen und jeden Betroffenen selbst hören. Ich kann jetzt nur von draußen draufschauen. Mir fällt auf, dass immer wieder nach dem Erlöser gesucht wird und gleichzeitig immer wieder Schuldige gefunden werden. Ich bezweifele, dass das so zielführend ist.

Meinen Sie mit Erlöser jemanden, der das ganze Geld gibt oder einen strahlenden Vereinsvorstand oder einen Topstar, der alle Spiele gewinnt?

Prieß: Es geht nicht um einzelne Positionen sondern um das Grundprinzip. Es ist nicht zielführend, wenn darauf gewartet wird, dass jemand von außen kommt und das Heil bringt.

Ist diese Heilserwartung eventuell eine Projektion in die Vergangenheit? Sehen wir nicht immer noch Felix Magath den Europapokal hochhalten und denken, dass ist die Ebene auf der der HSV spielen muss? Und wenn es schlechter läuft, ist gleich das ganz große Krisengefühl da?

Bommes: Das spielt möglicherweise eine Rolle. Aber ich finde viel faszinierender, sich damit zu beschäftigen, wie in Unternehmen - oder auch einem Fußballverein – das Verhalten auf allen Ebenen durchschlägt. Deswegen noch einmal: die Frage, die alle umtreibt ist doch: was haben etwaige Führungsprobleme oder die Abhängigkeit von einem Investor damit zu tun, wie Mannschaft samstags auf dem Platz spielt ?

Prieß: Sie sehen als Führungsproblem die Abhängigkeit vom Investor?

Bommes: Es gibt ja in Klaus-Michael Kühne nachweislich einen Geldgeber, der gleichzeitig auch Entscheidungen mittrifft – da sind wir ja auch nicht mehr im spekulativen Bereich. Es ist ein Fakt, dass die Führung des HSV sich in einer wie auch immer gearteten Abhängigkeit von diesem Investor bewegt. Muss ja auch nicht schlimm sein – im Gegenteil. Ich frage mich nur: gibt es Prozesse, dass das Verhalten einer Führung komplett auf die untere Ebene durchschlägt?

Prieß: Absolut. Aber es ist ja nichts Ungewöhnliches, dass eine Abhängigkeit zu einem Investor besteht und dass ein Investor mitsprechen will. Nur Warum geht es hier schief?

Die Probleme begannen doch viel früher, als der Investor noch gar nicht da war. Außerdem ist das doch kein kühl kalkulierender Geschäftsmann sondern in erster Linie ein sehr wohlhabender HSV-Fan.

Prieß: Lassen Sie mich noch einmal den Punkt des Erlösers aufgreifen. Wenn erwartet wird, die Erlösung kommt allein von außen, endet das immer in der Passivität. Das Warten auf den Erlöser birgt die Gefahr, sich immer weiter in die Ohnmacht zu bugsieren, in eine absolute Lähmung. Letztlich ist die Suche nach dem Erlöser nur ein Symptom, aber es ist nicht Ursache.

Sie sagten, es lähmt. Ist das eine Entschuldigung für die Spieler, dass nicht sie die Leistung bringen müssen, sondern dass die von jemand anderem kommen muss?

Prieß: Wir werden keine Lösung finden, wenn wir nach Schuld fragen, sondern nur wenn wir die Frage nach Verantwortlichkeit stellen: Wer übernimmt Verantwortung und wer übernimmt keine Verantwortung? Analysen dienen nicht dazu, dass Leute sich verstecken oder sich angegriffen fühlen müssen, sondern sind einfach ein Impuls zur Lösungsfindung.

Bommes: Ich glaube eben auch nicht mehr, dass wir beim HSV die Lösung darin finden, dass der Kader falsch zusammengestellt ist oder ein Sportchef fehlt. Warum sagen denn viele, dass hier jeder Spieler schlechter wird. Da muss doch irgendwas sein. Da muss doch unterbewusst was ablaufen. Das sind doch alles klasse Fußballer, sonst wären sie nicht verpflichtet worden.

Kann dieses andauernde Klima der Erfolgslosigkeit auch bei neuen Spielern in Form einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu schwachen Leistungen führen?

Prieß: Mit Sicherheit.

Die Krise gebiert die Krise.

Prieß: Natürlich. Ich frage mich, wie ist eigentlich die Kultur im Verein. Was für ein Umgang im Miteinanderherrscht dort? Und zwar auf jeder Ebene zu jeder Ebene.

Bommes: Wenn ein Investor, der es doch gut meint und ein Fan ist, eigene sportliche Berater zur Seite zieht und der Vorstand bei diesem Thema seit Jahren in einer defensiven Verteidigungsposition sagt, nein wir sind nicht abhängig, dann klingt das für mich nach einer Zwangslage. Wenn ich das Einmischen beende, was ich doch so gern möchte – dann kriege ich vielleicht kein Geld mehr. Wie kann man da Unabhängigkeit vorleben?

Prieß: In dem Moment, wo Sie Führungskraft sind, müssen Sie mit Konflikten umgehen. Führungsstärke heißt Konfliktfähigkeit, Grenzen ziehen und sich durchsetzen.

Bommes: Aber da kommen wir doch zu dem Ansatz, was das für ein Zeichen in die unteren Ebenen, wenn die Führung sagt, ich führe meinen Verein wie ich es will, notfalls bin ich auch bereit, das Geld nicht zu nehmen. Sähen wir dann vielleicht auch eine starke, mündige Mannschaft?

Wir haben das Gefühl, dass jeder HSV-Spieler mit einem Rucksack vollgepackt mit Erwartungen und Ängsten aufläuft. Und dann sieht man, wie diese Talente verkümmern.

Prieß: Denkt man denn noch, der HSV sei ein großer Verein?

Bommes: Nachweislich spricht jeder neue Trainer vom großen Verein, der großen Ehre und den großen Möglichkeiten.

Mit Witzen über den HSV könnte man inzwischen Bücher füllen, andererseits hat jeder die großen Bilder von einst vor Augen.

Bommes: Was ja gerade die große Fallhöhe ausmacht. Deswegen die Häme. Das kann ja ganz bitter werden, wenn sich der HSV sich jede zweite Woche auswärts "Euch sehen wir nie wieder"-Gesänge anhören muss. Das ist dann kein Tod, das ist ein Dahinsiechen.

Frau Dr. Prieß, wie würden Sie eine Beratung angehen?

Prieß: Es ist immer notwendig, auf jeder Ebene zu beraten. Hinter dem Ausdruck, „der Fisch stinkt vom Kopf´ steckt, dass die Symptome auf der Führungsebene sich bis ganz nach unten runterbrechen. Das was oben stattfindet, findet auch unten statt. Es wäre zu analysieren: Wie ist das Miteinander oben und wie spielt die Mannschaft unten? Welche (Un)Kultur herrscht oben und was für eine (Un)Kultur ganz unten?

Gelten diese Beobachtungen für jede Art von Unternehmen?

Prieß: Sie können nie pauschal Aussagen treffen. Spannend wäre, das Spiel zu analysieren, zu gucken, wie sind die Spieler auf dem Feld. Ist es ein Wir? Fallen die auseinander? Ist es eine Vereinzelung? Was für Symptome sind unten und wie wird auf der obersten Ebene „gespielt“? Ich weiß nicht, was für Symptome unten sind. Sagen Sie es mir.

Bommes: Der HSV verteidigt sich auf dem Platz mit allen Mitteln, hat aber kaum Möglichkeiten zur freien Gestaltung. Das würde in die Theorie "wie oben- so unten" passen.

Es passt auch bei den Roten Karten. Man ist bemüht, aber wenn es nicht so läuft, brennen schnell die Sicherungen durch.

Prieß: Wie viel Foul findet eigentlich oben statt?

Bommes: Ohne jetzt abzugleiten: Muss die Mannschaft vielleicht unterbewusst dann das tun, was oben nicht ausagiert wird? Wenn Bobby Wood um sich schlägt, tut er vielleicht das, was die Führung am liebsten tun würde? Hängt der Fan das Anti-Kühne Spruchband im Stadion auf, das der Vorstand im tiefsten Inneren gerne selbst aufhängen würde?

Prieß: Es gibt einen psychologischen Mechanismus, der heißt projektive Identifizierung. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn Konflikte und Emotionen nicht gelöst werden können, werden sie abgespalten. Habe ich beispielsweise Angst und löse den Konflikt nicht, ist die Angst abgespalten und „ schwebt dann frei rum“. Mit dieser Angst identifiziert sich das Umfeld und erlebt plötzlich an sich die Symptome, die an anderer Stelle verdrängt werden. Man fühlt stellvertretend für den anderen. Das findet auch in Unternehmen statt und kann ganze Teams lähmen. Für eine starke untere Ebene ist es also notwendig, dass die obere Ebene genau das vorlebt, was sie von den unteren Ebenen erwartet: der Öffentlichkeit, den Medien, dem Investor und auch dem Aufsichtsrat gegenüber.

Sind nicht Hamburg und der HSV auch relativ passgenau Träger der gleichen Krankheit, etwas narzisstisch? Man hält sich selbst für ganz, ganz groß – die schönste Stadt der Welt. Und wenn man genau analysiert, stimmt das gar nicht.

Prieß: Die Lösung wird nicht in einem ständigen Auswechseln liegen. Die Frage im Club muss sein: Wie müssen wir uns verändern und nicht, was müssen wir von außen reinholen.

Der Eindruck drängt sich auf, dass der HSV in der momentanen Situation kaum zu retten ist und ein Abstieg die Chance böte, die Strukturen endlich neu aufzustellen?

Prieß: Strukturen sind wichtig, aber so lange die Strukturen des Miteinanders nicht stimmen, solange es keine Kultur des Miteinanders gibt, so lange werden Sie nicht zum Punkt kommen. Und mit Kultur des Miteinanders meine ich: Dialogfähigkeit auf Augenhöhe, Auseinandersetzungsfähigkeit und Übernahme von Verantwortung.

Bommes: Das hieße ja, die Mannschaft kann gar nicht anders, als zu verlieren, die Mannschaft ist gezwungen zu versagen.

Prieß: Sie brauchen eine geklärte Atmosphäre um auf allen Ebenen erfolgreich zu handeln. Sie können solche Phänomene durchbrechen, in dem jeder auf seiner Ebene mündig wird, Verantwortung übernimmt und für sich einsteht – und auf dieser Grundlage miteinander kooperiert.

Bommes: Und das ist doch positiv, denn dann ist ja gar nicht alles so aussichtslos. Es könnte ja dann jederzeit ein Veränderung herbeigeführt werden.